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Worst-Case-Scenario
Normalerweise gehe ich nicht mit meiner Mutter ins Kino. Und mit normalerweise meine ich, so gut wie nie. Denn in nahezu einhundert Prozent der Fälle tritt jenes Worst-Case-Scenario ein: irgendjemand sieht mich, wie ich neben meiner Mutter an der Theke stehe und eine Apfelschorle entgegennehme. Eine Apfelschorle! Und um jenes Szenario auch noch in nahezu apokalyptische Ausmaße zu katapultieren sind es meistens die Freunde der Freunde eines Kumpels, dessen Bruder im Bio-LK zwei Reihen vor mir sitzt. Und dadurch, dass diese Freunde von Freunden eines Kumpels, mit dessen Bruder ich mal eine Schweineniere seziert habe, so vielen Leuten davon erzählen müssen, bis sie einen gefunden haben, der meint, mich zu kennen, wissen es dann eine ganze Menge Typen, denen es eine nahezu diebische Schadenfreude bereitet, mir mit einem vielsagenden Grinsen auf die Schulter zu tippen. Wenn Blicke mehr als tausend Worte sagen …
Das ist der Grund, warum ich es tunlichst zu vermeiden versuche, mit meiner Mutter einen Abend im Kino zu verbringen. Nun sitze ich aber schon einmal hier im Eingang des Kinos, vor mir auf dem Tisch die Apfelschorle – die Apfelschorle! – und beobachte meine Mutter über den Rand des kostenlosen Kinomagazins hinweg.
»Sagen Sie, wie viel ...? Ach ich seh schon … Ja, dann nehme ich ... Aber nein, warten Sie! Vielleicht sollte ich doch lieber …? Weil schließlich ist das ja ... Aber andererseits sieht das natürlich auch nicht … Nick! Nick!« Ich bemühe mich inständig, mein Interesse in den Bericht über den Scheidungskrieg von Jennifer Aniston plausibel wirken zu lassen. »Nick!« Um nicht noch mehr Aufsehen zu ergattern sehe ich auf. »Hilf mir mal!« Seufzend stemme ich mich aus dem Sessel und greife so beiläufig wie irgend möglich nach dem Becher Apfelschorle. Mehr oder weniger instinktiv verstecke ich ihn unter meinem Anorak. Der Kinomitarbeiter – das Schild an seiner Brust verrät, dass er Murat heißt - begrüßt mich mit einem dankbaren Blick. »Sag mir doch mal, was -«, will meine Mutter sagen, doch das lasse ich gar nicht erst zu.
»Wir nehmen das Sparmenü. Bitte.« Warum ist denn das so schwer?
»Welches Getränk?«, fragt Murat.
»Cola«, sagt meine Mutter. »Geschüttelt, nicht gerührt.« Mein Gott, ich lach mich scheckig dachte ich und verzog keine Mine. Murat rang sich ein schales Lächeln ab. Nach dem Aushändigen der mittleren Cola und einer mittleren Tüte Popcorn – gezuckert, nicht gesalzen – und unserem Verlassen des Standes hatte sich Murat erleichtert über die Stirn gewischt – zumindest war ich mir sehr sicher, dass er das getan hatte.
»Welches Kino?«, fragte ich, nachdem wir das Foyer erreicht hatten. Ich hatte ja keine Ahnung, welche Tragödie folgen würde. Meine Mutter drückte mir zusätzlich zu meiner inzwischen nahezu gänzlich im Anorak verschwundenen Apfelschorle auch noch ihre mittlere Cola und ihre mittlere Tüte Popcorn in die Hand. Kaum hatte ich eine Balance gefunden, die möglichst wenig Vorratsverlust beinhaltete, hatte sie schon die Kinokarten in den Händen. »Und?«, fragte ich, nachdem sie geschlagene dreißig Sekunden stumm auf den kleinen Fetzen bedruckten Papiers gestarrt hatte und mein Gleichgewichtssinn sich langsam aber stetig zu verabschieden drohte.
»Kino AB 16«, sagte sie, als wäre das von vornherein klar gewesen.
»Wie bitte?« Ein Popcorn fiel – einer Warnung gleich – zu Boden, als ich meinen Arm ausstrecken wollte, um ihr die Karten zu entreißen. »Mum, das kann nicht sein«, sagte ich stattdessen.
»Steht aber hier. Kino AB 16.« Sie schien es wirklich ernst zu meinen. Ich linste zu ihr hinüber.
»Mum«, seufzte ich. »AB 16 ist die Altersbeschränkung. Wir müssen in Kino 4.«
»Achso«, erwiderte sie nur und eilte eiskalt an meinem rettend ausgestreckten Arm vorbei. Ich bemühte mich nach Kräften, ihrem forschen Schritt, voll beladen wie ich war, zu folgen, ohne dabei die Hälfte des mühsam erstandenen Popcorns noch vor Beginn der Werbung auf dem Boden zu verteilen. Zumindest hatte meine Mutter aus ihren Fehlern gelernt und fand die richtigen Plätze. Zumindest ging ich stillschweigend davon aus. Wir setzten uns und ich schob meine Apfelschorle unter dem Sitz. Nur damit sie keiner umstößt, versteht sich.
