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Wolkenkrieger
Vor seinem geistigen Auge sah er die Schlacht bereits vor sich, grausam und gnadenlos, selbst wenn die Ebene noch menschenleer war. Kartamus stand auf der Anhöhe und beobachtete das Dickicht und die Felsen im Norden. Er war der Feldherr seines Königs. Was ihm hier bevorstand, war nicht seine erste Schlacht, aber diesmal war er sich nicht sicher, ob es nicht die letzte sein würde. Der Feind war stark. Stärker als sein Herr sich eingestehen mochte.
Sein Blick wurde von den Wolken abgelenkt. Es war ein finsteres Schauspiel am Himmel zu beobachten. Das Himmelsblau war hinter all den schwarzen Wolken nicht mehr zu sehen.
Bei diesem Anblick kam ihm ein seltsamer Gedanke. Es war als würden sogar die Wolken Krieg führen.
WOLKENKRIEGER
Streifen und Felder aus rot und rotviolett zierten den Horizont. Es waren die Minuten der Abenddämmerung, in denen der Himmel so friedlich wirkte. So trügerisch friedlich.
Der Himmel war nicht wolkenlos. Anderenfalls wäre er nicht hier gewesen. Seldin schwebte zwischen unzähligen anderen von seiner Art und wartete. Es war ein Warten voller Angst. Ein Warten auf einen Zeitpunkt, der sich unvermeidlich näherte und für sie alle das Ende bedeuten konnte – das Ende der Existenz, die für ihn gerade erst begonnen hatte. Er war nicht mehr als ein unbedeutender Bestandteil einer Wolke: ein Wolkenkrieger, der seine erste Schlacht noch nicht geschlagen hatte und doch oder deshalb kurz davor stand einer solchen zu fallen und vom Himmel und damit von der Welt zu verschwinden. Er würde nicht vergessen werden, aber es würde sich auch niemand an ihn erinnern, da niemand ihn kannte. Es konnten noch so viele Wolkenkrieger um ihn sein, die auf seiner Seite standen – er war für sie nur ein Teil der Masse. Und dasselbe waren sie für ihn.
Er wollte es nicht so sehen, aber er hatte keine Wahl. Keiner von ihnen hatte eine Bedeutung. Er selbst mochte sich Seldin nennen, aber nie würde jemand diesen Namen aussprechen, nie jemand wissen, dass es unter ihnen einen Seldin gab – oder auch nur einen Wolkenkrieger mit Namen. Wirkliche Bedeutung als Einzelwesen kam nur dem Herrscher zu, dem Herz und der Stimme der Wolke. Was nicht die Winde über ein Wolkenreich entschieden, das entschied er.
Seldin wusste nicht, ob es der Wille der Winde war oder der des Wolkenherzens, dass zu diesem Zeitpunkt ein anderes Wolkenreich auf sie zuglitt – ein Wolkenreich, das ihm größer und dunkler erschien als das, zu dem er selbst gehörte. Er schob es auf den Wind, schon weil er hoffte, dass die Stimme seiner Wolke von Güte beseelt sein mochte. Von den Winden wusste er, dass sie keine Güte besaßen.
Seldin wusste, dass es lächerlich war sich etwas vorzumachen. So wie die Winde ihnen an diesem Abend – dem zweiten, den er erlebte – mitspielten, stand ihnen eine erbitterte Schlacht bevor.
Deshalb waren sie alle bereit – bereit sich dem Feind zu stellen, bereit sich vernichten zu lassen, wenn es keinen anderen Ausweg gab. Und der einzige andere und echte Ausweg war der Sieg. Es sah nicht unbedingt so aus als ob sie einen solchen davon tragen würden. Tausende von Wolkenkriegern würde die Schlacht sowieso kosten, gänzlich unabhängig davon wie sie ausging. Aber darauf waren sie eingestellt. Es war ihr einziger Daseinszweck: Verteidigung und Angriff, Kampf zwischen den Kriegern der Wolken, Krieg zwischen den Mächten der Wolkenreiche.
