Xartuga
Wie jeden Morgen kämpfte sich Meliv durch den stetig stark wehenden Wind zur Arbeit. Heute war er früher auf dem Weg, da ihn die allgegenwärtigen überschwänglichen Berichte zum 10 jährigen Bestehen der Siedlung nervten und er daher seine Wohnung fluchtartig verlassen hatte. Die Siedlung selbst bestand aus der Fabrik, in der Meliv nun seit der Gründung arbeitete, den Wohnhäusern für die Arbeiter und ein paar kleinen Geschäften. Die Wohnbereiche waren ungefähr kreisförmig um die Fabrik angeordnet und von einer mit großen Bäumen gesäumten Ringstrasse durchzogen.
Während er weiter gegen den Sturm anging, dachte er darüber nach, wieso die Berichterstattung so euphorisch ausfiel, wo doch niemand in Xartuga wusste, wie die Siedlung überhaupt entstanden war. Es herrschte so etwas wie ein kollektiver Gedächtnisschwund was die Zeit vor der Gründung betraf. Die bei den Bewohnern bevorzugte Version beruhte aber auf der Entsendung einer Gruppe von Menschen von der damals bald nicht mehr bewohnbaren Erde.
Meliv hoffte, dass er vor seiner kräftezehrenden und langweiligen Arbeit noch einen Kaffee mit seinen Kollegen trinken konnte. Immerhin war er heute wirklich früh dran.
Meliv erreicht das Tor zum Werksgelände, grüsste den alten Pförtner, der den Gruß wie immer stoisch erwiderte und folgte dem ausgetretenen Pfad zur Werkshalle. Der Mond leuchtete fahl in der Dämmerung über dem Bürogebäude der Firma und erhellte die Umgebung mit einem kalten, weißen Licht. Die Sonne würde erst nach Arbeitsbeginn aufgehen und die kalte Atmosphäre mit ihrem gelben Licht erwärmen. Bis dahin gab es noch viel zu tun, und Meliv dachte mit Schaudern daran.
Als er die Eingangstür der Werkshalle erreichte, hob er seine Zugangskarte an den Leser, wartete das bestätigende Summen ab und betrat die große, ungewöhnlich stille Halle. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das um diese Zeit noch herrschende diffuse Licht. Die Maschinen lungerten wie dunkelgraue unbeweglich wartende Monster im Zwielicht. Ein leises Brummen der Generatoren war das einzige Geräusch, das Meliv momentan an die Ohren drang.
In einigen Minuten würden die riesigen Arbeitslampen entzündet, die wie vier idiotisch glotzende Augen aus jeder Gebäudeecke auf den Hallenboden herabblickten. Gleichzeitig mit dem Licht der Lampen würde der Raum auch von dem Lärm der enormen Maschinen durchflutet werden. Während des Tages wurden hier Metallteile gewalzt, gestanzt und zusammengeschweißt, die bei Experimenten im Nachbargebäude verwendet wurden.
Von Melivs Arbeitkollegen wusste keiner, welchen Zweck diese Experimente verfolgten.
Viele Gerüchte drehten sich um seltsame Kreaturen, von denen noch niemals eine gestorben war oder andere verworrene Verschwörungstheorien. Aber zu allen Behauptungen gab es nicht einen einzigen Beweis.
In einer Ecke der Halle hatte man eine Kaffee-Ecke eingerichtet, in der sich die Arbeiter vor Schichtbeginn mit schlafverkrusteten Augen trafen. Heute war er der erste und nicht einmal Shany, mit dem er abends nach der Arbeit noch oft eine Partie Shonkratou spielte, war schon da. Der Automat, den die Firma den Arbeitern zur Verfügung stellte, sprotzte und spuckte als er einen Becher mit bitterem, lauwarmem Kaffe füllte. Meliv setzte sich an einen der vier schon reichlich mitgenommenen Tische und starrte gedankenverloren in die Brühe, aus der ein Geruch aufstieg, der nicht einmal versuchte, ein wohlschmeckendes Getränk vorzutäuschen. Seine Gedanken wanderten zu den Kreaturen, dem Entstehen der Siedlung und weiteren Ungereimtheiten, die ihn seit vielen Monaten beschäftigten.
Seit jeher hatten sich alle Bewohner der Siedlung reserviert gegenüber einander verhalten, doch Shany und er hatten mit der Zeit ein sehr gutes Verhältnis zueinander aufgebaut. Und die meiste Zeit verbrachten Sie damit, Theorien zu entwickeln, wie alles begonnen hatte und diese ebenso schnell wieder zu verwerfen. Wie gerne hätte er heute mit Shany wieder ein paar davon besprochen.
