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Wunden lecken
Seit zwölf Jahren und dreiundvierzig Nächten schreibe ich kurze Geschichten. Es war die Nacht des Geburtstages meines Vaters. Am Schreibtisch hielt ich fest, was mir wichtig erschien: wie die Freunde meiner Eltern miteinander gesprochen hatten, welche Gebärden und Gesten sie dabei machten, wie ich mir zwischen ihnen vorkam, was wir im Glas und auf dem Teller hatten, um welche Themen es ging und wie das Ausdruck einer speziellen Art von Bürgerlichkeit war. Seitdem helfen mir die Geschichten, über wichtige Dinge nachzudenken. Ich unterhalte mich mit mir selbst und hinterher liest es sich jemand durch und sagt etwas dazu. Aber das ist viel unwichtiger als das Selbstgespräch. Das Selbstgespräch ist alles. Nur nehme ich mir dafür kaum noch Zeit und eigentlich geht es mir auch viel zu gut, ich könnte es einfach für immer sein lassen, mich nur noch mit anderen Menschen unterhalten.
Stattdessen spiele ich am Laptop. Gerne fünfzehn Stunden am Stück, wenn ich Zeit habe. Nicht, dass ich es nötig hätte; es macht nur einfach Spaß zu vergessen, dass man schon über dreißig ist, sich unterm T-Shirt ein Bauch abzeichnet, gegen den man arbeitet, die Kinderstube noch leer, das Geld mittlerweile da ist – man eigentlich Besseres zu tun hätte, als sich der Illusion hinzugeben, nach dem Tod das Spiel einfach neu laden zu können. Und trotzdem schmeckt sie süß.
Die Bestandsaufnahme zeigt, es geht mir gut: Lehrer bin ich, in einer glücklichen Beziehung, habe eine Wohnung, habe zu essen. Andere Menschen halten viel von mir, niemand hasst mich, ich bekomme ihre Komplimente. Sie wollen Freundschaft, ein gesegnetes Miteinander, Zuarbeit, Unterstützung, Rat, Beistand, Trost, Gesellschaft – an Materiellem fehlt es ihnen nicht. Ich bin kein Zyniker, ich meine das ernst. Mein Leben ist so unfassbar glücklich, dass es mich langweilt.
Die eine Stimme sagt: „Spiele fünfzehn Stunden am Stück, lecke jeden Tropfen Endorphin, bevor die Langeweile wieder kickt.“ Die andere Stimme: „Du hast lang nichts mehr geschrieben. Vergeude deine Zeit nicht.“ Bin ich dann entzügig, fühle ich mich müde und leer. Nach ein, zwei Tagen ist es besser. Tut es mir leid um die verlorene Zeit, begebe ich mich auf die Suche nach ihr.
Also laufe ich zum Nachdenken zum Friedhof, um zu finden, was immer ich suche. Dort übers Grab beugt sich eine Frau, die ist vielleicht Mitte zwanzig. Ich setzte mich an einen der Brunnen, beobachte sie. Ihre Arme sind mit Muttermalen übersät. Ihre Finger geschwollen, auch das Gesicht, Schuppenflechte, so etwas. Sie trägt ein Stirnband. Vielleicht selbstgemacht. Ohne sie zu kennen, gebe ich ihr den Namen Magda und überlege, was sie hier wohl treibt, wessen Grab sie da wohl pflegt. In meiner Fantasie hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die überwucherten Grabstellen fremder Leute zu betreuen. Nicht wenig Zeit verbringt sie hier. Eines Tages fing sie plötzlich damit an: Unkraut jäten, neue Pflanzen setzen, den Grabstein von Moos befreien. Zu ihrer Verwunderung sprach niemand sie je darauf an, schien niemand sich daran zu stören, sich überhaupt dafür zu interessieren. Das Pflegen fremder Geister – so nennt sie es – wurde ihre Aufgabe. Ich nehme mir vor, später mehr über Magda nachzudenken, gehe weiter.
Am Ehrenmal der sowjetischen Kriegsgräberstätte steht ein Mann namens Uwe. Er ist vielleicht sechsundsechzig, so alt wie mein Vater. Er ist nur zufällig hier, war gerade in der Gegend, kannte den Friedhof vom Hörensagen. Folgendes gibt es über ihn zu erzählen: er hat eine Dauerkarte fürs Schwimmbad. Jeden Tag geht er dort hin, benutzt seit Jahren das gleiche Duschgel, das er für aktuell neunundsiebzig Cent beim Discounter kauft. Er bleibt in Form, lebt genügsam – außer wenn es um seine Kinder geht; denen gönnt er alles. Mit Anfang zwanzig studierte er in Berlin Publizistik, arbeitet seitdem als Journalist. Einen besseren Job gibt es für ihn nicht – so stillt er seinen Durst nach Wissen und Bildung und verdient sein täglich Brot. Vor Jahren hatte er Krebs, stellte sein Leben um, spritzt sich jeden Morgen vor dem Badezimmerspiegel Distelextrakt in den Bauch; das hat ihm ein Homöopath geraten. Weil es nicht schlimmer wurde, wirkte das Mittel scheinbar. Daran glaubt Uwe zwar nicht, aber das Ritual möchte er nicht aufgeben, wenngleich es ihn jeden Morgen ein wenig pikst. Ich nehme mir vor, später mehr über Uwe nachzudenken, gehe weiter.