Sie alle schienen dieses Schicksal zu akzeptieren. Seldin sah in ihren silbern leuchtenden Augen grimmige Entschlossenheit. Er selber vermochte es nicht zu akzeptieren. Er konnte sich nicht damit abfinden, dass seine Existenz einzig der Vernichtung diente – sei es seiner eigenen oder der anderer, die sein Schicksal teilten. Und dann fiel ihm plötzlich auf, dass er ungeachtet dessen nicht minder entschlossen dreinblickte. Er konnte sein hartes Gesicht beinahe sehen, so verkrampft waren seine Gesichtszüge. Vielleicht weil er darauf eingestellt war, sich in diesem Kampf bestmöglich zu verteidigen, vielleicht weil er den Schein wahren wollte, damit dem Herrscher keine Zweifel an seiner Loyalität kamen, vielleicht sowohl als auch. Aber konnte denn jemand Zweifel an seiner Loyalität haben? Er war ein Teil des Wolkenreiches. Möglicherweise hätte er sich lösen können – theoretisch. Aber das hätte sein Ende in den zerreißenden Winden bedeutet. Niemals konnte ein Wolkenkrieger in den Winden allein bestehen, da mochten sie noch so schwach sein. Seldin hatte schon gesehen wie sich das Reich verformt hatte weil der Wind an seinen Rändern nagte – Rändern, von denen er nicht weit entfernt war.
Und selbst wenn er hätte entkommen können – wohin hätte er sich wenden sollen? Der einzige Ort, an dem Frieden möglich sein mochte, war die Welt weit unten. Und dort würde er als Wolkenkrieger niemals hingelangen.
Die andere Wolke sah immer größer aus. Schwarz und bedrohlich türmte sie sich höher und höher auf. Und jeden Moment würde sie über sie herfallen. Niemals, niemals konnten sie diese Schlacht überstehen – oder jedenfalls er würde sie nicht überstehen. Verdammt, er wiederholte sich in seinen Gedanken – und nicht zum ersten Mal.
Verzweifelt sah er sich um – und blickte nur einmal mehr in unbewegte Mienen. Obwohl – nein, das stimmte nicht. Jetzt, da er genau hinsah, bemerkte er, dass auch andere die Köpfe wandten, dass auch andere Anzeichen von Verzweiflung zeigten. Er sah es mit Erstaunen – und mit einem Gefühl, das ihm völlig neu war: Hoffnung!
„VERTEIDIGT DAS REICH!“
Eisern drang die Stimme zwischen seine Gedanken. Dem Wolkenherzen musste die Unruhe aufgefallen sein. Beklommen wurde Seldin klar, dass diese Unruhe, wenn sie jetzt aufkam, vor jeder Schlacht existieren musste. Und wenn die Schlachten trotzdem geschlagen wurden, dann bedeutete das… Seldins Innerstes verkrampfte sich in stillem Leiden. Es war eine Sache die Ausweglosigkeit der Situation zu erkennen und sie nie anders gesehen zu haben. Es war eine andere sich diese Ausweglosigkeit eingestehen zu müssen, nachdem man Hoffnung geschöpft hatte. Seldin hätte es verfluchen mögen: das Reich, die Himmel, sein erbärmliches Leben…
Sein Selbstmitleid nahm ihn so gefangen, dass es einen Moment dauerte, bis das allgemeine Flüstern an seine Sinne drang. Es war das Flüstern der anderen Wolkenkrieger, ein Flüstern, das im Wind zu hören war. Wie erzeugten sie es? Seldin war fasziniert von der Vorstellung mit ihnen kommunizieren zu können. Er hätte nicht gedacht, dass es möglich wäre. Bisher hatte es niemand getan. Warum, war allerdings nicht schwer zu erraten. Während der kurzen Zeiten ohne Bedrohung traute es sich vermutlich niemand aus Angst vor dem Herrscher, denn Seldin ahnte, dass er es verurteilte, weil er eben doch keine Gnade kannte. Jetzt aber, da sie ihrem Ende ins Auge blickten, versuchten sie einander Gedanken zu sagen. Seldin bezweifelte, dass Pläne zum Überleben darunter waren. Wahrscheinlicher war, dass sie redeten, weil es das Letzte war, was sie tun konnten.
Er lauschte den leisen Stimmen im Wind. Viele formulierten keine konkreten Worte. Entweder konnten sie es nicht, oder sie hätten nichts zu sagen gewusst. Tatsächlich formte auch Seldin keine Worte, als er versuchte durch seinen eigenen Willen eine Stimme in den Wind zu setzen. Zuerst gelang es ihm nicht. Seine Verzweiflung konnte das auch nicht mehr steigern, aber sein Bedauern darüber war groß. Doch er gab nicht auf und schließlich hatte er Erfolg, als immer mehr Stimmen laut wurden und er genau sah, wie neben ihm einer der anderen seine Gesichtsmuskulatur anstrengte. Und in diesem Moment überschlugen sich seine Gedanken. Er wollte etwas sagen – etwas, das helfen konnte.
