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- 24.01.2009
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Wir waren Helden, und Helden rauchten
Mein kleiner Bruder ist tot. Aus dem Familienalbum wähle ich die schönsten Fotos aus. Das, wo Anton stolz seine erste Zahnlücke zeigt, und das, wo er unter dem Rasensprenger herumspringt, das, wo er seinen ersten Schneemann baut, und das Foto, wo Papa mit ihm die Kaninchen füttert. Ich schneide Antons Kopf heraus und klebe ihn auf die gebastelten Einladungskarten. Ich will seinen Tod mit meinen Freunden feiern. Nie wieder wird er mich verpetzen! Nie wieder muss ich auf ihn aufpassen! Und wenn Mama Kuchen bäckt, darf ich ganz allein die Schüssel auslecken.
Ich fahre hoch. Mein Herz will explodieren, Schweiß läuft mir übers Gesicht. Ich taste nach der Lampe neben dem Bett und schalte sie an. Ich zwinge mich, auf meine Atmung zu achten, die Kontrolle zurückzugewinnen. Anna, meine Frau, wird vom Licht geweckt. Ich muss ihr nichts erklären. Sie kennt meinen Albtraum, der mich seit über vierzig Jahren quält. Sie weiß, sie darf mich jetzt nicht berühren, nichts sagen, sie kann für mich gerade nichts tun. Ich muss einatmen, ausatmen, wieder ein und aus, langsam, ich darf davon nicht abgelenkt werden. Anna wartet auf ein Zeichen, dass es mir wieder besser geht. Dann wird sie aufstehen und in der Küche Tee für uns kochen. Es ist 2:30 Uhr.
Die meisten Kinder aus dem Ort waren in den Sommerferien verreist. Nur ich nicht und Jukka. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Jukka je in seinem Leben einen Koffer gepackt hatte. Er war immer da.
Wir saßen gemeinsam im Baumhaus. Ständig musste ich auf sein Kinn schauen, auf die Narbe, die noch frisch war, sie lachte und leuchtete wie sein Brombeermund.
„Sie werden uns heute überfallen. Die wissen, wir sind nur zu zweit“, sagte er.
In der letzten Schulwoche hatten wir die Schlacht gegen die Jungs aus dem Nachbarort gewonnen, dabei war Jukka gestolpert und hatte sich das Kinn aufgeschlagen. Wir eroberten eine Fußballpflaume, drei Schokoriegel und zwei Hustenbonbons. Jetzt wollten sie Rache.
„Sie werden alles kaputt machen“, sagte ich, und ließ meinen Blick über den Platz wandern. „Unser Baumhaus, unsere Schatzkiste, unsere Angeln, einfach alles.“
„Blödsinn!“
„Aber wir sind doch nur zu zweit!“
„Haste Schiss, oder was?“, fragte er und grinste.
Klar hatte ich Schiss. Ich musste nur auf Jukkas zweiten Mund gucken, und mir wurde ganz flau im Magen. Sein blaues Auge machte die Sache nur schlimmer, obwohl er das seinem Vater verdankte. Jukka selbst sprach nie darüber, aber alle im Dorf wussten Bescheid. Und er weinte nie. Nicht eine Träne vergoss er, als er stürzte, keine, als all das Blut aus ihm herausfloss, und auch später bei Doktor Alesund nicht, der ihm mit Nadel und Faden ins Gesicht pikste.
„Wir brauchen nur eine gute Taktik“, sagte Jukka.
Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was eine gute Taktik daran ändern sollte, dass wir nur zu zweit waren. Aber kneifen konnte ich nicht. Das wäre Verrat gewesen und ein Verräter war ich auf keinen Fall.
Nach dem Mittagessen bestand Mama darauf, dass ich Anton mitnahm. Unterwegs erzählte ich ihm von der Schlacht, die uns bevorstand. Ich malte sie in den düstersten Farben aus, erwähnte immer wieder Jukkas Narbe, schilderte Anton die wildesten Gefahren und hoffte, er würde umkehren. Aber mein kleiner Bruder sammelte Kastanien. Kastanien, die noch in ihrer Stachelschale steckten.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte ich.
„Du hast gesagt, wir brauchen eine Taktik.“
„Ja, natürlich brauchen wir die. Die sind schließlich mehr als wir.“
„Jetzt haben wir Kastanien“, sagte er und hielt sie mir unter die Nase.
„Wir werden mit denen sicher keine Männchen basteln.“
„Hä?“ Anton blieb stehen und starrte mich an.
„Besser, du gehst jetzt zurück“, erklärte ich ihm.
