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Wirst du dich kastrieren lassen?

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03.01.2005
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Wirst du dich kastrieren lassen?

Karlas Lieblingsgedicht handelt von einem Balkon, der kastriert wird. Mit Gänsehaut liest sie, wie ihm die Pflanzen genommen werden, dann der Tisch, die Stühle, das Kinderspielzeug, selbst das Thermometer, denn es ist ein kalter Sommer. Die Gänsehaut ist doppelt, metaphorisch und konkret, denn es ist ein kalter Sommer, nicht nur im Gedicht. Der modische Sommer von heute trägt dieses Jahr Regenschleier, durch so einen schaut Karla hinaus auf den eigenen Balkon, also jenen Teil davon, der den Namen wirklich verdient, weil er tatsächlich vollständig aus der Wand herausragt und nicht eigentlich das Dach der Garage ist und fragt sich, kann ihm das auch passieren? Wirst du dich kastrieren lassen, Lieber?

Wir haben ja gar keine Balkonpflanzen, denkt Karla, nie gehabt. Nichts Grünes stört die Erhabenheit dieser Wüste aus Waschbeton. Wüst und leer, das sind die besseren Attribute für den Balkon, findet Karla. Schmuck? Pah. Da ist nicht viel, das man wegräumen könnte: ein verrotteter Biertisch plus Bierbank, leere Bierflaschen, ein umgestoßener Aschenbecher, eine hinfällige Wäschespinne, eine eingetretene Tür und ein vergessener Vorschlaghammer. Das klingt nicht nach leer, aber der Balkon ist groß, das Gerümpel verliert sich in der Weite der Waschbetonwüste. So bleibt genug Platz zum Auf- und Abwandern. Das ist kein Sitz-Lieg-und-Sonn-, sondern ein Wanderbalkon. Karla ist dort früher oft gewandert, tief in Gedanken oder mit einem Heft in der Hand und hat sich den Lernstoff vorgesagt, vorgesungen, vorgetragen, als wäre es ein Liebesgedicht, eine Kriegserklärung, eine Grabrede, eine Radiowerbung. Die Nachbarn haben sich gewundert und Karla bekam gute Noten. Sie lernte leicht, weil sie ihre eigene Stimme so gern hörte.

Früher stand da auch ein Tischtennistisch, den hatte Winz sich gewünscht und bekommen, obwohl Karla rechtzeitig angekündigt hatte, dass sie jedenfalls nicht mit ihm spielen würde, weil sie das Spiel weder mochte noch beherrschte. Er wurde selten benutzt -Winzens Freunde spielten auch lieber Play-Station - und in die Kleinanzeigen gesetzt. Und wenn der Ball übers Gelände ging, musste man durchs Haus die Treppe hinunter, das war sowieso mühsam, denkt Karla, damals hatten wir ja die Wendeltreppe noch nicht. Die Wendeltreppe führt hinunter in den Garten und wurde am häufigsten von Winzens Freunden benutzt, sie klopften an sein Fenster und wollten nur schnell eine rauchen, wenn Winz über den Büchern saß. Denn sie waren lernfähig, sie wussten, die Türklingel brachte es nicht.

Ist Winz da?
Klar, aber er muss lernen, er hat nicht viel Zeit. Winz! Wiiiiiinz! Und wirklich nur kurz, du musst heut noch was tun!

Winz fühlte sich bei ihren nächtlichen Besuchen wie Rapunzel im Turm, also beschissen, weil erstens unmännlich und zweitens gefangen in einer seinem Alter unangemessenen Situation. Aber es hatte sich bewährt und wurde Tradition. Für Karla kam nie wer die Wendeltruppe hoch, das war ihr nicht sonderlich geheimer Kummer und der Grund, warum sie Winz gar so oft damit aufzog.

Wir hatten unsere guten Zeiten, denkt Karla, weißt du noch? Wie wir da lagen und in den Himmel schauten, Mam und Winz und ich und Mam ihre Pläne schmiedete und begehrliche Blicke auf die Pferdekoppel nebenan warf; man könnte das Grundstück kaufen und noch ein Reihenhaus anhängen, für ein Kind samt Familie, und die Balkone überdachen, da ginge sich eine hübsche Wohnung aus, vielleicht für das zweite Kind, falls es allein bleibt. (Ob sie damals schon geglaubt hat, dass ich allein bleibe, denkt Karla, jetzt ist sie ja überzeugt.)

