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Yldra
Für Joschua und Christian
Quem di diliguntur, adolescens moritur
Das Land Yldra befand sich im jährlichen Wandel. Es lag ein Geruch von nassem Moos, Pilzen und morschem Holz in der Luft.
Ein Rauschen ging durch die Blätter, als wisperten die Bäume etwas. Als Meri aufsah, war es bereits wieder verstummt, doch sie wusste, dass der Westwind bald stärker werden würde. Jetzt im Herbst kam die Zeit, in der die toten Blätter mitgerissen und in die Ferne getragen wurden. Sie seufzte und dachte an Juri, an ihre Kindheit und wie sie mit ihm Schmetterlinge aus goldgelben und feuerroten Blättern hatte fliegen lassen. Wenn der Wind günstig war, flatterten diese manchmal bis zum übernächsten Hügelzug oder gar zum Fluss hinüber, der sich durch das enge Tal schlängelte.
Meri musste sich beeilen, wenn sie ihn fortschicken wollte. Sie suchte sorgfältig jene Blätter aus, die sie brauchte. Diese mussten genau die richtige Grösse und das richtige Gewicht haben, sonst würde es nicht funktionieren. Als sie endlich die passenden ausgewählt hatte, setzte sie sich auf den Waldboden und begann, die Blätter miteinander zu verknüpfen. Meri konzentrierte sich. Jeder einzelne Knoten musste stimmen. Die Wolken über dem Blätterdach ballten sich langsam zu grossen, dichten Gebilden zusammen. Es war soweit.
Sie trat aus dem Wald und lief hinauf zum Windgeard, den grasbedeckten Anhöhen, von wo aus man Yldra überblicken konnte. Windgeard, Heim der Winde. Ihr Leinenkleid flatterte wild und das hohe Gras wogte rhythmisch. Auf einem der Hügel befand sich ein Kreis aus mächtigen, senkrecht stehenden Steinen, deren dunkle Farbe sich deutlich vom sanften Blassgrün des Grases abhob. Meri hauchte dem Blattgebilde, das sie in der Hand trug, etwas zu. Magische Worte, die sich für Menschenohren anhörten wie das Flüstern des Windes. Aber es war mehr, ein Stück der Geheimnisse, welche das Land barg. Ein Teil alter Magie, ein Teil Natur, ein Teil Yldras. Und ein Wunsch.
Der Blattschmetterling hob ab und stieg in die Höhe, flatterte mit seinen zerbrechlichen Flügeln, bis ihn der Wind mit sich ostwärts trug. Meri blieb regungslos zwischen den Steinen stehen und blickte ihm nach. Schliesslich rannte sie los, dem Schmetterling hinterher den Hang hinab, weit ins Grasland hinaus, bis sie ihn nicht mehr erkennen konnte. Ausser Atem setzte sie sich hin. Es dämmerte bereits, als sie in den Wald zurückkehrte. Währenddessen flog der Schmetterling immer weiter fort, höher hinauf, wurde zu den Wolken und noch weiter hinaufgewirbelt, bis er über dem Wind war. Dort schwebte er einen Atemzug lang. Schwerelos, zögernd. Dann begann der Sinkflug.
Juri kniete sich neben den jungen Soldaten und streifte seinen Helm ab, der ihn sowieso behinderte. Verzweifelt blickte er um sich. Die Schlacht tobte um ihn, er kam sich inmitten dieses Getümmels verloren vor. Verlassen wie dieser arme Kerl, der vor ihm lag und am ganzen Leib zitterte. Juri sah, wie seinem Kampfesgefährten das Blut aus dem Gesicht wich. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Wenn Meri nur hier wäre! Versuch es ... wie beim Schmetterling mit Meri ... versuch es. Leben! Ich muss ihm Leben einhauchen! Damian darf nicht sterben! Doch Juri wusste bereits, dass er nichts mehr tun konnte und dass es sinnlos war. Um ihn herum fielen ununterbrochen tapfere Krieger. Und diese Gewissheit war der Grund, weshalb Juri sich nicht auf das bisschen Magie, das er beherrschte, konzentrieren konnte. Ausserdem konnte er keine Kräfte aus der Erde ziehen, dies hier war nicht Yldra. Die Adern der Erde hier waren leer, getränkt mit Blut der Gefallenen, aber ohne die Macht, die Juri sonst verspürte, wenn er durch Yldras Wälder lief. Fremd. Erst langsam war ihm klar geworden, was „entwurzelt“ wirklich hiess. Wenn er die Augen öffnete und keine Bäume sah und den Geruch von Laub vermisste. Wenn ... wenn etwas Wichtiges fehlte. Ein Bestandteil von ihm. Yldra war alt und ihre Bewohner eng mit dem Land verbunden. Menschen waren anders, Nomaden und ruhelos, suchten ständig nach neuen Gebieten.