„Aber das sind doch Kanonenkugeln!“
In diesem Moment wurde mir klar, dass mein kleiner Bruder keine Spur von Angst zeigte, all meine Worte in ihm nur das Gegenteil bewirkt hatten. Er hatte einen Plan.
Ich brachte Anton mit, und Jukka seinen Hund Carlo. Wir trugen einen ganzen Berg Kastanien zusammen und bewaffneten uns mit Stöcken. Wir waren bereit, und wir würden kämpfen wie Superhelden.
Sie kamen auf Rädern, vier Leute. Auch sie hatten Mannverluste durch die Ferien. Vier statt acht, mich beruhigte das komischerweise, auch wenn sie immer noch mehr waren, als wir.
Anton postierten wir im Baumhaus, Carlo hatten wir an die Treppe gebunden; niemand würde es wagen, an dem Hund vorbei zu meinem kleinen Bruder hinauf zu klettern. Jukka und ich versteckten uns im Gebüsch. Die vier ließen ihre Räder fallen und schauten sich um, sahen niemanden, außer Carlo, der kläffte und an seiner Leine zerrte. Anton eröffnete. Feuerte die ersten Kastanien wie Handgranaten auf sie ab. Die Überraschung saß. Dann stürmte Jukka einmal quer durch sie hindurch, was sie ablenkte, und mir die Gelegenheit gab, unbemerkt an ihre Räder zu gelangen. Ich zog eines an mich, wir hatten eine Geisel! Jukka sprang zu mir, umfasste die Kette, bereit sie mit einem Ruck abzureißen, meine Hand lag am Ventil des Hinterrades.
„Wenn ihr dem Rad auch nur eine Speiche krümmt, seid ihr tot!“
„Wenn ihr euch nicht sofort verpisst, ist hier mehr als nur eine Speiche futsch“, sagte Jukka. Er meinte, was er sagte, seine Stimme ließ daran keinen Zweifel.
Ihr Anführer trat von einem Bein auf das andere. Es war sein Rad. Sein nagelneues, kratzerfreies Rennrad. Schließlich spuckte er Jukka vor die Füße.
„Das wirst du büßen!“ Er gab seinen Männern das Zeichen zum Rückzug, griff nach dem Rad, aber Jukka und ich hielten es fest.
„Erst die anderen“, befahl Jukka, und spuckte ebenfalls vor dem Kerl aus. Die beiden guckten sich an, genau in die Augen, keiner zwinkerte, und ich hörte förmlich, wie ihre Blicke aufeinanderkrachten. Stahl auf Stahl.
Die drei anderen verzogen sich. Als sie sich weit genug entfernt hatten, ließ Jukka das Rad los, und schlenderte wie ein Sonntagsspazierer auf Carlo zu. Ich blieb wie angewurzelt stehen, bis der Typ mir einen Schubs gab, nach seinem Rad griff und abhaute.
„Ey! Mach das nicht noch mal“, rief ich ihm nach, als er schon kräftig in die Pedale trat.
Mit geschwellter Brust saßen wir unter unserem Baumhaus und teilten die Schokowaffeln, die Mama mir mitgegeben hatte. Anschließend holte Jukka eine Packung Zigaretten heraus. Es waren fünf Stück drin.
„Hab ich bei uns im Schuppen gefunden“, sagte er.
„Dein Vater wird dich dafür verprügeln“, sagte ich.
Jukka zuckte mit den Schultern. „Erst mal muss er sie überhaupt vermissen. Die lagen hinter der Werkbank, wer weiß, wie lange schon.“
Ich schluckte. Ich wusste, es schmeckte scheußlich, alle sagten das. Manch einem wurde sogar übel, so übel, dass er sich übergeben musste. Ich wollte nicht vor Anton kotzen, noch viel weniger vor Jukka. Aber ein Feigling wollte ich auch nicht sein. Nicht nach unserem Sieg. Wir waren Helden, und Helden rauchten. Also nahm ich eine, steckte sie mir in den Mund und ließ mir von Jukka Feuer geben. Ich wusste nur, dass man ziehen musste. Also zog ich, atmete den Rauch ein und bekam einen Hustenanfall. Jukka lachte sich halb schlapp. Anton sprang auf und klopfte mir auf den Rücken. Als sich der Husten gelegt hatte, zog ich vorsichtiger, stieß den Rauch sofort wieder aus, ich paffte. Davon musste ich nicht husten, auch nicht kotzen, ich fühlte mich unendlich erwachsen und mutig und cool, bis ich Jukkas fieses Grinsen bemerkte.
„Lasst uns die Nacht im Lager schlafen“, schlug er vor.