„Was können wir tun?“, waren schließlich die Worte, die er in den Wind entsandte.
Er lauschte auf die vielen Stimmen, die in ihrer Gesamtheit kaum anders klangen als das Rauschen des Windes. Und dann hörte er eine Antwort heraus, die der Wind direkt zu ihm trug.
„Für einander kämpfen, anstatt für den Herrscher!“
Die Antwort verwirrte Seldin. Er wusste nicht, was das für eine Hilfe sein sollte. Das hieß sie konnten nur kämpfen. Machte es denn einen Unterschied, für wen sie das – ihrer Überzeugung nach – taten?
„Mehr…“, trug der Wind weiter an seine Wahrnehmung, „…können wir nicht tun.“
Tatsächlich war es endgültig zu spät irgendetwas zu tun. Die Konfrontation der Reiche stand in diesem Augenblick direkt bevor. Und die Wolkenkrieger um Seldin herum hielten bereits ihre Waffen in Händen. Dann gab es also doch keine Hoffnung. Er hätte sich all die Gedanken sparen können. Sie hatten in ihm Hoffnungsfunken geweckt, die in diesem Meer von zerstörenden Naturen von Anfang an zum Erstickungstod verurteilt gewesen waren.
Er konnte sein Ende nur noch herauszögern – und es den anderen gleichtun. Seldin packte seinen Stab mit beiden Händen. Das war sie: die Waffe der Wolkenkrieger – ein Stab aus gehärteter Luftfeuchtigkeit, von scheinbar kristalliner Oberfläche, schillernd in allen Farben des Regenbogens – und vergänglich wie die Krieger, die sie trugen. Jeder Stab existierte nur solange wie der Soldat, bei dessen Entstehung er mit entstanden war. Jeder Stab war eine individuelle Waffe, nie war die Anordnung der Formen und Farben im Innern, die dem Stab seine Kraft gaben, gleich. Angeblich sollten es wahre Regenbogenessenzen sein – Elemente, wie sie nirgendwo gefestigt existierten, außer in den Stäben der Wolkenkrieger. Seldins bittere Meinung war, dass den Stäben mehr Individualität zugebilligt wurde als den Kriegern, die mit ihnen kämpften.
Der Wolkenkrieger sah den Kriegern der Gegenseite in die Augen. Was er sah, war erschreckend, aber nicht unerwartet: es waren Wesen wie er selbst. Nicht bloß vom selben Körperbau, sondern ebenso besessen von der selben Angst, der selben Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit – und auch dieselbe Unschuld war ihnen zuteil. Seldin wusste, sie hätten diesen Kampf ebenso wenig geführt wie er, wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Und ebenso wie er hatten sie diese Wahl nicht. Dann fielen sie übereinander her und Seldin sah sie nach und nach fallen, die vor ihm kämpften. Aber die Krieger seiner Seite kämpften als Gemeinschaft und er verstand in diesem Moment die Antwort, die er auf seine Frage erhalten hatte. Sie konnten ihr eigenes Ende hinauszögern, wenn sie nicht für ein herzloses Herz kämpften, das ihnen gänzlich fremd war, sondern füreinander und wenn sie einander retteten – nicht dauerhaft, aber für Momente – dann mochte ein geringes Maß an Erfüllung darin liegen. Gleichzeitig wurde Seldin klar, dass er diese Erfüllung nicht finden würde, da er die Gegenseite gesehen hatte und wusste, dass jeder dort es nicht minder verdient hätte gerettet zu werden, was aber in der Natur der Sache für ihn und seine Seite unmöglich war. Und als er erkannte, dass alles Nachdenken nur in grenzenloser Verzweiflung endete, hörte er auf zu denken.
