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Zeitenwechsel
Manchmal sehe ich Dinge, die da nicht sind. Ich betrachte den Körper vor mir, der Professor sagt „Ausdehnung des Tumors im Thorax…“, aber ich kann ihm nicht folgen. Ich fühle einen Druck auf meinen Ohren, als wäre ich tief hinabgetaucht und die Szenerie, der Saal voll Studenten, verliert an Schärfe, wird aus dem Wasser heraus betrachtet. Ich lege mein Skalpell ab, es klackt auf dem Stahltisch, und laufe die Treppe nach oben, ins Freie. Der Professor ruft meinen Namen, ich schließe die Tür hinter mir und trete ins Gras des Schlossgartens. Ich steuere die erste Bank an und lasse mich darauf fallen.
Wenn wir einen Film ansahen und das Klassenzimmer verdunkelt wurde, packte er meine Hand, hielt sie am Gelenk fest und rieb mit einer Münze so schnell und fest über die Handfläche, dass sich darauf Brandblasen bildeten. Wenn ich schrie oder bettelte, brüllte der Lehrer „Ruhe!“ und Maxim rieb noch schneller.
Er war aus dem Jahrgang über uns durchgefallen. Den ersten Tag in unserer Klasse setzte er sich in die vorderste Bankreihe, lehnte sich mit dem Rücken an den Tisch und musterte alle Mitschüler. Durch seine hellen, beinahe unsichtbaren Brauen wirkten seine Augen wie ins Gesicht geklebt. Er lächelte nicht, sah jeden an und ging zum nächsten über. Auf meinem Gesicht verweilte er sehr lange.
Ich hatte in fünf Jahren Gymnasium keine Freunde gefunden, er hatte nach fünf Tagen die ganze Klasse für sich. Ich weiß nicht, ob ihn alle mochten, aber zumindest schmeichelten sie ihm. Er saß nicht mehr in der ersten Reihe, sondern neben Lars, der bisher das Sprachrohr der Klasse gewesen war. Sie hatten die Bank hinter mir. Als ich eine Minute nicht aufpasste und ins Träumen geriet, hielt mir Maxim sein Feuerzeug unters Ohr. Ich zuckte weg und flog vor Schreck vom Stuhl. Die Klasse johlte.
Ich näherte mich dem grauen Gebäude morgens erst, wenn das Geraune der Stimmen verstummte. Ich versuchte, die Klasse nie mehr vor dem Gong, und am besten gemeinsam mit dem Lehrer zu betreten. Meine Bank rückte ich so weit wie möglich nach vorne.
Als eine Frage über das politische System der Bundesrepublik gestellt wurde, meldete ich mich. „Arm runter“, zischte Maxim. Ich tat, als hätte ich es nicht gehört und beantwortete dem Lehrer die Frage. In der Pause lief ich nicht meine gewöhnliche Runde, vorbei am schwarzen Brett, durch das Obergeschoss. Sicherheitshalber steuerte ich das Tor zur Straße an. Aber dort warteten Maxim, Lars und zwei Leute aus einer höheren Klasse.
„Stehenbleiben, Ruhländer.“
Während ich wieder so tat, als hörte ich nichts, gingen mir zwei Dinge durch den Kopf. Es war schrecklich, dass Maxim mein Verhalten vorausgeahnt hatte. Er war offenbar nicht nur ein Arschloch sondern auch intelligent. Zweitens wunderte ich mich, warum er mir immer noch keinen Spitznamen gab. Er hatte für alle in der Klasse Spitznamen, sogar für seine neuen Freunde. Aber bei mir verlängerte er lediglich das Ruhland zu einem Ruhländer, was mir nicht besonders entwürdigend erschien – weiter kam ich nicht, denn da erhielt ich einen Tritt in den Rücken und landete auf dem Gehsteig. Bevor ich aufstehen konnte, presste ein Stiefel meinen Hals auf den Asphalt. Ich bekam keine Luft. Die Richtung von Maxims Stimme ließ vermuten, dass ihm der Stiefel gehörte. „Bist du taub, Ruhländer?“, sagte er. Ich antwortete nicht. Er drückte sehr fest mit dem Stiefel zu.