Am Blumenwagen vor der Friedhofsfloristik entdecke ich Sabine. Sie ist etwa so alt wie Uwe, dreiundsechzig vielleicht, ihre Haare sind grau, nicht weiß. Sie wollte eigentlich nur schnell Erde kaufen für den Garten. Sie kennt die Betreiber. Ihr früher Renteneintritt überfordert sie nicht, sie hat schon immer gerne Zeit im Garten verbracht. Kein unendlicher Spaß, viel mehr Ausdruck ihrer Disziplin und kämpferischen Haltung angesichts des urwüchsigen, letztlich gleichgültigen Prinzips, das sie allen lebenden Dingen unterstellt. Neben der Gärtnerei gibt es für Sabine nur eine Sache, die sich richtig anfühlt: Unterwegssein. Das lässt sich schlecht mit ihren gärtnerischen Pflichten vereinbaren; doch manchmal würde sie am liebsten ins Auto steigen, einfach wegfahren, vielleicht für immer. Wenn nur Freunde und Familie nicht wären – der Garten, den sie pflegt und an dessen Wurzelwerk sie mehr hängt, als sie sich eingestehen möchte. Ich nehme mir vor, später mehr über Sabine nachzudenken, kehre zu Magda zurück.
Sie trinkt Limonade, sitzt an den Grabstein gelehnt. Ein Jahr ist es her, seit sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Paradoxerweise erinnert gerade der Friedhof sie nie daran. So kann sie weiter verdrängen, weshalb sie eigentlich hier ist, kann weiter so tun, als wäre es nur ein lustiger Einfall, sich um die Gräber fremder Leute zu kümmern. Ohne viel darüber nachzudenken, hat sie angefangen, eine neue Grabstelle anzulegen. Alles hat sie minutiös geplant. Nur nicht, wer sich um die Pflege kümmern wird. Ich nehme mir vor, nicht weiter über Magda nachzudenken, kehre zu Uwe zurück.
Der liest sich die Namen sowjetischer Kriegsopfer durch, denkt an andere Dinge. An die Angebote im Supermarkt, an seine Tochter und den Adoptivsohn, der ihn verehrt, und an die alten Freunde, die sich zu selten melden, immer eine Ausrede auf den Lippen. Dass manche von seiner strengen Art eingeschüchtert seien, hat seine Tochter gesagt; darüber grübelt er. Ich stelle mir folgende Situation vor: Magda und Uwe treffen sich. Magda überreicht ihm ein teures Duschgel mit den Worten: „Sie sind es sich wert.“
Uwe: „Ist das ein Werbeslogan?“
Magda: „Ich glaube, ja.“
Ich nehme mir vor, nicht weiter über Uwe nachzudenken, kehre zu Sabine zurück.
Sabine ist weg. Warum auch sollte sie den ganzen Nachmittag auf ihre Erde warten? Wahrscheinlich ist sie schon wieder im Garten. Jedenfalls denkt sie an ihre Tochter, mit der sie sich vor einem halben Jahr, drei Wochen und vier Tagen an ihrem Geburtstag zerstritten hat. Dass sie AFD wählen werde, hatte Marie gesagt, und dass sie und ihr Mann heiraten und sie nach Paunsdorf ziehen wollten. „Gut“, hatte Sabine quittiert, und bereits das hatte genügt, um einen Funken in das Pulverfass zwischen ihnen zu treiben. Marie war nicht mehr ans Telefon gegangen und zwei Wochen später bekam Sabine einen Brief, in dem Marie sich von ihr lossagte. Während Sabine Zucker in ihren Sechzehnuhrkaffee rührt – die frische Erde im Erdbeerbeet – überdenkt sie das Prinzip der Urwüchsig- und Gleichgültigkeit der Dinge. Vielleicht, so kommt es ihr nun vor, ist das Leben doch viel mehr von einem Gesetz der Progression, des Nachvornstrebens bestimmt. Ich nehme mir vor, nicht weiter über Sabine oder Magda oder Uwe nachzudenken, kehre nach Hause zurück.
Jetzt, da ich sie aufgeschrieben habe, kommen mir diese drei Porträts völlig wahllos vor. Vielleicht hätte ich doch lieber am Laptop spielen sollen, den Saft aus Schweiß und Endorphinen verkosten, bis das Verlangen nach Schlaf eintritt. Dieser Eindruck lässt mich an Selbstbestimmtheit und Sinn meines Schaffens zweifeln. Das Gerüst, das ich mir um die Spielsucht herum aufgebaut habe, würden andere als mein Leben bezeichnen. Gibt es denn außerdem kein Körnchen Wahrheit in mir?