Und dann geschah es: Jeffrey betrat den Kinosaal mitsamt Gefolge. Sein Eintreten wischte meine letzten verbliebenen Illusionen bezüglich eines anonymen Kinoabends mit der Wucht einer atomaren Druckwelle hinfort und ließ sie im Fallout langsam und genüsslich zergehen. Meine Mutter saß neben mir und stopfte selig lächelnd ein Popcorn nach dem anderen in sich hinein, etwa im selben Rhythmus, in dem Jeffrey die Stufen in unsere Richtung erklomm.
Jeffrey hieß eigentlich gar nicht Jeffrey, sondern Thomas. Doch im Alter von zwölf Jahren hatte Thomas kurzerhand beschlossen, dass er seinen Namen scheisse fand und sich von jenem Zeitpunkt an schlicht und einfach Jeffrey genannt. Im Grunde war Jeffrey auch ein Scheissname, doch es hatte sich noch nie jemand getraut, ihm das zu sagen. Einmal davon abgesehen, war Thomas/Jeffrey in meinem Worst-Case-Scenario der Staatsfeind Nr. 1. Um so mehr erschien es mir wie ein Wunder, dass Jeffrey ohne mich zu bemerken an uns vorbeistapfte und sich mit seinen Freunden zwei Reihen hinter uns platzierte. Wahrscheinlich, dachte ich, hätte er mich auch nicht einmal erkannt, wenn er direkt in meine Richtung geschaut hätte. So tief, wie ich mich in der Sitzfalte verkrochen hatte.
Aus eben jener kam ich auch solange nicht hervor, bis der Projektor anlief und die Werbung begann. Sobald das Licht gedämpft war, versuchte ich, meinen völlig verkrampften Rücken möglichst unauffällig etwas zu entspannen. Es gelang mir auch tatsächlich, in eine kompromissfähige Lage zu gelangen, die sowohl einen möglichst geringen Entdeckungsfaktor beinhaltete, als auch eine relative Entspannung für meine geschundene Wirbelsäule darstellte. Zufrieden mit meinem äußerst professionellem Handling des Worst-Case-Scenarios dachte ich mir, was denn jetzt eigentlich noch schief gehen konnte?
Das Geräusch, welches exakt sieben Sekunden später erklang, zerriss mein Trommelfeld als wäre der Vesuv zwei Meter neben mir ausgebrochen. Die glühende Lava der Erkenntnis ergoss sich über mich und dieses Mal waren keine Illusionen da, die sich schützend vor mich stellten. Dieses Mal traf die Zerstörung auf mein pures, abgestandenes Ich, in dessen Schatten sich mein Ego im Todeskampf krümmte. Was geschah, war ebenso banal wie tödlich: das Handy meiner Mutter klingelte!
Blitzschnell und gänzlich ungeachtet meines schmerzenden Rückens verschwand ich wieder in der Stuhlfalte. Doch es half nichts. Wütende Blicke funkelten in unsere Richtung, gemurmelte Wortfetzen drangen an mein Ohr und empörte Köpfe schnellten herum. Noch viel viel schlimmer als all das war jedoch, dass meine Mutter mit der Präzision und Gelassenheit einer Profikillerin, die den Abzug durchzieht, auf den grünen Knopf an ihrem Handy drückte.
»Ja?«
»Barbara? Hier ist Bernadette. Würdest du vielleicht mal die Tür öffnen?! Ich stehe seit einer halben Stunde davor und klingle mir die Seele aus dem Leib.«
Vermutlich wegen der widrigen äußeren Umstände schien meine Mutter etwas konfus. »Wo bist du denn überhaupt?«, fragte sie.
»Ich stehe vor deiner Tür«, wiederholte Bernadette geduldig. »Aber wo bist du überhaupt? Was ist das -?«
Den Rest des Gespräches bekam ich nicht mehr mit, da ich aus dem Stuhl schnellte, meine Apfelschorle griff und aus dem Kinosaal hastete. Im Foyer angekommen, lehnte ich mich gegen einen Mülleimer und atmete tief durch. Als ich die Apfelschorle an den Mund führte, zitterte meine Hand etwas, was vermutlich eine Nachwirkung des schmerzlichen Verlustes meines Egos war, welches sich irgendwo zwischen Reihe E und G verabschiedet hatte, als mich eine Hand voll Popcorn gefolgt von einem Schwall aus Beschimpfungen getroffen hatte. Nun stand ich hier, als jämmerliches Abbild meiner Selbst, die Sekunden zählend und darauf wartend, dass irgendetwas geschah, was mich aufweckte. Und es geschah tatsächlich etwas.
Von einem Augenblick auf den Anderen schien sich die Zeit zu verlangsamen. Es war wie in einem dieser Filme, wo der Bösewicht sich dem finalen Duell stellt, es sich in weiser Voraussicht seines nahenden Endes aber selbstverständlich nicht nehmen lässt, einen kolossal coolen Auftritt hinzulegen. Aus dem Dunkel des Saals materialisierte sich eine Kontur, die beinahe genüsslich langsam einen Fuß vor den anderen setzte. Um die Knöchel wehte zu Boden gesunkener Zigarettenrauch und unter dem Schuh zerbröselte ein einzelnes Popcorn, als der Schatten langsam ins Licht trat.
Der Becher Apfelschorle fiel lautstark zu Boden und ich bückte mich schnell, um ihn augenblicklich im Mülleimer hinter mir verschwinden zu lassen. Jeffrey ging aufreizend langsam an mir vorbei und warf mir ein Grinsen ins Gesicht, welches mich noch mein Leben lang in meinen Alpträumen verfolgen wird. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mir irgendwann einmal wünschen würde, ein Becher Apfelschorle zu sein …