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Wolf
WOLF
Wolf unterrichtete an einem Gymnasium in Bayreuth. Es gibt ein Photo, das ihn inmitten all seiner Kollegen zeigt. Einige lächelten, einige nicht. Sie alle hatten ihre eigene Art, sich zu kleiden, und doch sah man sofort, dass sie Lehrer waren. Wolf unterrichtete an dieser ehemals reinen Mädchenschule seit inzwischen mehr als zwanzig Jahren, also seitdem die ersten 68er den Gang durch die Institutionen antraten.
Ein anderes Photo zeigt ihn zwischen den Schülerinnen eines seiner Leistungskurse. Manche von ihnen waren bildhübsch. Wolf stand zusammen mit der Klasse in einer idyllischen Sommerlandschaft aus Wald und Fels, so wie man sie oft in der Fränkischen Schweiz zu sehen bekommt. Wolfs Gesichtsausdruck war verlegen, vielleicht sogar gehemmt, die Mädchen lächelten, wie Mädchen in diesem Alter eben lächelten.
Wolf gab die Fächer Englisch und Russisch. Sprachen zogen meist Muttersöhnchen an, doch Wolf war kein Softie, und das vermittelte er auch in seinem Unterricht. Er sprach mit einem tiefen, durchdringenden Bass, sein Unterrichtsstil basierte auf Disziplin und straffer Bearbeitung des Stoffes.
Wolf beherrschte neben den Sprachen, die er unterrichtete, noch vier weitere, alle von ihnen akzentfrei und fließend. Seine Schüler wussten, egal ob sie ihn mochten oder nicht, dass das, was er sagte, fundiert war. Kaum einer bezweifelte seine Erklärungen, im Unterricht besaß er eine Ausstrahlung, die die Schüler ruhig hielt und ihn fachlich glaubwürdig machte. Auch im Kollegium war man sich über seine Fähigkeiten im Klaren. Wenn andere Lehrer bei der Konzeption einer Arbeit oder eines Tests auf Schwierigkeiten oder Grenzfälle zwischen Richtig und Falsch stießen, wussten sie, dass auf Wolfs Urteil in diesen Fragen Verlass war.
Wolf hatte eigentlich die nötigen Voraussetzungen, um ein beliebter Lehrer zu sein, und doch wurde er von den meisten nur mit einem Mindestmaß an Respekt behandelt. Wolf war Alkoholiker, und jeder in seiner Umgebung wusste es. Selbst diejenigen Kollegen, die souverän über diese Tatsache hinwegzusehen versuchten, wurden immer wieder mit ihr konfrontiert, wenn Schüler sie darauf aufmerksam machten, dass Wolf im Unterricht nach Alkohol rieche. Gelegentlich belustigt, oft aber auch ärgerlich berichteten sie, dass der Herr Wolf in der Pause wiedereinmal getankt oder dass er sich vor dem Unterricht wohl einen kleinen Cognac gegönnt habe. Manchmal fragte dann noch einer gehässig, ob Wolf denn alles egal sei.
Vielleicht war es das. Wolf hatte einmal den Idealismus in sich gehabt, jungen Menschen etwas beibringen, ihnen Wege aufzeigen und im Leben weiterhelfen zu wollen. Das war während seines Studiums und am Anfang seiner beruflichen Laufbahn noch so. Doch dann gingen diese Werte ihm langsam verloren.
Er hatte in München auf Lehramt Gymnasium studiert, zügig seine Scheine gemacht und alle Prüfungen hervorragend bestanden. Bereits im ersten Semester lernte er in einem literaturwissenschaftlichen Seminar seine spätere Frau Clara kennen, sie strebte ebenfalls die Lehrerlaufbahn an. Die Liebe traf beide sofort und mit der gleichen Intensität. Schon bald machten sie alles zusammen und zogen in eine gemeinsame Wohnung. Sie schlossen das Studium im gleichen Semester ab, um ein halbes Jahr später zu heiraten. Irgendwann sagte seine Frau, dass sie nach Bayreuth zurückziehen wolle, dorthin, wo sie herkam und wo ihre Eltern lebten. Wolf stimmte sofort zu.
