Zeit des Erwachens
Doktor Marian Varenikov nahm die Hände von den Klaviertasten und stoppte den ausklingenden Akkord, aber dessen absichtsvoll gesetzte Disharmonie hielt sich noch wie die Erinnerung an einen Zahnschmerz.
Marian neigte den kahlen Kopf als würde er lauschen, aber in Wirklichkeit betrachtete er die große Farbfotographie an der Wand. Sie zeigte den markanten Walfischbuckel des Ayers Rock bei Sonnenuntergang. Der Felsen sah so unwirklich aus wie ein riesiger, roter Wackelpudding, der mitten in das leuchtende Safran-Gelb des Australischen Buschlandes gefallen war.
„Bravo, da capo, nicht schlecht für einen, der gelobt hat, nur an die trockene Eins und die Null zu glauben bis in alle Ewigkeit.“
Varenikov griff nach dem Wodka-Glas und wandte sich seinem Laudator zu.
„Nun, Musik verträgt sich sehr gut mit Nullen und Einsen, wie du weißt. Außerdem hat sie den Vorteil, dass ihr Wesen und ihre Gesetzmäßigkeiten tatsächlich vollständig erforscht beziehungsweise erfunden worden sind.“
Der Mathematiker Jürgen Stroheim hob seinerseits das Glas und prostete seinem alten Studienfreund Marian zu.
„Ein interessanter, aber ziemlich ketzerischer Gedanke, mein Lieber. Du bist also der Meinung, dass der Mensch die Musik erst erfunden hat. Deine Qualitäten und Theorien als Musiker in allen Ehren, aber vielleicht erzählst du mir jetzt mal, wo dich eigentlich der Schuh drückt.
Man hat dich vorgestern beinahe einstimmig zum neuen Direktor des CERN gewählt, aber du zögerst, diesen ehrenvollen Posten zu übernehmen. Ich verstehe dich nicht, Marian. Du bist Forscher und Teilchenphysiker mit Leib und Seele, du bist nicht nur eine Koryphäe in deinem Fachgebiet, sondern ein guter Organisator und Menschenführer. Du kennst den Laden hier in- und auswendig und die Kollegen verehren und respektieren dich, also was ist los mit dir? Hast du Angst, dass deine Forschungsarbeit zu kurz kommt, wenn du den Posten annimmst?“
„Nein, eigentlich war es immer mein Traum, eines Tages diesen Job zu bekommen. Aber genau da liegt das Problem, Jürgen; es war und ist ein Traum, so wie alles um uns herum.“
Stroheim leerte sein Glas mit einem Zug und verzog das Gesicht, als hätte man ihn gezwungen, Fischtran zu schlucken.
„Aha, das Matrix-Syndrom. Aber solche abstrusen Gedanken hat doch jeder mal, das legt sich schon wieder. Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, das wäre dein einziges Problem, oder?“
„Doch, genau das ist es aber. Wir Wissenschaftler gehen stets von der Annahme aus, dass nichts im Universum um seiner selbst Willen existiert, dass alles einen Zweck erfüllt, der aus einer rätselhaften Notwendigkeit geboren wird. In Wahrheit haben wir damit aber nur einen seltsamen Götzen geschaffen, nämlich das Trugbild der menschlichen Entwicklung und des Fortschritts, an das wir alle so gerne glauben.“
Stroheim verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen und blickte zur Zimmerdecke. Die gemeinsame Vortrags-Reise nach Kanada schien keine gute Idee gewesen zu sein.
„Ein bisschen spät für eine midlife-crisis, würde ich sagen, also tippe ich mal auf eine spirituelle Sinnkrise, vermutlich altersbedingt. Jaja, das Elend des Geistes ist, dass ihn die Jahre nicht stärken, sondern so lange schwächen, bis man am Ende bereit ist, der eigenen Dummheit mit Gnade zu begegnen.“
Varenikov sah seinen Freund mit gerunzelter Stirn an.
„Du willst mir doch hoffentlich noch keine Senilität unterstellen, oder? Aber sag doch selbst, was macht es eigentlich für einen Sinn, nach dem Zeichen am Himmel zu suchen, wenn das Zeichen die Suche selbst ist?“
Stroheim rieb sich betroffen mit beiden Händen die Schläfen. Mit erschreckender Deutlichkeit erkannte er plötzlich, dass aus Marian ein alter Mann geworden war, in dessen Brust das Karzinom des Selbstzweifels offenbar im Begriff war, jede Menge Metastasen zu bilden.
„Reisender, es gibt keine Strassen, sie entstehen beim Gehen“, fügte Varenikov hinzu, obwohl er eigentlich viel zu müde war, um weiter in der Wüste zu predigen.
Er dachte an die vergangenen Tage, an denen er zum ersten Mal seit dem Ende seiner Kindheit im ungewohnten Licht eines vollständig gedankenlosen Morgens erwacht war. Dann betrachtete er seinen Freund im Rollstuhl, der sich offenbar stets der eisernen Gesundheit und unerschöpflichen Energie der ewig Kränklichen zu erfreuen schien.
