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Wohnst du noch oder lebst du schon?
„Achtung, Achtung- wir schliessen unser Möbelhaus in fünf Minuten. Komm bitte zur Kasse, morgen ab neun Uhr früh hast du wieder Gelegenheit, unsere fantastischen Weihnachtsangebote kennenzulernen“
Er zieht die rote Tuchent über ihren Kopf und kommt mit seinem Gesicht so nah an ihres, dass sie den Fünf-Tages-Bart weich auf ihrer Wange spürt. „Komm zu mir“, sagt er. Als sie sich zu ihm hindreht, quietscht der Lattenrost des Hochbetts, in dem sie sich versteckt haben. „Pscht“, ihre Lippen berühren sein Ohr, ihr Herz klopft.
Langsam wird es tatsächlich ruhiger. Die letzten Hochschwangeren keuchen aus der Gitterbettabteilung, um ihre vor Müdigkeit überdrehten Kleinkinder von der Rutsche zu zerren - in den blauen Säcken klirren Teekessel und Bilderrahmen. Der Koch im Restaurant räumt die Fleischbällchen für morgen in den Kühlschrank zurück. Die Putzfrau verlässt die Toiletten und verschwindet.
Nach zehn Minuten geht die Hauptbeleuchtung aus, die Gänge zwischen den Ausstellungskojen sind nun dunkel. Zwei Männer vom Sicherheitsdienst gehen ihre Schlussrunde, dann wird es still.
Vorsichtig lugen sie aus dem Hochbett im hinteren Eck der „Perfekt eingerichtet mit 3.000 Euro“-Studentenbude und klettern über die Leiter hinunter.
Mit den Lampen in den perfekt eingerichteten Räumen sieht das Möbelhaus nun wie eine gigantische, superschicke WG aus. Schnuckelige Schlafzimmer reihen sich an rustikal geschmackvolle Wohnzimmer, alle paar Meter gibt es einen praktisch eingerichteten Abstellraum und futuristische, aber doch gemütliche Küchen laden zu spontanen Festen ein, zu denen die Nachbarn mal eben mit einer Flasche Wein vorbeikommen, wenn man selber natürlich auch immer ausreichend saubere Rotweingläser, frische Weintrauben und etwas Käse im Kühlschrank hat.
Schmutzwäsche und achtlos herumliegendes Spielzeug ist nirgends zu sehen. In den Regalen der Kinderzimmer stapelt sich pädagogisch wertvolles Holzspielzeug neben geselligen Brettspielvarianten mit schwedischen Anleitungen. Playstation ist keine zu auszumachen, Fernseher gibt es nur in der Phonomöbelabteilung, auch kein herumstehender Hometrainer erinnert an Unangenehmes. In den luftig patenten Badezimmern kann man unter den originellen Holzleisten mit den fischgeruchsfreien Muschelmitbringseln vom Urlaubsstrand im schlankmachenden Boutiquenspiegel den Sitz von Makeup und Bauchpiercing kontrollieren.
Sogar Wasser fliesst aus der Armatur, bemerkt sie, als sie den kleinen Plastikbehälter verschlossen hat, in dem sie ihr Kontaktlinsen über Nacht aufbewahrt. Sie streift ihre Unterwäsche ab und legt sie zu Jeans und Tshirt auf die Kommode. Als sie in die Schlafzimmerkoje kommt, löscht er das Licht auf dem Nachtkästchen. Sie schlüpft unter die Tuchent zu ihm und geniesst die Wärme seiner Haut auf ihrem Rücken, als sie sich zum Löffelchen drehen. „Du wirst sehen, du wirst das Bett lieben ... und morgen kaufen wir es dann.“