Warte nur, wir werden weg sein, so schnell kannst du gar nicht schauen.

Eine richtige Burg wäre das geworden; Mama geht unter die Burgherren, feixt Winz, und wer gräbt dir den Burggraben? Wer bewacht dir den Burggraben? Krokodile, Piranhas? Und praktisch wäre das!, denn bis dahin ist Karli ein Quader und wir können dann den Karli-Quader einfach über den Balkon in die neue Wohnung schieben, sagte Winz, was eigentlich gemein von ihm war, denn Karla kam da gerade in das Alter, in dem Mädchen anfangen, sich schnell fett und formlos zu fühlen. (Das war damals allerdings später als heute, denkt Karla.) Ihr Lachen war trotzdem echt, denn diese Bilder von der Mama-Burg und dem Karli-Quader, die hatten einfach etwas unwiderstehlich Komisches.

Wart nur, wir werden weg sein, so schnell kannst du gar nicht schauen.
Geht nur, geht nur, ich kann’s gar nicht erwarten
.

Und wir haben so gelacht, denkt Karla, alle drei, das mit dem Sich-Zerkugeln ist nämlich gar keine Phrase, wir haben uns wirklich gewunden, gewälzt auf dem Waschbeton und gelacht und uns die Bäuche gehalten.

Später hat Karla die Buchungssätze und Vokabeln nicht mehr aufgesagt, sondern abgeprüft. Sie brauchte den Balkon nicht mehr, sie hatte den Park, das Café, die Bibliothek in einer anderen Stadt und kam nur heim, um Winz abzuprüfen und sich anzuhören, wie wenig er das alles aushielt und ihm zuzuschauen, wie er auf dem Balkon auf- und abging, mit hängenden Schultern und den Blick auf den Waschbeton gerichtet.

Ich möchte einfach nur versagen dürfen. Im Herbst noch mal antreten, im Frühling noch mal. Einfach in Frieden versagen.

Den Blick auf den Waschbeton gerichtet, dumpf brütend und düstere Szenarien entwerfend. Und aus irgendeinem Grund dauernd den Vorschlaghammer in der Hand, von dem keiner einer Ahnung hatte, warum der jetzt auf dem Balkon lag und den keiner endlich zurück in den Geräteschuppen trug. Er schwang ihn hin und her, nicht wie Thor über den Kopf, sondern wie ein Gorilla seine Arme und Karla sah ihm an, dass er gerne die kaputte Tür damit noch kaputter gemacht hätte. Die kaputte Tür lehnte an der Wand, es war seine, sie war in einem Streit eingetreten worden. Wüster Streit. Eine laute Familie. Beim Lachen und beim Streiten. Karla fühlte die Wut, die aufgestaute, seine Verzweiflung und die eigene und vor allem den Drang, ihm den Hammer weg zu nehmen. Das war seit jeher so, denkt Karla. Der Karla-Grapsch-Effekt, wie Winz es nennt. Schon nach allem, das ihm in die fetten kleinen Baby-Fingerchen geraten war, hatte auch sie ihre fetten kleinen Baby-Ärmchen gestreckt. Da hätte sie noch eine Ausrede gehabt, weil Winz in gewissen Phasen seines Lebens 90% aller Dinge, die er in die Hand nahm, dazu verwendete, sie nach Karla zu schmeißen, während Karla nur die Bücher nach ihm schmiss, an deren Lektüre er sie hinderte. Aber das war es nicht. Winz spielte mit einem neuen Ball und irgendein Schalter in Klaras Hirn legte sich um und da war nur noch Muss-Haben. Und jetzt sprachen sie über die Matura und Von-Zu-Hause-Ausziehen und Karla griff nach dem Hammer. Er war schwer, er lag gut in der Hand. Karla spürte die kinetische Energie, die in dem Körper gespeichert war und wog bedächtig die gespeicherte Kraft. Gibt wieder her, maulte Winz, als ob er es nicht gewohnt wäre. Wann immer sie sich gegenseitig die Sachen vorrechneten (Die Barby! Das Matchbox-Auto! Meine Füllfeder! Das Lego-Fort!), die sie einander kaputt gemacht hatten, kam Winz früher oder später mit seinem „kaputten Ego“.


Du bist für ihn verantwortlich.

Karla schwang den Hammer, schwang ihre durch den Hammer verlängerten Gorilla-Pratzen hin und her und tatsächlich hätte sie es fast geschafft, sich dabei selbst zu erschlagen.
Einmal mehr bebte der Waschbeton unter schallendem Gelächter.