Sein leuchtender Stab wirbelte durch die Luft und streckte einen Krieger nieder und dann noch einen. Sein Stab wurde ein Element des blitzenden Schauspiels, mit dem die Schlacht in ihre intensive Phase überging. Es kamen immer mehr Feinde. Einige drangen an ihm vorbei vor, andere gerieten an ihn und ihr Weg fand an seinem Stab ein Ende. Er hatte erwartet, dass auch sein Ende längst gekommen wäre. Aber so war es eben nur eine Frage weiterer Zeit. Er verzichtete darauf neue Überlegungen anzustellen und zwang die alten ins Unbewusste. Und kaum noch nahm er wahr, was um ihn herum geschah…
Sein Ende aber kam nicht. Und dann stellte er schließlich fest, dass auch keine Feinde mehr kamen. Er sah sich um. Das feindliche Reich war nicht verschwunden und auch sein eigenes Reich war noch da wo es zuvor gewesen war. Nur er war nicht mehr dort. Mit einem Häuflein anderer Krieger war er von seinem Reich getrennt worden. Und der Wind hatte sie abgetrieben – ein erbärmlich kleiner Wolkenfetzen, der mehr und mehr von den großen Reichen abdriftete. Seldin sah es geschehen, ohne es recht zu begreifen, geschweige denn, dass er die Bedeutung dieser Entwicklung erfasst hätte. Er hatte die Benommenheit noch nicht überwunden, die ihn im Kampf befallen hatte.
Sein Geist wurde erst wieder klarer, als er die Stimme seines Reiches hörte. Diesmal wandte sie sich ausschließlich an sie, an den kleinen Wolkenfetzen, den die Winde davontrugen.
„UNSER REICH WIRD ZERFALLEN“, hörten sie die Stimme sagen. Sie klang ausdruckslos wie immer und dabei doch auf eine unerklärliche Weise eindringlich, als hätte sie, und nicht die Krieger selbst, die Kontrolle über ihre Geister. „DOCH KANN ES IN DIESEM GERINGEN BESTANDTEIL NEU ERSTEHEN. SCHON JETZT WACHSEN IN IHM NEUE KRIEGER HERAN UND ES WIRD WEITER WACHSEN. ABER DIE BEDROHUNG WIRD NICHT ABNEHMEN. DIE MANIFESTATION FEINDLICHER REICHE IST GRÖßER DENN JE. ES GIBT KEINE HOFFNUNG AUF EIN WEITERBESTEHEN UNSERES REICHES, WENN WIR NICHT ZU AUßERGEWÖHNLICHEN METHODEN GREIFEN. ES SEI EUCH ANVERTRAUT NACH DER HOFFNUNG ZU SUCHEN, DIE ES OHNE EUCH NICHT MEHR GEBEN WÜRDE.“
Hoffnung – lächerlich! Er hatte erfahren, was von Hoffnung zu halten war. Und doch konnten sie nicht ihren eigenen Weg gehen, nicht versuchen sich der Stimme zu widersetzen – gerade weil es für sie keine Hoffnung gab. Wenn sie am Himmel bestehen wollten, mussten sie sich dem Kampf mit einem jeden Feind stellen und wenn sie zu diesem Kampf bereit sein wollten, mussten sie ihr Reich aus diesem Wolkenfetzen neu errichten. Seldin sträubte sich dagegen, aber er wusste, dass er gehorchen musste – diesmal und immer. Er würde niemals nach höheren Zielen greifen können als dem Überleben.
„IHR MÜSST EIN REICH DER MYTHEN UND LEGENDEN SUCHEN. NUR DORT KANN DAS BESTHEN UNSERES REICHES GESICHERT WERDEN. SUCHT NACH DEM WOLKENREICH EVERMORE, DEM VERHEIßENEN LAND, WO ES FRIEDEN GEBEN SOLL, DER NICHT ZU ERSCHÜTTERN IST UND IN EWIGKEIT BESTEHT. ODER ABER FINDET DAS WOLKENREICH AVALON, WO DER MÄCHTIGSTE STAB DER HIMMEL GEHÜTET WERDEN SOLL. DIESEM STAB HAT NIEMAND ETWAS ENTGEGENZUSETZEN. ER KÖNNTE UNSER REICH FÜR ALLE ZEIT VOR DER VERNICHTUNG BEWAHREN.“
Nicht diese Vorstellung war es, die Seldin faszinierte. Die Worte „wo es Frieden geben soll, der nicht zu erschüttern ist“, diese Worte hallten noch lange in seinem Kopf nach…
Gefangen von Träumen vom Frieden schwebte Seldin lange still dahin. Der Wind trieb ihre mickrige Wolke davon und ihr altes Reich wurde in der Ferne kleiner und kleiner.