Es war nicht ungewöhnlich, dass wir Kinder in den Sommernächten dort übernachteten. Unsere Großväter hatten es getan, unsere Väter und wir eben auch. Wer Angst bekam, konnte jederzeit nach Hause gehen. Ich ging bestimmt zehn Mal, bevor ich meine erste komplette Nacht im Lager verbrachte. Feuer durften wir nicht machen, nicht ohne einen Erwachsenen. Wir hielten uns dran. Wenn gekokelt wird, ist das Baumhaus weg. Diese Regel war so alt wie die Hütte selbst.
Vater schob die Schubkarre mit Schlafsäcken, Kissen, Tee, belegten Broten, Taschenlampen und Antons Mister Bär. Gemeinsam richteten wir das Lager her, sammelten Holz, später kamen Jukkas Vater und meine Mama dazu. Wir grillten Würste, suchten Sternbilder und erfanden Geschichten dazu. Jukkas Mutter war die beste Geschichtenerfinderin, aber sie starb vor drei Jahren an Lungenentzündung. Seither erzählte Jukka ihre Geschichten.
Unsere Väter löschten das Feuer, und wir bezogen unser Nachtquartier. Es war Antons erste Nacht hier draußen. Ich wartete darauf, dass ihn die Angst überfiel und er nach Hause wollte. Auch Jukka wartete. Wir würden ihn bringen, das hatten wir vereinbart. Aber Anton lag mit Mister Bär in seinem Schlafsack, und schlief wie ein Stein.
„Der hat echt Mumm in den Knochen“, sagte Jukka. „Schon komisch, dass er dein Bruder ist und nicht meiner.“
Ich schluckte; sagte Jukka, dass ich jetzt schlafen werde, und presste meinen Kopf ins Kissen. Schlafen konnte ich aber nicht. Ich war eine Memme, und Jukka wusste es. Auf keinen Fall durfte ich losheulen. Irgendwann hörte ich auch Jukka gleichmäßig atmen, er hatte aufgehört, sich zu wälzen, lag still neben mir und schlief. Es knackte, und sofort schaltete ich die Taschenlampe an. Aber da war nichts. Der Lichtstrahl streifte Jukkas Zigarettenschachtel. Sie lag neben seiner Jacke. Ich griff danach, es waren noch immer drei Zigaretten drin. In Jukkas Hose fand ich das Feuerzeug. Ich nahm eine Zigarette heraus, steckte sie mir in den Mund und zündete sie an. Erst paffte ich wie am Nachmittag, doch dann zwang ich mich, den Rauch zu inhalieren, ihn in meinen Hals, meine Lungen zu lassen. Wenn mich der Hustenreiz quälte, hielt ich mir das Kissen vors Gesicht, den Geschmack redete ich mir schön. Ich rauchte. Ich rauchte richtig auf Lunge. In meinem Bauch grummelte es. Richtig heftig wurde das. Ich musste hier raus, schnell, bevor alles in die Hose ging. Hastig drückte ich die Zigarette aus, schlüpfte in meine Schuhe, kletterte die Leiter hinunter und rannte, so weit es eben noch ging, in den Wald. Schnell zog ich die Hose runter, hockte mich hin und fühlte, wie der Druck nachließ. Anschließend versuchte ich mich mit Blättern zu säubern, aber das machte alles nur schlimmer, also zog ich die Unterhose aus, und putze mich damit. Und dann sah ich den Feuerschein zwischen den Bäumen, den Qualm, der darüber aufstieg. Das Baumhaus, schoss es mir durch den Kopf. Anton! Jukka! Ich musste ihnen helfen, das Feuer löschen. Mit offener Hose lief ich Richtung See, schöpfte Wasser in meine hohlen Hände. Nur ein paar Schritte weiter war das Wasser durch meine Finger geronnen, also kehrte ich um, neues zu holen.
Doktor Alesund hörte mich ab, er sagte, ich hätte großes Glück gehabt, dass sie mich so schnell gefunden hatten, ich hätte sterben können. Ich selbst erinnerte mich nicht. Im See lag ich, lang ausgestreckt im flachen Wasser. Geschrien wie der Teufel hätte ich, als sie mich heraushoben, nach Hause trugen und in Decken wickelten.
„Hast du heute schon etwas gegessen?“, fragte der Doktor mich.
Ich schüttelte den Kopf. Er packte das Stethoskop zurück in seine Arzttasche, ging in die Küche und kam mit zwei Käsebroten und einem Glas Apfelsaft zurück. „Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn was ist. Egal was. Tust du das?“
Ich nickte.
„Gut“, sagte er. „Ich geh jetzt. Morgen komme ich wieder.“
„Wo ist Mama?“, fragte ich ihn.