Stroheim lächelte süffisant.
„Äh, du hast nicht zufällig ein paar orangefarbene Klamotten im Schrank und das Baghavatgita auf dem Nachtkästchen liegen?“. Varenikoff schüttelte den Kopf.
„Die Aborigines in Australien haben meiner Meinung nach die Wahrheit schon lange vor Buddha entdeckt, Jürgen. Sie sind überzeugt davon, dass wir alle in einer illusionären Welt leben, die ihre Existenz nur den Träumen der grünen Ameisen zu verdanken hat. Eine verblüffende Idee, findest du nicht auch? Und sie ist in ihren Grundzügen nicht von der Hand zu weisen, wie ich heraus gefunden habe.“
„Aha. Und was genau hast du nun heraus gefunden?“
„Ich habe entdeckt, dass wir unseren Lebensraum und den ganzen Kosmos tatsächlich fortlaufend selbst erfinden, obwohl wir ihn zu erforschen glauben. Das tritt nirgendwo so deutlich zutage wie in der Teilchenphysik. Quantenmechanik! Wir sehen darin die Schönheit der Mathematik, aber eigentlich ist es doch ein Albtraum, den ein normaler, geistig gesunder Mensch nicht einmal ansatzweise verstehen kann. Sieh dir doch mal genau an, was wir Eierköpfe hier eigentlich tun. Wir entwickeln vertrackte Theorien auf der Basis der einzig erkennbaren Konstante im Kosmos, der Logik, versehen sie mit einem Namen und projizieren sie in die Zukunft. Anschließend beginnen wir mit physikalischen Experimenten, um die Existenz jenes subatomaren Teilchens nachzuweisen, das wir höchstselbst mühsam zuvor in’s Leben gerufen haben.
Wir brauchen aus Gründen der Logik für unsere Theoreme unbedingt ein Higgs-Teilchen? Kein Problem, hier, bitte schön. Wir möchten das Universum gern an ein paar Superstrings aufgehängt sehen? Aber gerne doch, geht klar, solange es im Kontext Sinn macht. Warum sind wir nach tausenden von Jahren des Nachdenkens, Beobachtens und Forschens immer noch nicht in der Lage, den Zweck des Seins und des Lebens zu erkennen?“
Stroheim hatte eigentlich wenig Lust, sich noch länger auf diesen fruchtlosen Disput einzulassen. Er versuchte, das Thema mit einem Scherz zu beenden.
„Wenn ich deiner Theorie folge, dann wurde Gott und damit der Sinn des Lebens vermutlich nur deshalb noch nicht realisiert, weil sich die zahlreichen Erfinder nicht auf eine gemeinsame Vorstellung einigen konnten. Weißt du was, mein Lieber? Der Gedanke, nur in den Träumen der australischen Ameisen zu existieren, jagt mir weniger Angst ein als die Vorstellung, dass die Menschheit bei der Schöpfung ihre schmutzigen Finger im Spiel haben könnte.“
Anstelle einer Antwort erhob sich Varenikov schwerfällig, trat mit hängenden Schultern an das Fenster und blickte schweigend hinaus auf die nebelfeuchte Parklandschaft, die das alte, herrschaftliche Anwesen an der Kanadischen Ostküste umgab.
Er verharrte auch dann noch stumm und unbeweglich, als vor seinen Augen plötzlich wie von Zauberhand die herbstlichen Hochnebel fortgerissen wurden und eine rote, ausgebrannte Riesensonne am Himmel erschien; er sah, wie in ihrem bedrohlich fremden Licht die Bäume, Büsche, Felder und Wiesen vor dem Fenster auf seltsame Weise ihre Konturen verloren und in der selben Sekunde zur Farblosigkeit verdampften. Nichts blieb zurück vom Anblick der vertrauten Umwelt; soweit das Auge blickte, erstreckte sich nun die schroffe, kontrastarme Oberfläche einer endlosen, unbekannten Steinwüste.
Wie das zusammenzuckende Bild auf dem Schirm eines Monitors, der ausgeschaltet wird, so schrumpften Mauern, Maschinen, Fahrzeuge, Pferde und Häuser innerhalb einer Nanosekunde zu winzigen, grellen Lichtpunkten und rasten dann davon in die schwarzen Tiefen eines virtuellen Kosmos’.
Marian lächelte.
Er wusste, dass nun jede Antwort und selbst seine Trauer sinnlos geworden waren.
Zwölftausend Kilometer unter Varenikovs Füssen, im Zentrum des antipoden Kontinents, begann sich Leben zu regen. Tief im Inneren des Ayers Rock erwachte das Milliardenvolk der grünen Ameisen aus seiner zyklischen Traumphase, um die neue Königin auf ihren gefährlichen Hochzeitsflug über den roten Wüstenplaneten vorzubereiten.