Als gebürtiger Bayer rutschte er verhältnismäßig gut in seine neue Heimat hinein. Die Kollegen nahmen ihn an, die Schüler erlaubten sich bei ihm nicht die Sperenzchen, mit denen sie andere Referendare gerne plagten, es stand alles recht ordentlich für ihn. Aber Wolf war nicht zufrieden. Irgendetwas passte nicht. Irgendetwas in ihm verbot, dass er sich ganz zu Hause, ganz im Leben angekommen fühlte. Schon bald begann er, Fragen zu stellen. Sollte er das über 30 Jahre lang tun? Sollte er wieder und wieder das gleiche Gebäude betreten, die gleichen Kollegen antreffen, die gleichen Idiotien pubertierender Kinder ertragen und die gleiche kreidehaltige Luft atmen? Wolf hatte seine Zweifel. Er war nicht dankbar für die finanzielle Sicherheit und die zeitlichen Freiräume, die dieser Beruf gewährte. Er war nicht der Typ dafür, dankbar zu sein und es sich dann gemütlich zu machen. Etwas Diffuses, eine Art innere Unruhe plagte ihn.
Von Anfang an ging ihm die Frage nach, ob er das Richtige getan hatte. Als Lehrer korrigierte er am laufenden Band Schulaufgaben und Exen, die Arbeit war im Grunde automatisch und mehr oder weniger leer. Er verteilte nicht selten Fünfer und Sechser, nicht weil er es wollte, sondern weil es dazu gehörte. Alle taten es. Wenn die Schüler und Schülerinnen ihn auf der Straße trafen, waren sie schüchtern. Die einen grüßten, die anderen schauten, sobald sie ihn erkannten, in eine andere Richtung. Er vermutete, dass sie Angst vor ihm hatten, weil er ein Lehrer war.
Nach eineinhalb Jahren in Bayreuth bekam seine Frau eine Tochter, sie nannten sie Hannah. Hannah blieb das einzige Kind ihrer Ehe, und sie zogen sie mit viel Hingabe auf. Sie machten mit ihr zahlreiche Reisen, sie vermittelten ihr den Zugang zu Literatur und Kunst, sie bereiteten ihr den Weg zu dem, was sie später beruflich machen sollte. Hannah wollte mit aller Gewalt Sängerin im klassischen Fach werden, denn schließlich liebte sie, wie ihre Mutter, die Oper.
Seine Tochter und die Ehe mit Clara hätten Wolf glücklich machen können. Aber dafür war er zu kompliziert. Er begann zu glauben, dass er nicht genug getan, nicht genug gegeben, nicht alles im Leben versucht hätte. Wo genau er versagt haben sollte, war ihm wohl selbst nicht klar, aber das Gefühl wurde immer stärker. Als seine Tochter siebzehn wurde und ihren ersten Freund mit nach Hause brachte, war er bereits Alkoholiker. Er hatte immer schon zu stärkeren Spirituosen geneigt, aber erst relativ spät in seinem Leben war daraus eine Sucht geworden.
Interessant war die Reaktion seiner Frau, denn eigentlich reagierte sie gar nicht. Sie nahm es wahr, aber sie sagte nichts. Währenddessen machte seine Tochter ihm kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag eine Szene. Sie schrie, sie brüllte ihn zusammen, und Wolf schwieg. Nachdem seine Tochter alles herausgelassen hatte, was sich in ihr angestaut hatte, und er nichts, aber auch rein gar nichts darauf antwortete, verstummte auch sie. Das Thema war erledigt, die beiden Frauen im Haus mussten einsehen, dass sie nicht an ihn rankamen. Ein paar Monate später begann seine Tochter in Frankfurt Gesang zu studieren, und nach nur zwei Jahren hatte sie bereits erste Auftritte.
