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Wolffs Hinterlassenschaften
Mich empfing der Mikrokosmos einer Studentenkneipe: Gesichter, Lärm und Rauch, ein Labyrinth durch das eine unerreichbar jung wirkende Kellnerin mit einem vollbeladenen Tablett zwischen zerbrechlich wirkenden Tischchen tänzelte. Ich war eingetaucht in die unbekannte Welt meiner längst vergessenen Vergangenheit: "Ich bin blond, habe halblanges Haar und trage ein dunkelviolettes Top."
Wenn sie pünktlich war, musste sie schon hier sein. Vorsichtig arbeitete ich mich in das Grau des Raumes vor. Meine Suche endete im Nebenraum, ihre Beschreibung hätte zutreffender nicht sein können. Alleine an einem Tischchen in der Ecke saß eine junge Frau, die mir verschwiegen hatte, wie verdammt attraktiv sie war.
"Sind sie... ?"
"Corinna. Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, mich mit meinem Nachnamen anzureden!" Sie lächelte mich an. Noch immer stand ich neben ihr, schuljungenhaft den Blick zum Boden gerichtet. Unter dem Tischchen sah ich den Rand eines dunkelvioletten Rocks, sowie lackierte Zehennägel, die aus schwarzen Riemchensandalen hervorspähten.
"Bitte entschuldigen Sie, der Verkehr war höllisch."
Eine halb geleerte Cappuccinotasse und eine geöffnete Zigarettenpackung sahen mich vorwurfsvoll an. Auf eine einladende Geste ihrerseits nahm ich Platz.
"Als Sie mich angerufen haben... Das war das Letzte, mit dem ich gerechnet hatte."
"Wirklich?"
Ihr Lächeln hatte etwas Bezauberndes, was es nicht leichter für mich machte. Ich suchte nach dem passenden Text, wie ein vom Lampenfieber dahingeraffter Schauspielnovize: "Es gibt Dinge, die erwartet man einfach nicht. Ebensowenig, wie ich es für möglich gehalten hätte, Sie hier zu treffen."
Sie nickte und wenig später verlor ihr Lächeln seine Strahlkraft:
"Ich wollte Sie sprechen, weil ich die Wahrheit wissen muss!"
"Es gibt da noch einen Passus, den müssen Sie in den Vertrag aufnehmen."
Eine weitere Kröte zu schlucken, dachte ich mir und wahrte mein Pokerface: "Nämlich?"
"Ich bin nicht mehr der Jüngste. Im Falle meines Todes: die Fortzahlung des vollen Gehalts an meine Frau. Zwei Jahre lang."
Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß. Nicht zu seinen Gunsten sprach, dass er leichtes Übergewicht hatte und rauchte.
"Sehen Sie, ich bin nun 49, das ist das Alter, in welchem man anfangen muss, sich Gedanken zu machen", fuhr er fort. Dann weiß ich ja, was ich in sieben Jahren zu tun habe, dachte ich mir.
"Herr Wolff, können wir uns auf ein Jahr einigen?"
"Eineinhalb. Mein letztes Wort. Wollen Sie mich nun abwerben oder nicht?"
"Okay", antwortete ich, auch wenn es im Fall des Falles unserem Unternehmen weh tun würde.
Die flirthafte Freundlichkeit war komplett verflogen, in ihren Augen brannte das Feuer der Angriffslust. Nur allzu gut kannte ich diesen Blick. Vor mir saß kein zweiundzwanzigjähriges Mädchen mehr, sondern eine kampfbereite junge Frau. Während sie zur Zigarettenschachtel griff, wandte sie für keinen Moment ihren erwartenden Blick von mir ab. Die Macht des Schweigens. Ich würde die Geschichte von Anfang an erzählen müssen. Oder vom Ende her:
"Sie wissen, dass bei Risikolebensversicherungen die Zahlung verweigert werden kann?"
"Bei Selbstmord?"
"Im Falle ihres Vaters waren wir zu naiv, um diese Option auszuschließen. Wir werden die vereinbarte Summe wohl oder übel an ihre Mutter auszahlen müssen. Entsprechend ist es müßig, nun zu spekulieren, ob es wirklich ein Unfall war."
Sie drückte die nur halb fertig gerauchte Zigarette aus. Die Angriffslust war auf einmal verschwunden und hatte einer anderen Stimmungslage Platz gemacht.
"Es ist nicht wegen des Geldes!"
"Corinna, was mit Ihrem Vater passiert ist, tut mir wirklich leid. Bitte glauben Sie mir. Ich weiß nicht, wie er über mich gesprochen hat, aber ..."
"Darum geht es doch gar nicht! Sie verstehen nicht, ach, wie könnten Sie auch!"
Der letzte Rest Kampfgeist war dahin und mir gegenüber saß ein zerbrechliches zartes Wesen, das ich am liebsten einfach nur in die Arme genommen hätte. Doch uns trennten ein Kaffeehaustischchen und tausend andere Gründe.
"Natürlich. Nun bin also ich der Schuldige. Wolff war's. Wie immer. Schreiben Sie doch eine Aktennotiz!"