Trotzdem war Juri zusammen mit den Menschen hinaus zum Schlachtfeld marschiert, um Yldras Verbündeten Lys zu verteidigen. Nicht viele Yldrari waren mit dabei, denn das Waldvolk konnte nur wenige entbehren. Doch diese kämpften umso tapferer.
Ringsherum schien niemand die beiden Gestalten am Boden zu beachten, zu sehr waren sie damit beschäftigt, den Feind in Schach zu halten. Juri berührte hilflos Damians Stirn. Der junge Soldat am Boden lächelte, trotz der Todesqualen, die er gerade erlitt.
„Juri, ich sterbe. Ich weiss, dass du mir helfen willst ... aber ... spar dir deine Kräfte. Du kannst mir nicht helfen.“
Juris Gesicht war rot von den Tränen, die hemmungslos flossen. Wie lang kannte er ihn? Eine Woche? Länger? Und trotzdem ... Er wollte nicht, dass sein Gefährte starb. Aber als er da neben ihm kniete, fühlte er wie die Lebenskraft aus Damian wich. In diesem Moment hörte er einen Schrei hinter sich. Juri wandte sich um, blieb jedoch wie gelähmt am Boden. Ein fremder Soldat stürzte auf ihn zu. Juris Hand, in der er sein Schwert hielt, rührte sich nicht. Der andere war bereits verwundet, was vielleicht der Grund war, wieso dieser strauchelte und fiel. Bevor sich sein Gegner aufrappeln konnte, hatte Juri endlich sein Schwert gezogen und stach zu. Er blickte dem anderen dabei nicht in die Augen, dazu hatte er nicht genug Mut.
Der Schmetterling sank der Erde entgegen. Inmitten des Graslandes befand sich eine karge Ebene, auf der nur spärlich Pflanzen wuchsen, denn wo der Boden von Blut und Hass getränkt war, gedieh nichts. Seit jeher wurden hier verbitterte Schlachten zwischen Lys und seinen Nachbarländern ausgetragen. Jetzt standen sich erneut zwei Heere gegenüber. Der Schmetterling glitt zielstrebig auf eine der beiden Zeltstädte zu. Der Boden kam immer näher.
Erschöpft kehrte Juris Truppe zurück. Sie hatten Damians Körper nicht bergen können und dem Feind überlassen müssen. Niemand sprach. Bald würde der leere Platz von einem neuen Kämpfer belegt werden.
Bevor Juri ins Zelt trat, blieb er unvermittelt stehen. Er schnupperte. Der Wind trug den blühenden Duft Yldras mit sich. Meri ... Sein Herz machte einen Sprung. Er schloss die Augen und liess sich einen Moment treiben. Ihr verschmitztes Lächeln. Ihre sanften und geschickten Hände. Wie gern würde er wieder zu Hause sein! Etwas klatschte gegen sein Gesicht. Juri schreckte auf. Schon wollte er das Etwas zur Seite wischen, als er innehielt. Was er für ein gewöhnliches Blatt gehalten hatte, war ein Schmetterling aus buntem Laub. Meri, ging es ihm durch den Kopf. Vorsichtig hob er das Gebilde vor sein Gesicht und betrachtete es. Er spürte schwach die Magie. Da hörte er das Flüstern. Komm nach Hause ... Komm zurück, Juri ... Komm ... Komm nach Hause ... Es war ein Herzenswunsch, den dieser Schmetterling hierher gebracht hatte. Juri wusste, dass er nicht hier bleiben konnte. Ein leeres Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Er musste zu Meri. Zu lange hatte er sie nicht mehr gesehen. Er wollte zusammen mit ihr den weichen Moos unter seinen Füssen spüren und sein Gesicht ins glasklare Wasser des Wildbachs tauchen. Würde man ihn hier vermissen? Er war nur einer von vielen und machtlos. Eine ersetzbare Figur.
Noch am selben Abend wollte Juri aufbrechen. Es musste nicht allzu schwierig sein, sich nach Einbruch der Dunkelheit zum Fluss hinüber zu schleichen. Das Waldvolk bewegte sich lautlos. Wenn er es bis dorthin schaffte, konnte er dann im Schutz der Bäume heimwärts laufen. Yldra war mehrere Tagesmärsche von hier entfernt, doch Juri brauchte keinen Proviant mitzunehmen, denn die Yldrari wussten, wo man etwas Essbares finden konnte.
Er steckte heimlich die wenigen Sachen, die er besass, in einen Stoffsack und verstaute ihn unter seiner Decke. Die anderen hatten sich schon gleich nach dem kargen Abendmahl ins Zelt begeben und schliefen nun. Juri lag mit offenen Augen auf seinem Lager und starrte die Zeltdecke an. Er wollte wieder das vertraute Blätterdach von Yldras Wäldern sehen, wollte weg von diesem Schlachtfeld und Meris Gesicht wieder sehen, ihre Haare riechen und ihr Lachen hören.