Die Wolkenkrieger um ihn aber begannen schließlich von neuem im Wind zu reden. Für einen Moment glaubte Seldin es stünde ihnen ein Kampf bevor, doch dann begriff er, dass sie sich diese Freiheit nahmen, weil sie nicht länger ohne weiteres ersetzbar waren. Vieles hing von ihnen ab und so konnten sie sich erlauben, was sonst undenkbar gewesen wäre.
Seldin hörte ihnen aufmerksam zu. Es wunderte ihn nicht zu hören, dass sie von den Reichen der Mythen sprachen.
„Glaubt ihr, dass es sie gibt?“ fragte er. „Glaubt ihr Evermore ist mehr als ein Traum?“
Er konnte nicht sagen was für eine Antwort er sich erhoffte. Wenn die anderen es glaubten, dann vermutlich auch nur, weil sie es glauben wollten.
„Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es nicht existiert“, meinte einer optimistisch. „Viel größere Sorgen sollten wir uns darüber machen, ob wir diese Reiche jemals erreichen können. Die Reiche der Legenden mögen riesig sein im Vergleich zu unserem, aber die Himmel sind immer noch riesig im Vergleich zu ihnen. Wir können nur hoffen, dass großes Glück, Schicksal oder göttliche Mächte uns beistehen. Aber immerhin: es gibt gleich drei Kräfte, auf die wir unsere Hoffnung stützen können.“
Seldin war sich nicht sicher, ob er hoffen wollte. Es war ein wunderschönes Gefühl. Aber es zu verlieren war ein Erlebnis, von dem er nicht wollte, dass es sich wiederholte. Schließlich ließ er sich dennoch darauf ein. Er hoffte eines der Reiche, vorzugsweise Evermore, zu finden, vor allem aber hoffte er, die Hoffnung würde ihm erhalten bleiben.
Außerdem blieb zu hoffen, dass sie von der Kollision mit anderen Reichen bis auf weiteres verschont bleiben würden und dass der Wind ihnen nicht so sehr zusetzte wie er es vermochte. Denn dieser ließ sich nicht mit Stäben bekämpfen.
Über mehrere Tage hatten sie Glück. Nicht selten war ihre wachsende Wolke die einzige am Himmel oder aber die mächtigen Reiche zogen weit über ihnen hinweg. Und auch der Wind setzte ihnen nur geringfügig zu. Seldin bereute nicht sich der Hoffnung anvertraut zu haben. Sie mochten scheitern, aber diese Tage des Friedens waren mehr als er noch vor kurzem zu erhoffen hatte wagen können.
„Alles Glück findet einmal sein Ende“, hörte er den Krieger neben sich sagen. Elanid hieß er. Sie hatten in den vergangenen Tagen viel miteinander gesprochen, ungeachtet der Tatsache, dass es eigentlich nichts gegeben hatte, worüber sie hätten reden können.
Seldin wusste wovon er sprach. Der Himmel war an diesem Abend früher dunkel geworden als gewöhnlich. Aus Westen zog ein gewaltiger Sturm auf. Einem solchen Sturm aber würden sie nichts entgegenzusetzen haben. Dann war dies also das Ende. Es kam spät, aber letztlich doch unausweichlich.
„Ja“, bestätigte Seldin traurig. „Wir können uns wohl glücklich schätzen, dass es überhaupt begonnen hat.“
Elanid antwortete nicht. Als Seldin sich daher zu ihm umdrehte, sah er in dessen Augen die gleichen Gefühle, die auch ihn beherrschten. Und auch er schwieg.
Der Sturm kam näher und die Stimme ihres Reiches, die sich während ihrer Reise zwar selten, aber doch immer wieder gemeldet hatte, blieb ihrerseits stumm. Vermutlich aus dem einfachen Grund, dass es keine Befehle mehr gab, die sie noch hätte erteilen können. Sie konnten so standhaft sein wie sie wollten, es gab für eine Wolke wie ihre keinen Widerstand gegen einen Sturm.