Während dieser Zeit, es war Anfang September, schlief Wolf lange, irgendwann am späten Vormittag stand er auf und griff sich ein Buch aus der Bibliothek. Wenn er zu Mittag aß, dann meist zuhause und allein. Seine Frau war oft unterwegs, machte Einkäufe oder besuchte Freundinnen, wie sie sagte. Der Spätsommer brachte in diesem Jahr ausgezeichnetes Wetter, und so setzte er sich meist auf dem Balkon in die Sonne. Wenn er es nicht mehr aushielt, nahm er die Autoschlüssel und fuhr ohne konkretes Ziel einfach weg. Häufig verschlugen ihn seine Trips nach München. Er stellte dann irgendwo in der Innenstadt das Auto ab, setzte sich in ein Café und beobachtete die Passanten.
Es liefen viele hübsche Frauen durch die Stadt, aber er schaute sich am liebsten die jüngeren an, Mädchen um die zwanzig. Er mochte ihre unverbrauchten Gesichter, sommerlich leicht gekleidet, ließen sie viel von ihrer Haut und ihren Rundungen sehen. So viele hübsche Weiber, dachte er. Und doch – er konnte sie nicht berühren. Sie lebten in einer Welt, die ihm zu schwierig war. Die Freundschaften und Allianzen, die Intrigen und Feindschaften, über die sie sich definierten, schreckten ihn ab. In diese Welt wollte er nicht einbrechen. Ihre jungen Gesichter strahlten auf Wolf eine Energie und einen Kampfgeist aus, die ihm Angst machten. Jedes einzelne dieser Mädchen, wie dumm oder intelligent, wie oberflächlich oder gebildet es auch sein mochte, hatte die Kraft, ihn zu vernichten. Sie waren so vital, so stark, so viel lebendiger als er. Zumindest glaubte er das. Er liebte es, sie zu betrachten, die Unbeschwertheit, mit der sie ins Leben zu gehen schienen und die Anmut ihrer Bewegungen, aber er wollte sie nicht wirklich. Er wollte die Komplikationen nicht. Er wollte nicht um sie werben, und er wollte nicht von ihnen beurteilt werden.
Das mochte seltsam klingen. Sein Arbeitsbereich war die Schule, und das Urteilen gehörte ebenso zu seinem Beruf wie das Beurteiltwerden. Doch genau das konnte er nicht mehr ertragen. Es widerte ihn an. Seitdem er zum Trinker geworden war, schauten ihm einige seiner Kollegen mit einem wissenden Blick frech ins Gesicht und grinsten, Schüler, die ihm auf dem Gang entgegenkamen, tuschelten. Was sollte er denn tun? Sollte er sich mit schlechten Bewertungen rächen? Sollte er sich in den Weg stellen und Anderen das Leben schwer machen. Das war nicht sein Stil. Kommunikation und all die mit ihr verbundenen Kleinigkeiten strengten ihn nur noch an. Er konnte es nicht mehr ertragen. Er wollte nicht mehr reden, erklären und verdeutlichen. Er wollte nicht mehr unterrichten.
Es ist wahrscheinlich unmöglich, den Grund für diesen Unwillen zu benennen. Wolf war kein Shakespearscher Held, dessen Problematik auf einen Begriff oder auf ein Schlagwort wie Neid, Eifersucht, Wahn oder Melancholie zu reduzieren gewesen wäre. Warum er so dachte und wann genau es begann, ist schwer, vielleicht gar nicht zu sagen, denn Wolfs Inneres war nicht so simpel strukturiert wie die Begrifflichkeit irgendeines Psychologen. Trotz seiner ausgeprägten Sprachbegabung war ihm Innenschau eigentlich fremd. Es war nicht in seiner Art, jede Regung seines Bewusstseins zu beobachten und zu analysieren. Ein Widerwille, ein Ekel hatte von seinem Fühlen, Denken und Handeln Besitz ergriffen, und das war alles was zählte.
Wenn er von seinen Ausflügen zurückkehrte, hatte seine Frau bereits das Abendessen vorbereitet. Sie aßen, unterhielten sich über ihren Tag und schließlich ging Wolf rüber ins Arbeitszimmer. Während er las, trank er dann einen Cognac nach dem anderen, bis sich seine Wahrnehmung angenehm verlangsamte. Der Alkohol machte ihn gelegentlich so betrunken, dass er nicht mehr den Weg zum Ehebett fand. Er übernachtete dann auf der Couch im Büro.