Wenige Stunden waren verstrichen, als Juri sich sicher war, dass sich nur noch die Nachtwache draussen befand. Zur Sicherheit hatte er sein Kettenhemd angelassen, damit er sich, falls er dennoch erwischt werden würde, als Wachablösung ausgeben konnte. Ob er damit durchkam, wusste er nicht, aber es war einen Versuch wert. Er streifte sich den Helm über und schlüpfte aus dem Zelt. Als er heraustrat, fiel der erste Tropfen vom Himmel. Es roch nach Regen. Juri blickte hinauf, aber er konnte nichts als Dunkelheit erkennen, dicke Wolken verdeckten die beiden Monde. Er war froh, das Wetter auf seiner Seite zu haben. Das Trommeln der Tropfen wurde stärker und schwoll zu einer Symphonie an, die das Lager in ein Gewirr aus Zelten und Pfützen verwandelte. Juris Schritte gingen im Prasseln unter.
Als der junge Yldrar schon völlig durchnässt am Rand der Zeltstadt angelangt war, holte er tief Atem. Jetzt kam das gefährlichste Stück. Es waren rund sechshundert Schritte bis zum Waldsaum, die er über offenes Gelände laufen musste. Er setzte schon an, als er plötzlich Stimmen hörte. Die Wachpatrouille! Er hatte sie völlig vergessen. Wie konnte ihm das nur passieren! Rasch duckte er sich in den Schatten eines Zeltes und verharrte dort.
„He! Ich glaube, ich habe da hinten etwas gesehen!“, hörte Juri den einen sagen.
„Lass uns nachsehen!“ Die Stimmen waren schon ganz nah. Panisch sah sich Juri um. Wendig kroch er unter einen Karren, der halb im Schlamm versunken neben dem Zelt stand. Die Wache kam näher. Aber es war dunkel und der Regen fiel in Strömen.
„Hier ist nichts. Gehen wir! Ich möchte nicht länger in dieser verdammten Pisse herumlaufen.“
Sie hatten ihn nicht bemerkt. Erleichtert atmete er auf. Juri wartete, bis er sie nicht mehr hören konnte.
Er griff in die Tasche, wo er den Laubschmetterling aufbewahrte und nahm diesen in die Hand, in der Hoffnung, Meris Wunsch würde ihm Kraft geben. Wenige Atemzüge später sprintete er los.
Der Regen peitschte gegen sein Gesicht. Mit zugekniffenen Augen rannte er dem Fluss entgegen, hörte jeden Herzschlag in seinem Kopf dröhnen. Die Schwere des Kettenhemdes zerrte an ihm und hielt ihn zurück wie in einem schlechten Traum. Juri rannte und versuchte sich von dieser Lähmung zu befreien. Ein Blitz zuckte durch den Himmel und erleuchtete die Ebene. Aufgeregt Schreie erklangen hinter ihm. Sie hatten ihn gesehen! Trotzdem rannte er mit allen Kräften weiter. Im Wald konnten sie ihn nur schwer verfolgen, denn er bewegte sich viel schneller und geschickter durch das Unterholz als die Menschen. Er musste es nur bis dorthin schaffen.
Neben ihm schwirrte es durch die Luft und verschwand hinter dem Regenvorhang. Ein Pfeil! Sie schossen auf ihn! Ob sie ihn nun für einen Feind oder einen Deserteur hielten, spielte keine Rolle, sie gingen mit gleicher Härte vor. Juri biss die Zähne zusammen. Das Gewitter brach los. Ein weiterer Blitz riss den Himmel auf. Die ersten Bäume wurden vor seinen Augen sichtbar. Sein Herz raste. Noch hundert Schritte und – in diesem Moment explodierte die Welt um Juri. Ein gewaltiger Strahl von gebündelter Energie traf ihn und schleuderte ihn mehrere Meter fort. Schwärze verschluckte die Ebene wieder. Das ohrenbetäubende Krachen des Blitzes liess die beiden Wachen zusammenzucken. Sie senkten ihre Pfeile, konnten jedoch die dunkle Gestalt nicht sehen, welche nur wenige Meter vom Waldrand entfernt reglos am Boden lag.
Lange wartete Meri. Mit dem ersten Frost drehte der Wind. Sie hoffte auf eine Nachricht, aber der Ostwind brachte nur eine traurige Leere mit. Schliesslich kehrten die ersten Yldrar vom Krieg zurück, der unter dem Winter begraben wurde, und Meris Gewissheit wuchs, dass sie Juri nie wieder sehen würde.