Der Wind nahm beständig zu und Seldin spürte wie er die Ebenen seines Körpers durchzog und verwirbelte. Seine Organe schmerzten und seine Augen tränten. Und anstatt dass er eine Pause erhalten hätte, um Kräfte zu sammeln, nahmen die unsichtbaren Kräfte zu, die ihn langsam aber sicher betäubten, wie er es nicht anders hatte erwarten können…
Was er nicht erwartet hatte, war, dass seine Sinne zurückkehrten. Benommen nahm er seine Umgebung wahr. Er war Teil einer milchigen Wolkenschicht, die, durchzogen von dichtem Nebel, dicht über der Welt hing. So tief gab es gewöhnlich überhaupt keine Wolken. Und doch – die Stimme hatte es ihn gelehrt – gab es ein einziges Wolkenreich, das der Erde der Welt so nah war: das Wolkenreich von Avalon über der heiligen Insel Avalon auf der Welt!
Voller Staunen sah er sich um und in ihm kam eine nie gefühlte Freude auf, noch schöner als das Gefühl der Hoffnung.
Die Ernüchterung folgte rasch. Dies war nicht Evermore, das Reich des ewigen Friedens. Dies war Avalon und alles, was er hier finden konnte, war eine mächtigere Waffe.
Enttäuscht wartete er auf den Befehl nach dem mächtigsten Stab der Himmel zu suchen. Aber er kam nicht. Was hatte das zu bedeuten? Seldin sah sich die Krieger, die mit ihm zu dieser Wolke gehörten, genauer an. Voller Überraschung stellte er fest, dass sie ihm fremd waren. So ähnlich sich Wolkenkrieger auch waren, diese hier waren ihm nie zuvor begegnet. Keiner von ihnen gehörte zu seiner Wolke. Darüber hinaus befanden sie sich in einem seltsamen Zustand. Keiner von ihnen regte sich. Sie standen bloß da mit geschlossenen Augen und entspannten Körpern. Er versuchte mit ihnen zu sprechen, doch es gab keinen Wind, der seine Worte hätte tragen können.
Seldin fand keine Erklärung für seine Beobachtungen, aber er wurde sich bewusst, dass er letztlich keine Erklärungen brauchte. Er sollte vielmehr die Situation nutzen, von der er sich nie hätte träumen lassen, dass sie eintreten können: er war unabhängig; es war keine Stimme mehr da, die ihn kontrollierte, keine selbstherrliche Stimme, die von reiner Feigheit kontrolliert wurde und Krieger um sich erschuf, weil sie nicht wagte sich den Kriegen der Himmel alleine zu stellen. Erst jetzt wurde ihm richtig klar was für ein erbärmliches Geschöpf dieser Herrscher war. Mit Bedauern dachte er dagegen an Elanid und die anderen. Sie hatte er nicht verlieren wollen. Er würde ihr Andenken in Ehren halten.
Dann aber konzentrierte er sich auf sein Ziel. Aufgeregt bewegte er sich abwärts – der Welt entgegen. Er sah eine einmalige Gelegenheit vor sich. Er konnte in die Welt hinabsteigen und die Wolkenreiche – und sein Schicksal als Wolkenkrieger – für immer hinter sich lassen! Er hoffte nur, dass er Recht hatte und es sich tatsächlich so verhielt.
Es war seltsam sich eigenständig zu bewegen ohne eine feste Wolke um sich zu haben. Aber es funktionierte. Hier in Avalon, wo sich im Nebel Himmel und Erde trafen, war es möglich. Hier wurde seine Seele von ihrem unerträglichen überirdischen Schicksal erlöst und sogar sein Körper gab die Existenz als Wolkenkrieger auf. Erschrocken stellte Seldin fest, dass sein Körper sich veränderte, während er in den Nebeln abwärts sank. Aber der Schock war nur von kurzer Dauer. So wenig er auch begriff, was mit ihm geschah, so sicher war er sich doch, dass es ihm nicht schaden würde. Es war vielmehr als ob eine große Last von ihm abfiele – und das obwohl sein Körper an Größe und Gewicht zunahm je tiefer er gelangte.
Schließlich spürte er tatsächlich eine neue, rein körperliche Last: eine ihm unbekannte Kraft, die ihn nach unten zog, als wollte die Erde ihn schneller zu sich holen. Er verstand diese Kraft nicht und je stärker sie wurde – im gleichen Maße wie sein Körper die Eigenschaften eines Wolkenkriegers abwarf und fester, aber auch behäbiger wurde – desto unheimlicher war sie ihm.