Zehn Minuten später schreckte er aus dem Halbschlaf, in den er verfallen war. Immer noch war niemand seiner Kollegen aufgetaucht, obwohl es nur noch fünf Minuten bis zum Schichtbeginn waren. Meliv hievte sich von dem Stuhl, der nicht besser aussah als die Tische, und ging langsam durch die Halle wieder zur Eingangstür.
Lichter flammten auf, Kurbelwellen begannen zu drehen und die Halle wurde von einem Krach erfüllt, der jenseits der Vorstellungskraft lag. Meliv sprang vor Schreck fast in die Höhe. Die Zeit war unheimlich schnell vergangen, er hatte das Gefühl gerade erst seinen kaum angerührten Kaffee verlassen zu haben. Noch immer war er der einzige Mensch in der riesigen Halle, nur in einer Ecke raschelten ein paar Ratten unter den Maschinen.
‚Verflucht, wo bleiben denn die anderen?’, dachte er.
Eine grüne Stahlpresse warf ein Metallschild nach dem anderen auf einen kleinen Haufen, der schnell anwuchs, da niemand die fertigen Schilde fortnahm. Andere Maschinen gaben seltsam ungesunde Töne von sich, während ihre Greif- und Schweißarme im Leeren rotierten. Halbfertige Zwischenprodukte wurden von Förderbänder zu anderen Bereichen der Halle transportiert, wo sie scheppernd auf den Betonboden fielen. Nachdem der Haufen vor der Presse zu einem Berg angewachsen war, verklemmte sich eines der Schilde beim Auswerfen und die riesige Maschine blieb mit einem ohrenbetäubenden Kreischen stehen und dampfte, als würde sie atmen.
Die anderen metallenen Kolosse in der Halle taten es einer nach dem anderen der Presse gleich und blieben rumpelnd und kreischend stehen, nachdem Meliv den Notaus-Schalter betätigt hatte, unterließen jedoch das dampfen.
Langsam kehrte Ruhe in der geräumigen Kuppel ein, die vom leisen Knacken der abkühlenden Motoren unterbrochen wurde. Meliv hatte nie verstanden, wieso die Fabrikmaschinen zeitgesteuert gestartet wurden, wenn kein Arbeitsschritt komplett automatisiert ablaufen konnte. Bisher waren aber jeden Morgen immer alle pünktlich zur Stelle gewesen, so dass er diese Frage immer wieder verdrängt hatte. Bis heute.
Kalter Schweiß breitete sich auf seinem Körper aus und er begann leicht zu zittern. Niemals zuvor waren die anderen nicht zur Arbeit erschienen. Er schaute sich unsicher um, aber bis auf die fehlenden Kollegen war alles wie immer.
Nachdem er sich vergewissert hatte, das die Stahlpresse mit dem Dampfen aufgehört hatte und nicht in Flammen aufgehen würde, bewegte er sich langsam auf das Büro des Vorarbeiters zu, dass als schmuckloser Kasten im oberen Bereich der Halle installiert war. Die längere Wand des Kastens war ein großes Fenster, das eine beeindruckende Panoramasicht über die mit Maschinen vollgestopfte Halle bot.
Das Knacken der Maschinen hörte auf und die Stille, die danach entstand, lag drückend in der nach verbranntem Gummi riechenden Luft. Meliv sah den Vorarbeiter sofort. Seine Gestalt lag in der Mitte des Raumes und wurde von dem Lichtschein, der durch die offene Tür fiel, beschienen. Meliv schlich fast in den zweckmäßig eingerichteten Raum, der außer einem Schreibtisch und einem gedrungenen Stuhl nur einen halbleeren Aktenschrank enthielt und warf vorsichtig einen genaueren Blick auf die sterblichen Überreste seines Vorarbeiters. Der Körper war irgendwie verändert, er sah nicht aus, als würde er einfach einen Rausch ausschlafen. Die Umrisse der Leiche glichen eher einem aufgeblasenen Plastiksack mit undichtem Ventil und die Falten warfen scharfe Schatten über das zerknitterte Gesicht der Leiche.
