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Zehn Minuten 'Hallo' sagen
Er schläft und ich schleiche mich so leise wie möglich aus dem Zimmer. Ganz starr stehe ich noch vor der Tür und horche ob er nicht vielleicht doch wach geworden ist. Aber er atmet ruhig und gleichmäßig weiter, was mir ein beruhigendes Gefühl gibt.
Nun läuft alles wie immer, Rechner einschalten, Teewasser kochen und noch mal auf die Toilette gehen. Meine Glieder sind schwer und meine Gedanken sehr unklar. Fakt ist aber ich bin absolut nicht müde und gehe nur noch mal 10 Minuten vor den Rechner, ein paar lieb gewonnen Menschen „Hallo“ sagen.
Kaum sitze ich vor dem Bildschirm überkommt mich wieder dieses wunderschöne Gefühl. Ich bin nicht allein, man freut sich über meine Anwesenheit zu so später Stunde und ich versuche ja eigentlich nur etwas müde zu werden.
Seit ein paar Monaten habe ich das Chatten für mich entdeckt. So viele nette Menschen habe ich kennen gelernt, die alle genauso wie ich denken und fühlen. Sie sind nicht nur irgendwelche Menschen die genau wie ich Abends nach einer Ablenkung vor allem aber nach Aufmerksamkeit suchen, nein es sind meine Freunde. Meine besten Freunde. Alles kann ich mir ihnen besprechen ohne jegliches Schamgefühl oder Misstrauen.
Die Uhr auf dem Monitor dreht sich viel zu schnell und löst ein leichtes unwohl fühlen bei mir aus. Aber wenn ich lese was sie mir schreiben ist das schnell vergessen. Und wenn ich nach den 10 Minuten nun mal noch nicht müde bin?! Was soll ich im Bett rumliegen wenn ich eh nicht schlafen kann!
Eigentlich habe ich die letzten Nächte nie mehr als 1 –2 Stunden geschlafen und somit kann ich ihnen sehr bedrückt von meiner Befürchtung, an einer Schlafstörung zu leiden, berichten. Und wie erwartet verstehen sie mich. Sie haben ähnliche Probleme, klar sonst wären sie nicht da. Es tut so gut Freunde zu haben, die einen wert schätzen, verstehen und beistehen.
Aus den 10 Minuten werden 5 Stunden und ich habe wieder mal bis zum Wecker klingeln nur ein einhalb Stunden geschlafen. Erschöpft stehe ich auf und mein Spiegel sagt mir wie grausig ich aussehe. „Du chattest zuviel!“ Kommt von ihm bestimmt. Er ist seit über 4 Jahren mein Lebensgefährte und hat was das Thema angeht meiner Meinung gar keine Ahnung. „Blödsinn!“ sag ich „Ich werde krank mir geht es einfach nicht gut deswegen kann ich so schlecht schlafen, außerdem habe ich im Chat viele neue Freunde gefunden.“ Er schweigt dazu und geht zur Arbeit. So oft hatten wir Diskussionen darüber. Er will meine Freunde im Internet einfach nicht akzeptieren. Es ist nicht seine Welt, deswegen versteht er es auch nicht. Die Schule spare ich mir heute, denn ich scheine wirklich krank zu werden und entscheide mich dafür mich vorsorglich etwas auszuruhen, bevor es richtig ausbricht. Schlafen will ich aber auch nicht mehr. Also treffe ich mich mit meinem Kaffee und meiner Zigarette, mit meinen Freunden im Chat. Die Stimmung ist wie immer um die Zeit noch sehr verschlafen, doch bald kommen wir alle wieder in Fahrt und werden gesprächiger. Ganz viele Mütter sind dort die mir zwischen Schulbrote schmieren und Kinder anziehen, noch liebe Worte zusenden, ganz viele Schichtarbeiter sind dort, die grade von der Arbeit nach Hause gekommen sind und noch mal für 10 Minuten „Hallo“ sagen wollen, ganz viele Schüler sind dort, die genau wie ich krank sind und etwas Erholung suchen.
Es tut so gut so viele Freunde zu haben. Ich verabschiede mich so ungern von ihnen um dann allein durch die Welt zu gehen. Die Freunde aus der Schule, dass habe ich mittlerweile begriffen, sind keine richtigen Freunde, denn sonst könnte ich genauso mit ihnen, wie mit den Menschen aus dem Internet, reden. Und ich zweifle mittlerweile auch daran ob mein Freund der richtige ist. Denn auch mit ihm rede ich selten so. Und momentan sind es eh nur Diskussionen um meine neuen Freunde. Er will einfach nicht begreifen, dass ich mit unseren früheren „Freunden“ nichts mehr anfangen kann und mir diese konsequent vom Leib halten will, weil sie aus meiner Sicht einfach viel zu oberflächlich sind.
Er kommt nach Hause und ich muss etwas staunen, dass der Tag so verdammt schnell zuende gegangen ist. Verabschieden möchte ich mich eigentlich noch nicht, aber er legt mir wortlos einen Artikel über Chatsucht auf die Tastatur und geht fernsehen. Also beschließe ich mich für diesen Tag zu verabschieden. Ich überfliege diesen schwachsinnigen Artikel und finde prompt zig Gründe wieso, dass auf mich nicht zutreffen kann. Schließlich habe ich einfach nur neue Freunde gefunden, aber sicherlich nicht den Bezug zur Realität verloren.
Aber dieses Gespräch hatten wir schon so oft, was soll ich ihm noch sagen er glaubt doch eh was er will. Ich weiß meine früheren „Freunde“ sind einfach nie Freunde gewesen, denn sie melden sich ja gar nicht mehr. Sie haben sich nie für mich interessiert. Und seine Liebe zu mir stelle ich nun auch in Frage, schließlich will er meine neuen Freunde nicht akzeptieren und somit scheint ihm auch nicht viel an meinem Wohlbefinden zu liegen. Was ist die Welt doch schlecht. Der Rechner ist aus. Ich fühle mich so verdammt allein. Keiner versteht mich hier. Keiner meint es auch nur ansatzweise gut mit mir. In der Schule kommen nur noch doofe Sprüche wegen den schlechten Noten und den vielen Fehlstunden. Bei der Arbeit habe ich mich solange nicht blicken lassen, dass ich gar nicht erst wieder hingehen brauch. Sie haben mich eh nicht gemocht.
Mich hat hier keiner gemocht. Ich möchte nun dort sein wo meine richtigen Freunde sind. Damit ich nicht allein bin. In dieser Welt hier, bin ich jedenfalls sehr allein und sie stößt mich ab. Ich habe niemandem was getan und dennoch stoßen sie mich ab. Sie fragen nicht ob ich mit ins Kino möchte, also wollen sie mich nicht dabei haben. Sie machen mir nur Vorwürfe für alles was ich tue bzw. nicht tue. Keiner versteht eigentlich wie krank ich bin ....
- Doch, einer versteht es. Ich ziehe das Internet Kabel. „Schatz, ich liebe dich ! Lass uns was essen gehen.“