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Wurzeln
Sie ist Montagabend im Briefkasten, versteckt zwischen Werbeprospekten und der Telefonrechnung. Auf ihr abgebildet ein roter Oldtimer im grauen Wald, „Wer vorwärts kommen will, muss sich bewegen!“ Bewegung. Ich starre die Postkarte an, während ich den Hausflur betrete, die Stufen hinauf steige. Wozu eigentlich?
Wer vorwärts kommen will, muss sich bewegen. Heute im Büro, Elsa saß vor mir auf der Schreibtischkante, redete auf mich ein: „Man muss auch mal loslassen können. Das neue Projekt ist doch spannend, überleg mal, ein Landschaftspark.“ Und jetzt diese Postkarte. Elsa wanderte hin und her zwischen mir und dem Fenster, sagte Dinge wie „Konservativismus hilft uns jetzt nicht weiter“ und „Du müsstest keine Zukunftsangst mehr haben“. Was weiß sie von meinen Ängsten, diese Frau, mit der ich in all den Jahren nicht ein wirkliches Gespräch geführt habe. Vor der Zukunft habe ich nie jemals Angst gehabt. Ich gehe ins Wohnzimmer, lasse mich auf die Couch fallen und drehe die Postkarte in meinen Händen.
Sie ist von Lukas, aus Berlin. Lukas, der Exzentriker. Lukas, der Unruhige. Lukas, mein Freund. Er ist gegangen, letzten Sommer, letztendlich auch er. Er verließ Heidelberg, er verließ mich, um in Berlin einen Bioladen aufzumachen. Lukas. In permanenter Veränderung begriffen. Schwarze Haare, die in alle Richtungen stehen, mit Gel zu Kakteenstacheln geformt. Eine große, schwarze Horn-Brille, die ihm ständig von der Nase rutscht. Mit Lukas lernte ich Whiskey trinken und Auto fahren, vor vielen Jahren. Bewegung. Funktioniert sie nicht nur, wenn man von Wurzeln gehalten wird? Lukas hat seine ausgegraben und in Berlin wieder eingepflanzt. Eine meiner Wurzeln ist nun in Berlin.
Ich wähle Lukas´ Nummer in Berlin, versuche es dann auf seinem Handy, „Lukas ist unterwegs, schickt ihm eine Nachricht in die Zukunft.“ Unterwegs. Wo ist das Geländer, an dem ich mich festklammern kann, damit ich nicht mitgerissen werde vom Strom der Menschen, die unterwegs sind?
Dienstag schleppe ich mich durch die Teamsitzung für den Landschaftspark mit dem Regionalverband, Präsentationen, Pläne, Kalkulationen. „Sind Sie mobil?“, fragt mich ein Mann im Anzug, kaum älter als ich. „Sie könnten das Projekt in den nächsten Monaten doch auch vor Ort betreuen?“. Nein, bin ich nicht, ich bin nicht beweglich, ich bin kein Schrank, kein Tisch, kein Stuhl. Nein, ich möchte nicht verpflanzt werden, auch nicht temporär, danke nein. „Wurzeln?“, sagt der Mann, er scheint auf etwas zu reagieren, was ich gesagt habe. „Netze, auf Netze kommt es an.“
Abends dann, nach dem Yogakurs, in dem die anderen Gesichter mir fremd sind, öffne ich den Briefkasten, sie fällt mir entgegen. Bunte Wäschestücke auf einer Leine, sie flattern im Wind, der Text: „Wir sind umgezogen.“ Vor dem „m“ ein durchgestrichenes „n“, meine Schwester Pia war schon immer ein Clown. Umgezogen, zum wievielten Mal in den letzten Jahren? Zum dritten, zum vierten? Ich habe mich immer schon gefragt, ob sie sucht oder flüchtet. Nun also Barcelona, malen, ausstellen, fotografieren in Barcelona. „Wir sind umgezogen“, wer ist eigentlich der zweite Teil des Plurals? Pia, kleine Schwester, mir immer einen Schritt voraus, schneller, bereits im Kindergarten. Ihre Haare erst blond, dann rot, dann schwarz, mal kurz, mal lang, mal abrasiert. Pia, kleine Schwester, rastlos, ungezogen, umgezogen. Eine meiner Wurzeln ist nun in Barcelona. „Komm“, schreibt sie, „Komm her, und lass dir etwas frischen Wind um die Nase wehen.“
Mittwoch nervt mich Elsa wegen des Landschaftsparks, „Das erweitert deinen Horizont und stärkt unser Netzwerk jenseits der Region.“ Netze, schon wieder Netze. Je weiter sie gespannt werden, desto dünner die Fäden, desto größer die Löcher. „Eine weitere Stufe auf dem Weg, eine anerkannte Architektin zu werden, glaub mir. Du bist doch noch jung, du hast doch noch Potenzial.“ Elsas Stimme dröhnt in meinem Kopf. Spinne, ich bin eine Spinne, meine Netze werden dünner, wann reißen sie? „Was ist, wenn ich nein sage?“, frage ich Elsa.
Die Briefkästen meiner Nachbarn quellen über, sie scheinen seit Tagen nicht mehr Zuhause gewesen zu sein. Bin ich spießig, weil ich meinen täglich lehre? Eine Postkarte liegt zwischen der Wochenzeitung und dem Gemeindebrief, die dritte diese Woche. Sie ist von meiner ehemaligen Arbeitskollegin Anja. Ich frage mich, ob meine E-Mailadresse nicht mehr funktioniert oder die der anderen.
„Ich hab meinem Leben eine neue Richtung gegeben“, schreibt sie. Ich weiß nicht, was an der bisherigen falsch war. Anja. Warum gehen die Menschen, wenn es ihnen zu dunkel wird? Warum suchen sie nicht nach dem Lichtschalter? „Komm mich doch mal besuchen, dann gehen wir zum Italiener bei mir um die Ecke, so wie früher“. Ständig muss ich die Leine wieder nach euch auswerfen, kann euch nicht mehr nach der Arbeit bei „Da Rosario“ treffen, samstagabends unangemeldet mit einer Flasche Wein hereinschneien. Für eine Pizza nach München, einen Whiskey nach Berlin, eine Ausstellung nach Barcelona. Lukas Stimme ist auf meinem Anrufbeantworter, unsere übliche Art der Kommunikation.
Ich gehe an die frische Luft, jogge ein paar Meter am Neckar entlang, überquere die Alte Brücke, laufe meinen Erinnerungen hinterher und stehe plötzlich vorm „Da Rosario“. Irgendjemanden habe ich hier abends immer getroffen, früher. Eine Pizza Pirandello, ein Viertel Valpolicella, Espresso, einige Partien Backgammon, mit Lukas, mit Anja, den Frauen aus dem Yogakurs. Die Tür steht wie immer offen, Rosario ruft mir ein „Ciao carissima“ zu. Zögerlich betrete ich das Lokal. An der Theke sehe ich Tom sitzen, vor ihm ein leeres Bierglas. Tom, der jetzt an Anjas Platz im Büro sitzt. Hab ich je mehr als nur drei Sätze mit ihm gewechselt? Der Backgammonkoffer liegt immer noch in derselben Ecke. Tom wendet seinen Kopf und sieht mich irritiert an. Lukas Gesicht schiebt sich vor seins, verschwindet wieder. Ich schnappe mir das Backgammonspiel und nähere mich Tom. „Lust auf eine Partie?“. Ein Versuch ist es wert.