Meliv fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Hastig verließ er das Büro, wobei er tastend zur Tür zurückwich, ohne den grotesken Leichnam aus den Augen zu lassen. Meliv brauchte nur Sekunden um die Fabrikhalle zu verlassen. Schwer atmend lehnte er sich von außen an das Hallentor und versuchte sich zu beruhigen. Sein Herz schlug unruhig und seine Gedanken überschlugen sich.
Die kalte Luft vor der Halle tat gut und kurze Zeit später hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Er würde die Vorfälle den Vorgesetzten im Pilz melden. Niemals zuvor war er im Hauptgebäude der Firma gewesen, das alle Angestellten untereinander aufgrund der neumodischen Form so bezeichneten. Offiziell hieß das Gebäude einfach HG1. Auf dem Weg zum Bürogebäude begegnete er Shany, besser gesagt, dem was von ihm übergeblieben war. Die Gestalt seines ehemaligen Kollegen ähnelte verblüffend den Überresten des Vorarbeiters.
Meliv musste gegen seinen Willen würgen. Er kniete sich nieder und strich Shany sanft über die Wange. Die Haut von Shany fühlte sich wie altes Pergament an und klang auch so, wenn man zu viel Druck ausübte. Meliv kämpfte gegen seine Tränen an, stand auf und setze seinen Weg in Richtung des vollverglasten Hauptquartiers fort.
Die elektronisch gesicherten Türen des Pilzes waren weit geöffnet, die Kartenleser, die normalerweise den Zugang zu den Abteilungen kontrollierten, blinkten sinnlos vor sich hin. Im Eingangsbereich lagen die beiden Portiers hinter ihren Schaltern auf den Stühlen zusammengesackt.
Wahllos öffnete Meliv in den Gängen des Gebäudes Türen, aber in jedem Büro bot sich ihm das gleiche Bild. Körper, die beim Ausziehen des akkurat gebügelten Mantels, beim Kaffeekochen oder einfach über den auf Hochglanz polierten Schreibtischen zusammengefallen waren. Nirgends rührte sich etwas. Meliv rieb sich die Schläfen, die langsam mit einem schmerzhaften Pochen auf sich aufmerksam machten.
Da fiel ihm der grimmige Pförtner ein, den er beim Betreten des Firmengeländes gegrüßt hatte. Er verließ die leeren, hallenden Korridore des Hauptgebäudes und folgte dem Pfad zwischen den Betriebshallen zum Haupttor. Schon von weitem sah er, dass das Pförtnerhäuschen verlassen war. Trotzdem ging er bis zur Scheibe, die die Besucher vom Inneren der Pförtnerloge trennte und warf einen Blick ins Innere. Unter dem grauen Tisch mit der Gegensprechanlage lag der Pförtner wie ein zusammengeknüllter Luftballon.
Wenigstens konnte Meliv jetzt ungefähr den Zeitpunkt der Katastrophe ermitteln. Irgendwann nachdem er das Gelände betreten hatte, war diese Katastrophe ausgelöst worden. Bisher konnte er sich aber nicht einmal vorstellen, welches Ereignis diese leeren Hüllen hinterlassen hatte und wieso er davon verschont geblieben war.
Die Häuser der ca. 1500 Einwohner lagen still in der aufgehenden Sonne. Auf den verlassenen Strassen lagen verstreut Gestalten, in den Vorgärten und vor der Schule fand er auch die jüngeren Bewohner der Siedlung. Autos standen auf den Strassen und tuckerten vor sich hin, in einem der Geschäfte lag die Kassiererin neben einer Kundin auf der Registrierkasse. Alle Leichen hinterließen den Eindruck einer achtlos hingeworfenen Plastiktüte. Das Wort 'Leichensäcke' ging Meliv durch den Kopf und er kicherte halb verrückt.
Ohne Ziel irrte Meliv durch die Siedlung. Die ganze Zeit über fragte er sich, was passiert war, wieso gerade er überlebt hatte. Plötzlich hörte er ein leises Geräusch, das vom Wind über das Werksgelände getragen wurde. In Halle 19, in der auch das Labor der Firma untergebracht war, ertönte in regelmäßigen Abständen ein Alarm. Langsam ging er darauf zu. Die Hochsicherheitstüren des Labors standen offen und in der leeren Halle verkündete ein leuchtendes Schild, dass die geschlossene Tür in der rechten Wand zu den Ruhekammern führte. Der Alarm piepte und summte durch diese Tür und wurde von den kahlen Wänden verstärkt zurückgeworfen.