Eines Morgens, er war gerade aufgewacht, kam Clara rein und setzte sich zu ihm an den Bettrand. Sie strich ihm durchs Haar.
„Ich hab gestern Abend mit unserer Tochter telefoniert, und sie hat gemeint, wir sollten
mal wieder ein Familientreffen machen.“
„Ja?“ Er war immer noch nicht ganz wach und reagierte ziemlich schwerfällig.
„Ein Familientreffen? Ah ja?“
„Ja. Sie meinte, wir könnten zusammenkommen und gut essen, und dann können wir reden und feiern und außerdem haben wir beide doch Ferien.“
„Ich wette, das hast Du ihr eingeredet.“
„Nein, sicher nicht. Der Vorschlag kam von ihr.“
„Soso. Ein Familientreffen.“ Er richtete sich langsam auf. Eigentlich war er immer noch müde.
„Kommst du zum Frühstück, Arnold?“ fragte sie.
„Ja, gleich. Darf ich wenigstens noch duschen?“
Clara war bereits aus dem Zimmer gegangen, und während er sich duschte, rasierte und anzog, konnte er hören, wie sie in der Küche etwas briet. Wahrscheinlich machte sie ein English Breakfast, wie meist am Samstag. Als er sich an den Tisch setzte, ging sie gerade die Post durch.
„Na, Schlafmütze“, begrüßte sie ihn, „aufgewacht?“
Wolf schaute sie an. Er mochte es, wenn sie so war.
„Hast du die Zeitungen?“ fragte er.
Sie gab ihm die Wochenendausgaben der Regionalzeitung und der Süddeutschen rüber. Er schlug die Süddeutsche auf und blätterte durch bis zum Sportteil. Er faltete die Zeitung und legte sie links neben den Teller, so dass er beim Essen lesen konnte. Er trank den frisch gepressten Orangensaft mit wenigen Schlucken und begann zu essen.
„Arnold?“ Seine Frau setzte sich und rückte einige Male den Stuhl zurecht.
„Arnold, ich bitte Dich, lies nicht wieder die ganze Zeit in der Zeitung, während wir frühstücken. Musst Du während des Frühstücks immer in der Zeitung lesen?“
„Ich bin ja gleich fertig“, antwortete Wolf. Seine Frau faltete ihre Hände über dem Teller und beobachtete ihn beim Lesen.
„Habe ich dir erzählt, dass unsere Tochter sich von Marc getrennt hat.“
„Nein“, antwortete Wolf.
„Ja, sie hat sich von ihm getrennt. Es war klar, dass das nicht funktionieren würde. Er ist wohl fremdgegangen. Untreu, ich hab’s doch gewusst. Ich habe immer gesagt, dass die beiden nicht lange zusammen sein werden. Hab ich es nicht gesagt?“ Wolf las weiter in seiner Zeitung.
„Ach übrigens singt sie wohl heute Abend die Ortrud. Die erste Besetzung fällt aus.“
„Das ist ja toll.“ Auch jetzt schaute Wolf nicht hoch. Er war natürlich stolz darauf, dass seine Tochter bereits an größeren Häusern gebucht wurde, doch mehr als müde Zustimmung zeigte er darüber nicht.
„Ich glaube, dass sie es ganz weit bringen wird.“
„Ja, das wird sie.“
„Glaubst du das auch?“
„Ja, das glaube ich.“
„Bist du stolz auf sie?“
„Ja.“
„Kannst du die Zeitung nicht weglegen? Ich will mit dir reden.“
„Nein.“
„Und wenn ich dich drum bitte?“
Wolf legte die Zeitung nicht weg.
„Deine Tochter macht sich Sorgen um dich“, fuhr seine Frau fort. „Sie denkt, dass Du Dich zu sehr abschottest. Das muss nicht sein. Walter Strauß, der ja bald in Ruhestand geht, will ein Sportgeschäft eröffnen. Er war ja immer schon eine Sportskanone, und jetzt will er sich sogar noch selbstständig machen. Er ist eben ehrgeizig. Aber auch alle anderen Kollegen machen was, Sie bringen sich irgendwie ein, nehmen am Leben teil. Du weißt schon.“
Wolf las weiter in der Zeitung.
