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Zarte Triebe im Frühling
Zarte Triebe im Frühling
Es war an einem kühlen Märztag. Ich fuhr, mich unruhig wälzend in Morpheus’ Armen, durch gewiss wundervolle bayrische Lande. Allerdings war ich an diesem Tag nicht besonders empfänglich für Reize aller Art, wegen Kopfschmerzen und Müdigkeit. Dumpf brütete ich im ICE dahin, ich, ein fadenscheiniger Schatten bloß der letzten Nacht. Grau meine vorherrschende Laune.
Habe ich damals eigentlich das erstemal mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt? Das geistige Durchleben besonders trauriger Todesarten, triefend vor Selbstmitleid, gepaart mit einem Unmaß an Resignation. Alles so grau um mich herum.
Wie ich es hasse, dieses Leben, nicht wert des eigenen Namens, ein Wechsel aus Hoch und Tief. Ausschöpfen der Lebenskraft im exzessiven Feiern, scheinheilige Befriedigung der Seele vorgaukelnd, Vergewaltigung des Selbstwertgefühls in sinnlosem Geplänkel mit Freunden, die keine sind, Flirten mit Mädchen, die einen nie lieben werden. Alles so grau um mich herum.
Eine Welle der Verzweiflung trieb mich, ich schrie, die Leute mochten es hören. Öffne die Augen: Stumm musste ich geschrieen haben, trotzdem aus vollem Halse, Qual die für sich sprach, stumme Schreie, egal. Speichel lief mir über das Kinn.
Musste ich doch eigentlich nach besserem Wissen handeln, so war ich doch ein Feigling, der die Sinnlosigkeit des Lebens erkannt hatte, sich aber nicht besserte.
Der Partylöwe war ich gewesen, keine Frage, niemand tanzte mehr als ich. Und immer wieder geschaut, ob denn alkoholisierte Blicke mir Beachtung schenkten. Mache ich mir selbst etwas vor? Alles so stumpf. Die Welt durch einen Filter, der war grau.
Habe ich an Selbstmord gedacht? Der Gang auf die Toilette, Übergeben und Schwindel, hämmerndes Dröhnen im Kopf. Zufällige Berührung des Taschenmessers, ich pflegte es immer sorgfältig, schärfte es regelmäßig, sehr scharf übrigens, paranoider Drang zur Selbsternstnehmung. Der gewohnt kühle Glanz der Klinge, liebkosendes Streicheln, leichtes Anritzen des Armes.
Wieder auf dem Sitzplatz kamen die Selbstvorwürfe. Ich war ein Feigling, konnte mir nicht einmal selbst das Leben nehmen. Hatte Kopfschmerzen wie Presslufthammer. Nach dem Schlucken zweier Tabletten, wie immer, ging es wieder, eigentlich eher selten. Aber alles so grau um mich herum.
Ich vergaß zu erwähnen, dass es regnete.
Eine Welt, gegen mich gekehrt, oder ich gegen sie. Dieser Zustand, nenne man es melancholisch, selbstmitleidig oder suizidgefährdet, hielt an, als ich in München auf den Bahnsteig stolperte.
Erdrückende Masse der Leute, die ich nie in diesem Leben wieder sehen würde, eine anonyme, unbeteiligte Gruppe, sie widerten mich an. Ich war der Steppenwolf, genau in diesem Moment seine reine Inkarnation. Ich hasste diese Menschenpuppen, gefangen in ihrer Scheinwelt aus Geplänkel, Wichtigtuerei und Eitelkeit.
Selbsthass? Ja, auch.
Dann mein Beschluss, dem Leben zu entsagen, auf der Herrentoilette sollte es geschehen.
Graue Leere im Hinterkopf lief ich auf den Ausgang zu.
Ab diesem Augenblick haben sich die Geschehnisse in mein Gehirn eingebrannt. In Zeitlupe spürte ich, wie das Universum anfing sich zu wandeln. Ich drehte unwillkürlich meinen Kopf nach rechts. Im Menschengewirr stand, an einen Kiosk gelehnt, eine Frau hohen Alters. Sie war mittelgroß, schlank, und hatte langes schlohweißes Haar, welches ihr auf edle Weise, zusammengebunden, den Rücken herunterfloss. Sie trug einen tiefroten Filzmantel. Ihre Haltung, gerade wie eine Lilie, verriet Aufrichtigkeit, ihre Gesichtszüge Lebenserfahrung gepaart mit Überlegenheit des Geistes. Sie war der Übermensch. Und ihre Augen ruhten, tiefen Brunnen gleich, mit einem gütigen Lächeln auf mir. Ich wurde eingefangen, eingefroren, mein Kopf war leergefegt von allem Weltlichen und ich erwiderte das Lächeln, warm wie noch nie zuvor gegeben. Die Fusion zweier Seelen, Überbrückung der Körperlichkeit, ich muss eine Ewigkeit stehen geblieben sein. Dann unterbrach ein Strom von Menschen den Blickkontakt.
Ich erwachte aus meiner Starre. Beim Kiosk keine Frau mehr. Die Sonne kam aus den Wolken. Den Blick gen Ausgang konnte ich noch ein letztes Wehen des roten Mantels ausmachen. Ich rannte, rannte um ein Leben, IHR nach.
Im Freien, blendend hell, entdeckte ich keine Spur mehr von ihr, doch im Weitergehen musste ich die Schönheit der gebrochenen Lichtstrahlen in diamantenen Regentropfen bewundern, spinnengenetzte Opalhalsbänder. Ein Vöglein sang und am Baum die ersten grünen Triebe.