„Sie schläft. Bitte wecke sie nicht auf.“
Aus dem Fenster sah ich, wie er mit Papa redete, kurz, dann fuhr er mit dem Auto davon. Papa fütterte die Kaninchen heute schon zum dritten Mal, dabei war es erst Mittag. Wenn er nicht die Kaninchen fütterte, hackte er Holz. Ich stand auf, zog mich an, nahm den Teller mit den zwei Käsebroten und trug sie zum Esstisch. Ich legte eines der Brote auf einen zweiten Teller, ging hinaus, und sagte Papa Bescheid, wir könnten Mittag essen. Er reagierte nicht.
„Mittag ist fertig“, sagte ich etwas lauter.
Er hörte mich nicht.
„Es gibt Essen!“, brüllte ich.
Jetzt hatte er mich gehört. Er ließ das Beil sinken, schaute mich an, schloss die Augen, seufzte, und wendete sich wieder dem Holz zu.
Ich lief ins Haus, setzte mich auf meinen Platz und wartete eine Weile. Papa kam nicht, also nahm ich unsere Teller und trug sie hinaus. Ich hielt ihm sein Käsebrot hin, aber er schüttelte nur den Kopf. Da aß ich sein Brot auf, während ich ihm bei der Arbeit zuschaute. Papa sprach kein einziges Wort. Stellte die Holzstücken auf den Hackklotz, ließ die Axt niedersausen,
bis in den Abend hinein. Erst als die Dämmerung einsetzte, legte er das Beil ab und ging in den Stall zu den Kaninchen. Ich öffnete die Verschläge für ihn, er legte Heu und Möhren hinein, ich verschloss die Türen wieder.
Anschließend stellte ich Brot, Butter und Aufschnitt auf unseren Esstisch, kochte eine Kanne Tee, und bemerkte erst, als ich die Teller aufstellte, dass ich vier in den Händen hielt. Antons Seeräuberteller obenauf. Zwei Mal lief ich über den Flur, klopfte an Mamas Schlafzimmertür und an die Badtür, hinter der schon lange kein Wasser mehr lief, kehrte zurück und setzte mich auf meinen Platz. Schließlich räumte ich alles zurück in den Kühlschrank und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Mama schlief, Papa lag neben ihr und starrte die Decke an. Ich legte mich zwischen die beiden und fragte mich, ob es Anton war, oder Jukka? Wer hatte das Feuer gezündet? Wäre ich bei ihnen geblieben, dann wären Jukka und Anton jetzt nicht tot. Bestimmt nicht.
In der Nacht wachte ich von einem seltsamen Geräusch auf. Es klang wie das Heulen eines Wolfes und auch wieder nicht. Ich lauschte. Kurz unterbrach es, dann setzte es wieder ein. Auf den Höfen gingen nach und nach die Lichter an. Jemand schrie: „Ruhe, verdammt noch mal!“ Und mit einmal verstand ich es, kein Wolf, kein Hund, es war Jukkas Vater, der seinen Namen heulte.
Am nächsten Tag klingelte Frau Mäkinen, die Schwester vom Doktor, sie wollte Mama besuchen. Mama schlief, also schickte ich sie zu Papa und Papa schickte Frau Mäkinen wieder weg. Sie ging aber nicht, sondern putzte im Haus, wusch Wäsche, kochte Nudeln und Pilzsoße, wir aßen alles allein auf.
„Wann hat Mama genug geschlafen?“, fragte ich sie.
„Das weiß ich nicht.“
„Warum kann Papa nicht mehr sprechen?“
„Ach, Mika.“ Sie legte eine Hand auf meine. „Das schlimmste, was Eltern passieren kann, ist ein Kind zu verlieren. Gib ihnen Zeit, mit dem Schmerz zurechtzukommen.“
Ich setzte mich in mein Zimmer und malte ein Bild von Anton, mit Kastanien und seinem Laserstock, über den Schultern einen roten Umhang und auf der Brust das Supermanzeichen. Ich besuchte Mama, endlich war sie wach. Ich kroch zu ihr ins Bett, erzählte von Frau Mäkinen, die alles sauber gemacht hatte.
„Schön“, sagte sie.
Ich redete weiter, erzählte, dass Papa den Kaninchen viel zu viel Futter gab, er den ganzen Tag Holz hackte und Doktor Alesund heute gesagt hatte, ich wäre wieder ganz gesund.
Da begann sie zu weinen, ich holte für sie mein Bild von Anton.