„Ach, Arnold, schau nicht so. Du weißt, dass ich dich liebe, und ich wollte dir einfach nur sagen, wie die Dinge stehen. Ich will dir nur helfen. Ich will ... Na ja, du weißt schon. Vielleicht sollten wir eine Reise machen. Ich bin auch nicht eifersüchtig, wenn du den jungen Dingern hinterher schaust. Die Hauptsache ist, dass du mit dir etwas anfängst.“
„Ist das alles?“ fragte Wolf.
„Ja. Liebst du mich denn kein bisschen?“
„Nein.“
Sie blickte ihn mit großen Augen an und brach schließlich in Tränen aus.
„Ich liebe niemanden“, sagte Wolf.
Es brachte nichts. Er konnte ihr das nicht erklären, sie verstand es nicht. Es war einfach nur dumm, so etwas zu sagen. Er hatte sie verletzt. Er ging zu ihr herüber und umarmte sie. Sie legte den Kopf an seine Brust und weinte.
„Ich habe es nicht so gemeint“, sagte er. „Ich war über etwas anderes wütend. Ich wollte das so nicht sagen.“
Clara weinte immer noch, und Wolf setzte sich neben sie.
„Du solltest mich nicht so ernst nehmen“, meinte er.
Sie nickte kurz.
„Ich habe es nicht so gemeint. Kannst Du mir das glauben?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Glaub mir, bitte. Ich habe es nicht so gemeint.“
„Ist schon in Ordnung. Sie sah ihn an.“
„Ich glaub’ Dir ja.“
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich bin doch deine Frau. Ich liebe Dich, und das weißt Du.“
„Ja, das weiß ich, meinte er.“
Wolf war übel, er fühlte sich schuldig und zugleich erdrückt, er wollte so schnell wie möglich das Zimmer verlassen.
„Ich gehe gleich in die Stadt, um die Einkäufe zu erledigen, sagte Clara. Möchtest Du nicht mitkommen?“
„Nein, lieber nicht.“
„Ach komm doch mit.“
„Ich kann nicht.“
„Arnold, ich will nicht, das du alleine bist.“
Wolf sagte nichts. Clara stand auf, und ging in den Flur.
„Möchtest Du, dass ich Dir welche von den Zigarren mitbringe, die Du neulich gesehen hast? Du weißt schon, die Kubanische in dem neuen Tabakladen.“
„Ja, das ist eine gute Idee.“
Wolf hörte, wie seine Frau im Flur den Schlüssel nahm. Die Tür fiel ins Schloss, und Claras Absätze klackten, als sie die Stufen im Treppenhaus hinabstieg. Wolf nahm die halbvolle Kaffeetasse und ging nach draußen auf den Balkon. Er rückte einen der Sonnenstühle zurecht und setzte sich.
Clara wollte ein einfaches, harmonisches Leben. Sie kämpfte gegen die Komplikationen. Aber die Komplikationen waren gekommen, und Wolf fühlte sich verantwortlich. Er passte irgendwie nicht in dieses Leben hinein. Es tat ihm leid für Clara. Er wollte ihr das nicht antun, und doch – er konnte nicht anders. Clara sprach nie direkt über diese Dinge, sie deckte sie zu mit ihrem Schweigen. Sie wusste von seinem zunehmenden Alkoholismus, sie wusste auch von den Verwicklungen, die sich in seinem Inneren auftürmten, aber sie verlor darüber kein Wort. Vielleicht würde es irgendwann zum großen Krach kommen, vielleicht würde alles zerbrechen, vielleicht würde alles so weiter laufen wie bisher. Wolf spürte, wie seine Hände zu zittern begannen, und er wollte das alles jetzt nur noch vergessen. Vor allem wollte er sich selbst vergessen. Ich brauche eine starke, starke Betäubung, dachte er. Er schaute in den leuchtend blauen Sommerhimmel, begann zu grinsen und sein Gesicht verzog sich langsam zu einer Grimasse.