"Herr Wolff, bitte beruhigen Sie sich doch! Sie sind doch ein Profi. Niemand macht Ihnen Vorwürfe. Das mit der Rückrufaktion werden wir schon irgendwie schaukeln."
"Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, was passiert, wenn ich alles hinschmeiße?"
Natürlich hatte ich das. Und bei dem Gedanken an diese Möglichkeit, begann sich die nervöse Waage mit 'Fluch' und 'Segen' verdächtig tief in der Richtung von 'Segen' zu neigen.
"Herr Wolff, Sie sind unser bester Mann. Wir hätten Sie doch nicht für ein Schweinegeld in die Firma geholt, wenn wir nicht an Sie glauben würden!" Für einen kurzen Moment schien sich ein Anflug von Stolz unter den Ausdruck des Misstrauens und der Erregung zu mischen. Dann gewannen wieder Wut und Misstrauen die Oberhand in seiner Mimik.
"Im Gehen redet es sich besser. Was halten Sie davon, wenn wir zur Burg laufen?", hatte sie mich gefragt. Ich bezahlte die Rechnung und wenige Minuten später waren wir ein Teil jenes behaglich dahinfließenden Strom des Lebens, der durch die Altstadt floss.
"Corinna, was studieren Sie eigentlich?"
"Kunstgeschichte."
"Wie um Himmels willen kommen Sie denn darauf?" Für einen Moment zögerte sie, mir zu antworten. Wir waren stehen geblieben. Das ziellose Treiben hatte uns zum "Schönen Brunnen" geführt. Erst jetzt, da ich sie in der Gesamtansicht wahrnahm, wie sie am Rande des achtseitigen Beckens stehend auf die Reihe der Steinfiguren deutete, fiel mir auf, dass sie Ton in Ton violett gekleidet war. Top, Rock und die lackierten Zehennägel waren farblich aufeinander abgestimmt. Woher kannte ich diese Farbe? Unwillkürlich musste ich an Passionsblumen denken.
"Die Welt meines Vaters: Raten Sie 'mal was am weitesten davon entfernt ist!" Sie hatte mit einem Unterton der Verbitterung gesprochen. Ich dachte nach und verstand nicht. Ihr Vater war Software-Entwickler gewesen.
"Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich habe keine Ahnung, wie!"
Sie blieb mir den entscheidenden Hinweis schuldig und schwieg.
"Ich lernte Ihren Vater vor ungefähr vier Jahren kennen. Gute Softwareentwickler für Embedded-Systeme waren damals schwer zu bekommen. Er meinte, ein Umzug nach Nürnberg sei kein Problem für seine Familie."
"Natürlich!"
"Nun ja, und die Konditionen ... Wir gingen wirklich an den Rand dessen, was ..."
"Um das klarzustellen. Es gibt nichts, was ich Ihnen vorwerfe."
Sie hatte mit einer Intensität gesprochen, die keinen Zweifel an ihrem Ernst aufkommen ließ. Doch was sie da gesagt hatte, passte nicht. Nicht zu einer Studentin im sechsten Semester.
"Corinna, es tut mir alles so furchtbar leid."
"Sind Sie nun der Fachmann, oder ich?"
"Herr Wolff, ich bitte Sie. Ich wollte Ihnen doch nur ..."
"Lassen sie mich doch einmal ausreden. Wenn ich Ihnen schon sage, dass das nicht funktionieren wird, dann glauben Sie mir gefälligst. Herrgott nochmal! Warum setzen die immer Leute in Führungspositionen, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben? Damit richtet man doch das gesündeste Unternehmen zu Grunde!"
"Nun beruhigen Sie sich doch. Ich will nur von ihnen wissen, warum ..."
"Sie haben doch überhaupt keine Ahnung. Aber hier das große Kommando führen. Und wenn es dann schiefgegangen ist, dann ..."
"Herr Wolff. Nehmen Sie sich doch etwas zusammen. Wir haben Kunden im Haus. Wenn die Ihren Zwergenaufstand mitbekommen ..."
"Zwergenaufstand? Dann machen Sie Ihren Dreck doch ohne mich! Oder mit den Küken vom Büro nebenan! Von denen traut sich doch keiner den Mund aufzumachen."
Wir waren weitergelaufen und am Fuße jenes Hügel angelangt, auf welchem längst verstorbene Herrschergeschlechter das Zeugnis ihrer Existenz hatten hochmauern lassen. Eine bereits versunkene Sonne brach sich an hochliegenden Wolkenfetzen und der vergängliche Hauch rosafarbenen Lichtes floss über die Stadt. Ich musste an die denkwürdige Bombennacht vom Januar 1945 denken.
"Haben Sie ihn eigentlich kennen gelernt? So richtig meine ich?" Ich wandte mich von der Altstadt ab und streifte für einen kurzen Moment die Unerträglichkeit ihres fragenden Blickes.
"So richtig kam ich nie an ihn heran, da war diese Mauer des Misstrauens. Ich dachte, ich hätte nicht das Recht, ihm zu nahe zu treten. Schließlich war er nur mein Mitarbeiter und nicht ..."