Liegt der Hammer eigentlich immer noch draußen?, überlegt Karla. Sie wird es in diesem Text nicht mehr erfahren, sie hat bestimmt keine Lust bei diesem Regen draußen nachzuschauen. Die kaputte Tür ist schon entsorgt worden. Der verrottete Biertisch kommt wohl auch bald weg. Außer Winz will den keiner und der zieht im Herbst zu einem Freund.

Und trotzdem, denkt Karla, wirst du nicht kastriert, lieber Balkon. So lange die Waschbetonplatten die Sonne speichern, dass man barfuß darauf laufen kann selbst in Monaten mit R, so lange wird das nicht geschehen.

 
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Teile dieser Geschichte haben mir sehr gut gefallen. Nachdenklich und wehmütig, damit kriegt man mich immer wieder.

Was mich grundsätzlich immer für einen Text einnimmt, wenn er gut geschrieben ist. Und das ist er, trotz einiger Stellen, die ich zu kritisieren habe.

Gestört hat mich manch unklarer Bezug und fehlende Erklärung. Beim zweiten Lesen kam ich dann auch auf die Idee, es könnte sich um den Gemeinschaftsbalkon eines Mietshauses handeln, Winz das Kind einer Nachbarfamilie, Karla mit ihrer alleinerziehenden Mutter? Ich bin nicht sicher. Ich bin sicher, daß es das Lesen vereinfachen könnte, wenn der Text diese Details preisgibt.

Eine Textkram-Stilanmerkung vorweg: "und" ist auch mein Lieblingswort, eignet sich hervorragend für nachdenkliche Gedanken, ich liebe es als Stilmittel. Dennoch habe ich den Eindruck, daß Du die Verwendung ein wenig übertreibst.

Und nun zu den Kleinigkeiten:

  • hinfällige Wäschespinne - Wow, mußte ich nachschlagen, die Verwendung ist korrekt. Ich kannte "hinfällig" nur in der Bedeutung von "hat sich erledigt".
  • sondern ein Wanderbalkon. Karla hat das früher oft getan - Der Bezug von "das" erklärt sich zwar, ist aber nicht wirklich korrekt.
  • Tischtennistisch - Weshalb nicht "Tischtennisplatte"? Ist die gängige Bezeichnung (zumindest da, wo ich herkomme).
  • weil sie das Spiel nicht mochte und nicht beherrschte - Unnötige Wiederholung, vielleicht: "weder mochte, noch beherrschte".
  • Wie wir da lagen und in den Himmel schauten, Mam und Winz und ich und Mam ihre Pläne schmiedete und begehrliche Blicke auf die Pferdekoppel nebenan warf, man könnte das Grundstück kaufen und noch ein Reihenhaus anhängen, für ein Kind samt Familie, und die Balkone überdachen, da ginge sich eine hübsche Wohnung aus, vielleicht für das zweite Kind, falls es allein bleibt. - Ich liebe lange Sätze, aber der hier ist zu lang. Definitiv. Außerdem: das Komma zwischen vor "und Mam ihre Pläne" ist zwar nach Rechtschreibreform nicht mehr obligatorisch, vereinfacht das Lesen aber ungemein.
  • den Karli-Quader einfach über den Balkon in die neue Wohnung schieben und das war eigentlich gemein, denn Karla kam da gerade in das Alter - Bitte, bitte, setz' hier einen Punkt statt des "und", Du verbindest wörtliche Rede mit Gedanken, das verwirrt vollkommen.
  • kam nur heim - So wird das bei mir zu Hause auch formuliert, nicht aber in der Hochsprache.
  • den Blick auf den Waschbeton gerichtet [...] Den Blick auf den Waschbeton gerichtet [...] mit seinem "kaputten Ego". - Direkte Wiederholung, wenn auch durch diesen Kurzabsatz abgetrennt. Der lange Absatz, der auf "Ego" endet, könnte es durchaus ab, wenn man ihn in mehrere aufspaltete.
  • Winz spielte mit dem neuen Ball - Mit dem neuen Ball? Eher mit einem neuen Ball. Andernfalls frage ich mich als Leser, ob ich den irgendwo verpaßt habe.
  • Karla spürte die kinetische Energie, die in dem Körper gespeichert ist - Wenn Du am Ende "war" schreibst, heißt das noch lange nicht, daß es nicht mehr so verhält.
  • Sie wird es in diesem Text nicht mehr erfahren - Soll das heißen, daß sie mit dem Text, den sie gerade liest, nicht mehr auf den Balkon wandern wird, um es zu überprüfen?