„Gefällt es dir?“
Mama warf einen Blick drauf. Nur einen einzigen, flüchtigen Blick, bevor sie das Blatt fallen ließ und zu zittern begann. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf das Bett ein. Sie schrie. Sie strampelte. Sie fegte die Lampe vom Nachttisch. Papa kam, schickte mich aus dem Zimmer und verschloss die Tür von innen. Ich ging hinaus in den Hof, holte Antons Fahrrad aus dem Schuppen, wusch es, polierte jede einzelne Speiche und schraubte ihm meine Posthornhupe an seinen Lenker, um die er mich immer beneidet hatte.
Nach einer Woche hackte Papa kein Holz mehr. Auch vergaß er, die Kaninchen zu füttern. Er fuhr morgens zum Fluss und stellte abends einen Eimer mit Fischen in die Küche, die Frau Mäkinen säuberte und in die Tiefkühltruhe steckte. Nachts heulte Jukkas Vater und alle im Dorf waren müde, niemand konnte mehr richtig schlafen.
Heute kam nicht Frau Mäkinen, sondern Frau Aakko.
„Hier stinkt es überall nach Fisch! Wieso?“, fragte sie.
Ich zeigte ihr Papas Angeleimer in der Küche und den Gefrierschrank, der bis auf den letzten Millimeter vollgestopft war.
„Okay“, sagte Frau Aakko und rümpfte die Nase. „Ich glaube, jetzt sind die Katzen dran.“ Sie nahm Papas Eimer, schleppte ihn über den ganzen Hof und warf die Fische weit über den Zaun. Anschließend öffnete sie alle Fenster im Haus.
Ich fuhr mit dem Rad zu Jukkas Haus. Alle Fensterläden waren geschlossen. Carlo winselte an seiner Kette. Sein Fell war stumpf und zottelig. Leise öffnete ich das Gartentor und schlich mich zu ihm, sah die Wunden unter dem Halsband, fühlte den Schmerz, der ihn quälte. Ich öffnete es, und Carlo schoss los, über den Hof, zum Tor hinaus in Richtung Wald. Ich saß an seiner Stelle vor der Hütte, die Kette in den Händen, mein Blick ihm folgend, bis er als kleiner Punkt zwischen den Bäumen verschwand, und mir der Gedanke kam, Jukkas Vater würde gleich aus dem Haus kommen. Schnell fuhr ich zurück nach Hause.
Ich aß Kartoffelbrei mit Würstchen auf unserer Terrasse, während Frau Aakko rauchte.
„Ach, jetzt habe ich den Saft vergessen.“ Sie drückte die Zigarette aus und stand auf. Ich starrte auf den Aschenbecher. Die Zigarette qualmte, hörte nicht auf damit. Ich schrie. Frau Aakko kam zurück, fragte was los sei, versuchte, mich zu beruhigen, aber ich stieß sie von mir. Der Rauch machte mich rasend. Ich nahm den Aschenbecher und warf ihn gegen die Mauer vom Schuppen. Ich warf meinen Teller, die Saftflasche, alles was ich in die Hände bekam.
Frau Aakko versuchte, mich aufzuhalten. Dinge, nach denen ich greifen wollte, zog sie fort. „Hör auf damit! Jetzt höre doch damit auf.“
„Sie hat noch gebrannt!“, rief ich.
Mama kam. Sie außerhalb des Hauses zu sehen, erschreckte mich. Kurz hielt ich inne. Sie schloss mich in ihre Arme und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Ich stemmte mich von ihr, schlug auf sie ein, ich wollte, dass sie mich losließ. Je mehr ich mich wehrte, je fester hielt sie mich. Mit einer Hand strich sie mir übers Haar, flüsterte immer wieder meinen Namen, bis sich in mir Tränen lösten, in Mamas Morgenmantel hinein, durch ihn hindurch, und aus ihren Augen zurück auf mein Haar fielen.
In der Nacht wartete ich auf das Heulen von Jukkas Vater, obwohl ich wusste, es würde heute still bleiben. Doktor Alesund hatte ihn am Abend aus seinem Haus geholt, ihn in sein Auto gesetzt und in eine Klinik gefahren. Nachdem Mama ins Schlafzimmer zurückgekehrt war und bevor Papa mit seinen Fischen kam. Es fehlte mir. Ich versuchte, zu heulen wie Jukkas Vater, aber es klang jämmerlich. Laut las ich ein Comic, damit Anton zuhören konnte. Ich versprach Jukka, morgen nach Carlo zu suchen. In der Nacht träumte ich.
Aus dem Familienalbum wähle ich die schönsten Fotos aus. Ich schneide Antons Kopf heraus und klebe ihn auf die Einladungskarten.