Sein Schweben verwandelte sich in ein Fallen. Er konnte seinen Körper nicht mehr kontrollieren und die reine Todesangst erfüllte ihn von neuem. Dann traf er hart auf dem Boden auf, stöhnte vor Schmerz und schnappte nach Luft.
Er blieb liegen – er wusste nicht wie lange – und langsam wichen die Schmerzen von seinem Körper. Und in dem Maße, in dem sie abnahmen, nahm etwas anderes in ihm zu: das Gefühl ungetrübten Glücks. Das Gefühl, dass er, auch wenn er nicht Evermore gefunden hatte, doch in ein Segensreich gelangt war.
Was für ein Segen es war über die Erde zu gehen, auf ihr zu leben, nahm er in all seiner Faszination nach und nach wahr. Er fühlte die feuchte Erde unter seinen Füßen, roch den Duft der Pflanzen des Waldes und hörte die Gesänge der Tiere – und war glücklich.
Lange wanderte er durch den Wald, ohne dessen müde zu werden. Und er traf auf Wesen, die wie er auf zwei Beinen gingen und er hörte wie sie sprachen, doch verstand er nicht, worüber. Und einige sah er vor Steinen knien und reden, obwohl niemand da war, der ihnen zuhörte. Und er versuchte selbst zu ihnen zu sprechen. Rasch hatte er festgestellt, dass das Reden hier anders funktionierte, auch wenn er eine Weile brauchte um herauszufinden wie genau. Es gelang ihm aber und er machte sich bemerkbar. Der Mensch, der ihn hörte, sah ihn voller Erstaunen an. Er betrachtete jede seiner Körperpartien und schien sich zu fragen, was er für ein Wesen sein mochte, denn obgleich sein Körperbau dem des Menschen ähnelte, sah er doch noch immer anders aus. Seldin ging auf ihn zu, aber in diesem Augenblick wich der Mensch vor ihm zurück. Da meinte Seldin, dass es nicht das Schlechteste sei auf Distanz zu bleiben. Wenn man einander nicht näher kam, konnte man einander auch nicht töten. Und er verstand dies als Weisheit und zog sich wieder in die Wälder und in die Nebel bei den Seen zurück.
Er war glücklich mit diesem Leben, aber letztlich zog es ihn hinaus in die Welt. Vom Himmel hatte er so viele Länder und Wasser gesehen und die wollte er mit den Augen eines Menschen auf Erden sehen. All die vielseitige Faszination, welche die Natur der Erde gegeben hatte, wo sie auf der Ebene der Wolken so fantasielos gewesen war. Und vielleicht fand er dort draußen irgendjemanden, der seine Sprache sprach oder lernen mochte oder ihm die eigene beibringen wollte.
Schon vor einiger Zeit hatte er in einer nebligen Bucht ein Boot entdeckt, das niemand zu nutzen schien. So gelangte er ans Festland und an der felsigen Küste begann er seine Wanderung über das Land. Eine Wanderung, die ihn nicht weit bringen sollte.
Nach wenigen Tagen kam er in eine Gegend, die von Menschen bewohnt wurde. Und hier geriet er mitten in die Wirren eines blutigen Krieges, mitten zwischen zwei Armeen, die aufeinander zustürmten, und das obwohl es geradezu windstill war. Und als er aus einem Wäldchen hervortrat in die Ebene, stand er plötzlich zwischen den Fronten und wurde erschlagen, bevor er recht begriff, was um ihn herum geschah.
Mit keinem Gedanken wäre ihm die Idee gekommen, dass Menschen Kriege führten. Es schien keinen Sinn zu machen. Die Hüter von Avalon mussten keine Kriege führen, warum sollten andere Menschen es tun müssen? War das denn die einzige Sprache, die in allen Welten und Reichen gesprochen wurde? Oder hatte er im Moment seines großen Glücks das Pech gehabt ausgerechnet auf eine Welt zu geraten, auf der es Kriege gab wie in den Wolken? Seldin fand keine Antwort und begriff, dass er nie mehr eine finden würde.
Der Soldat zog sein Schwert aus dem leblosen Körper, ohne zu bemerken, dass er weder gerüstet noch ganz menschlich gewesen war. Mit dem Schlachtruf „Für den König!“ stürmte er weiter – seinem eigenen Ende entgegen.