 

Hallo mög!

Wunderschön geschrieben finde ich diese Geschichte, diese Erinnerungen, die der alte Waschbetonbalkon in sich vereint. Auch mir war der Bezug teilweise nicht ganz klar, allerdings hat mich die Sprache so gefangen genommen, dass mir das während des Lesens nebensächlich erschien. Aber hier wäre sicher noch ein Punkt, woran Du arbeiten könntest. Die Charakterisierung ist Dir sehr gut gelungen, nebenbei, durch die Geschichte selbst. Ohne, dass Du es nötig gehabt hättest, Alter, Ausehen etc gesondert zu schreiben.

schöne Grüße
Anne

 

Danke für das Ausbessern der sprachlichen Schlampigkeiten. Teilweise bin ich aber noch nicht ganz überzeugt.

Ich kenne zB wirklich nur die Bezeichnung "Tischtennistisch". Regionaler Unterschied.

Der Monstersatz: absichtlich wirr und ungegliedert, weil er ein bisschen das Herumspintisieren der Mutter nachmachen soll. Wirklich teilen möchte ihn daher nicht. Kompromiss: Strichpunkt?

Das mit der wörtlichen Rede vermischt mit Erzählkommentar - dass das nicht geht, war mir beim Schreiben schon irgendwie klar, keine Ahnung, warum ich mich da unbedingt drüber schummeln wollte. Ich schätze, ich möchte diese Information mit dem "gemein" einfach beiläufig drangeklebt haben, in einem Nebensatz am besten, nicht als eigenen Hauptsatz; das verliehe dem Ganzen irgendwie einen anderen Ton. Hab's jetzt umformuliert, wird dadurch zwar kein Stück knapper und präziser, aber zumindest vom Bezug etwas klarer?

Bist du sicher das "heim" nur umgangssprachlich geht? Ich meine, Tomate ist ja zB auch nicht hochsprachlicher als Paradeiser. Außerdem geht doch heim ganz sicher in heim kehren, warum dann nicht in heim kommen?

Blick auf Waschbeton doppelt - eigentlich absichtlich, um den durch die Unterbrechnung verlorenen Faden wieder auf zu nehmen.

Der neue Ball statt ein neuer Ball: Es ist eigentlich eben nicht irgendein neuer Ball, der neue Ball steht für alles Zeug, das Winz jemals vor Karla in die Hände bekam, pars pro toto quasi. Ich hab's trotzdem ausgebessert, ist ja nicht so wichtig.

dieser Text = dieser Text, der davon handelt, das Karla vor ihrem Fenster sitzt und ein Gedicht liest, während es regnet.

Karla und Winz sind Geschwister - kam gar nicht auf die Idee, dass das nicht klar sein könnte. Sie sind offensichtlich miteinander aufgewachsen - gut, dass könnte bei Nachbarskindern auch sein; - aber die Szene "Mam und Winz und ich" -da plant die Mutter ja für "die Kinder", also offensichtlich für Winz mit, was sie nicht tun würde, wenn Winz nicht ihr Kind wäre. Ob die Mutter allein stehend oder verheiratet ist, ist eigentlich für den Text nicht wichtig.

Danke fürs Feedback!
Feile auch gerne weiter, der Text ist noch ziemlich roh und gehört sicher überarbeitet.

 

Hi mög,

ein überraschender Text (kann ich jetzt nach dem dritten Mal lesen schreiben), den ich sehr gerne gelesen habe. Deine Schreibe macht Spaß, du schaffst Atmosphäre und auch der Blickwinkel, den Balkon ins Zentrum zu stellen, fand ich prima. Beim ersten Mal lesen war ich noch etwas distanzierter :D.

Anfangs hatte ich etwas Probleme mit der Kastration, denn im nächsten Frühjahr kann ein Balkon wieder bestückt werden und erfüllt seine Funktion - aber bei Lebewesen ist das wohl etwas anders ;)

Tischtennistisch kenne ich so auch *dir beipflicht*.

Ich denke, ich werde ihn nochmal durchlesen, in ein paar Tagen, mal sehen, wie er dann wirkt.


Lieber Gruß
bernadette

 

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