Meliv hatte noch nie mit Mitarbeitern von diesem Teil des Betriebs gesprochen und konnte sich auch keinen Reim auf die Beschilderung machen. Die Tür zu den Ruhekammern klemmte und Meliv stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Seine Schulter knackte bei jedem neuen Versuch, aber dann öffnete sich die Tür knarrend. Der Alarm war nun ohrenbetäubend laut.
In dem schlauchförmigen Raum lagerten in extra dafür entwickelten Regalen zylinderförmige Behälter neben- und übereinander. Die gesamten Raumseiten wurden von Regalen bedeckt und armdicke Kabel schlängelten sich zu einer Steuerzentrale in der Mitte des Raumes. Die Zylinder waren von Raureif bedeckt und schimmerten leicht gelblich. Durch die beschlagenen Milchglasscheiben auf der Frontseite konnte Meliv die Umrisse von langsam pulsierenden Körpern erkennen.
„Ist hier jemand?“. Seine Frage verhallte unbeantwortet zwischen den Regalen.
Auf dem Steuerpult vor den Regalen blinkte ein blauer Knopf mit der Aufschrift "Phase 2". Meliv zögerte einen Augenblick, doch dann gewann die Neugier die Oberhand und er drückte den Knopf fast gewaltsam in die Konsole. Ein leises Zischen ertönte und die Kammern begannen sich zu drehen. Von links nach rechts rasteten die Zylinder mit der Milchglasscheibe nach unten ein. Das Fußende der Zylinder öffnete sich, eine Liege schob sich an der Längsachse jedes Zylinders aus und weiße, an unförmige Klumpen erinnernde Kreaturen begannen sich aus den Trommeln zu erheben. Mit einem Schrei sprang Meliv zurück und versuchte zur Tür zu gelangen. Vor Panik fast blind, stolperte Meliv und als er sich wieder erhob, war der Weg dorthin schon von weißen Körpern versperrt, die ebenfalls zur Tür drängten.
Angstvoll und fasziniert zugleich beobachtete Meliv wie ein Teppich aus weißen Kreaturen die Regale herabfloss und sich am Boden des Raums ausbreitete. Er wollte fliehen, rennen, aber seine Beine versagten den Dienst und so schaute er wie gelähmt dem Wogen der Körper zu. Die ersten Klumpen hatten bereits die Tür durchschritten, die Meliv nicht geschlossen hatte und verließen von schmatzenden Geräuschen begleitet den Raum.
Kurze Zeit später stand Meliv alleine in der eisigen Kälte, die von den Ruhekammern ausstrahlte. Alle Kreaturen bis auf eine hatten den Raum verlassen. Die Kapsel, in der die unbewegliche Kreatur verblieben war, blinkte leuchtend rot, als wollte sie ihn warnen. Der Alarm war verstummt, nur die noch belegte Kapsel piepste vor sich hin. Zögernd näherte sich Meliv dem verbliebenen Korpus. Die weiße Masse bewegte sich nicht und in der Milchglasscheibe der Kapsel erkannte er einen Sprung, vergleichbar einem Steinschaden an der Windschutzscheibe eines Autos.
Ein Geräusch an der Labortür ließ ihn herumwirbeln. Eine Kreatur betrat den Raum und hielt einen der ehemaligen Bewohner der Siedlung vor sich. Langsam schlurfte es an Meliv vorbei und die Kälte, die noch immer von dem Wesen ausging drang ihm bis ins Mark. Zielstrebig bewegte sich die Kreatur auf seine Ruhekammer zu und legte die Hülle des Bewohners hinein.
Nach und nach kamen alle Klumpen zurück, jeder mit einer der leeren Hüllen in ihren kurzen unförmigen Armen. Die Kreaturen beachteten Meliv nicht, sondern legten die Hüllen jeweils in die Kammer, aus der sie gestiegen waren. Als in jeder der Kapseln eine Hülle lag, berührte einer der weißen Körper einen Knopf auf der Konsole.
Dieser leuchtete Grün und trug die Aufschrift: "Zyklus erneut beginnen".
Die Kapseln schlossen sich leise um die Hüllen, drehten sich zischend wieder nach oben und die im gelblichen Schimmer liegenden Hüllen fingen an, langsam zu pulsieren.
Meliv fragte sich erneut, wieso die Wesen ihn nicht beachteten und wieso er alleine übrig geblieben war. Ein leises Piepsen öffnete ihm die Augen.
Er überschlug die Anzahl der Ruhekammern.
Es waren ca. 1500…