"Ihr Freund." Die Trockenheit, mit der sie diese zwei Worte gesprochen hatte, versetzte mir einen Schlag. Ich flüchtete mich erneut in die Betrachtung der zartrosa umspielten, längst wieder aufgebauten Häuser.
"Das Schlimmste ist, dass ich nun nicht mehr mit ihm reden kann. Er hat sich aus der Verantwortung geschlichen, diesmal für immer."
Sie hatte sich von mir abgewandt, ebenfalls den Blick auf die Szenerie gerichtet, der der Sonnenuntergang nun das letzte Licht entzog. Weinte sie? Ratlos sah auch ich zu einer Stadt hinunter, die sich zur Nachtruhe bereit machte.
"Es war nicht immer leicht mit ihrem Vater. Aber um eines beneide ich ihn: Er hat sich niemals verbiegen lassen. Der Weg, den er für richtig hielt, er ist ihn gegangen."
"Er war nicht mein Vater."
"Wie bitte? Er war nicht ..."
Ich schüttelte verständnislos den Kopf, bis mich Corinnas Frage wieder in die Realität zurückholte: "Wollen wir wieder hinunter gehen, ins richtige Leben?"
Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Ich nickte, ahnend, jedoch ohne zu verstehen. Schweigend stiegen wir auf das Niveau der Altstadt hinab. Die Dunkelheit nahm Besitz von der Szenerie.
"Wissen Sie, warum er sich umgebracht hat?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"Hat er das? Oder ist er einfach nur wieder einmal davongelaufen? Ich habe keine Ahnung."
Es dauerte eine kleine Weile, bis ich endlich den Mut gefunden hatte, das letzte fehlende Detail herauszukramen: "Da ist noch etwas. Wir hatten eine Auseinandersetzung. Es war an dem Tag, als er gegen den Brückenpfeiler fuhr. Wir waren uns in die Haare geraten wegen eines technischen Kleinkrams, der sich mit ein paar Zehntausend hätte aus der Welt schaffen lassen. Ein paar Zehntausend gegen ein Menschenleben! Können Sie sich vorstellen, was für Schuldgefühle ich habe?" Als ich die Frage ausgesprochen hatte, fiel mir auf, dass die Rechnung unvollständig war. Eineinhalb Jahresgehälter an seine Frau waren noch draufzuschlagen.
"Ja, das kann ich", antwortete sie. "Und wenn ich Ihnen nun sage, dass so ein schnelles Ende noch viel zu gut für ihn war?"
Wir waren zufällig unter einer Straßenlaterne stehen geblieben, die das nötige Licht spendete. Erst jetzt fiel mir ein weiteres violettes Detail auf: Sie trug Ohrstecker mit kleinen Amethysten.
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. "Corinna, ich glaube nicht, dass er das ..." Dann tauchte ein fast vergessenes Ereignis aus den Tiefen meiner Erinnerung auf:
"Noch einen Merlot! Für Sie auch, Herr Wolff?"
"Nein danke, ich trinke nicht - nicht mehr."
"Was ich echt super finde, dass wir endlich einmal Zeit haben, uns so richtig zu unterhalten. Das kommt irgendwie im Tagesgeschäft zu kurz. Der Büronachbar, das unbekannte Wesen, haha." Ich nahm einen weiteren Schluck und lehnte mich zurück. Wolff und ich, wir waren zum ersten Mal gemeinsam auf Dienstreise. "Und was treibt ein Fritz Wolff in seiner Freizeit?"
"Ich habe zwei Kinder", antwortete er, während sein Blick, der manchmal etwas Schlangenhaftes ausstrahlte, sich in der Tiefe des Raumes verlor.
"Der Kleine geht noch zur Schule. Ein wunderbarer Wildfang, kommt genau nach mir, der Bengel."
"Na dann Gratulation."
"Ja, und meine Tochter studiert hier in Nürnberg. Irgendetwas mit Kunst... Ich habe keine Ahnung, was genau. Ein Prachtexemplar von einem Mädel, Schwarm aller Männer, knusprig bis zum Abwinken."
"Rabenvater, weiß nicht einmal, was seine Tochter studiert", dachte ich im Stillen. Ich nahm einen weiteren Schluck Rotwein und ignorierte seine zweideutige Gestik. Nach diesem Glas war es nun aber endgültig genug, sonst drohte das morgige Meeting desaströs zu werden.
Sie ergriff meine ausgestreckte Hand. Ihre zarten Finger fühlten sich kühl an, aber hinterließen den Eindruck eines beherzten Zupackens. Es war unsere erste und gleichzeitig letzte Berührung. Abschiedsszenen waren noch nie meine Spezialität gewesen. Ich musste, auch wenn ich nicht wollte, wieder loslassen.
"Machen Sie's gut."
"Sie auch."
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie. War es ein violetter Engel, der da die Treppen zur U-Bahn hinunter stieg? Die nötige Anmut hierzu hatte sie, dachte ich und bedauerte, dass ich weder ihre Telefonnummer kannte, noch verstanden hatte, was sie eigentlich von mir gewollt hatte.