„Ich frag dich noch einmal, Ruhländer, bist du taub?“ „Nein“, keuchte ich. Der Stiefeldruck blieb unverändert. „Warum folgst du dann nicht meinen Anweisungen, Ruhländer?“ Was sollte ich darauf sagen? Der Stiefeldruck nahm weiter zu. Ich versuchte den Schuh mit meinen Händen wegzuschieben, aber sofort bog mir jemand die Arme auf den Rücken. „Ich weiß nicht“, rief ich, „ich weiß es nicht!“
„Er weiß es nicht“, sagte Maxim. „Unwissender Ruhländer, siehst du diese Bordsteinkante? Soll sie deine Freundin werden? Möchtest du sie ablecken?“
„Nein“, sagte ich. Ich spürte, wie Tränen meine Wange hinabliefen.
„Dann widersetze dich nicht den Anweisungen“, sagte Maxim. Sein Schuh lockerte sich. „Troll dich, Ruhländer“, rief er, „troll dich!“
Es war eine schlimme Zeit. In der Schule erhielt ich Flecken, Schrammen und zerrissene Hosen, zuhause musste ich mich für sie rechtfertigen. Ich log für Maxim Demartini. Was für ein beschissener Name eigentlich. Aber bei ihm machte nicht einmal ein beschissener Name etwas.
Eine seiner Anweisungen war, dass ich mich nicht mehr melden durfte. Wenn mir ein Lehrer eine Frage stellte, musste ich den genauen Wortlaut „S.O.S., ich weiß es nicht“ sprechen. Dann lachten sich alle kaputt.
Morgens hatte ich Bauchschmerzen. Ich ging eine Woche nicht in die Schule, dann musste ich wieder. Der Arzt, den meine Mutter rief, fand ja nichts. Nur die blauen Flecken beäugte er komisch, sagte aber kein Wort.
„Deine Entschuldigung, Ruhländer“, sagte Maxim, als ich mich auf meinen Platz setzte. Er sprach es ganz ruhig und so laut, dass es jeder in der Klasse hören konnte. Ich fragte nicht nach, ich verstand inzwischen immer was er meinte. „Bauchschmerzen“, las er laut vor. „Komm mir nicht wieder mit so einem Zeug.“ Er faltete den Zettel einmal in der Mitte, legte ihn zusammen und gab ihn mir freundlich zurück.
An vielen Tagen ließ er mich auch in Ruhe. Vielleicht hatte er da eigene Sorgen, war mit etwas anderem beschäftigt. Mag sein, dass man nicht jeden Tag in Stimmung ist, die Gefangenen zu foltern. Ich beobachtete dann, wie er rauchte und mit Schülern aus höheren Klassen scherzte. Wenn ich ihn ansah oder gar seinen Worten lauschen konnte, wurde mir deutlich, wie sehr ich ihm unterlegen war. Er war intelligent, witzig, schön. Ich in allem das Gegenteil. Er hätte mir schon wegen meiner Schwerfälligkeit, meiner Plumpheit tausend Spitznamen geben können. Es war nicht so, wie ich es aus anderen Klassen mitbekommen hatte: Die kräftigen Dummen quälen die Schlauen, dafür wissen die Schlauen, dass sie eines Tages den Spieß umdrehen können. Ich war ihm in nichts, in gar nichts überlegen. Ich war sinnlos neben ihm. Ich denke, ich war nicht mal besser als er. Wenn ich zu seinen Freunden gehört hätte, hätte ich mich kaputtgelacht über seine Witze.
Abends las ich The Stand von Stephen King. Aber Fiktion erfüllte bald den Zweck nicht mehr. Ich suchte im Netz nach Geschichten, die mir klar machten: Es geht dir nicht schlecht. Es geht immer noch tausend Stufen tiefer.
Ein Kinderschänder, der in der Zelle mit einem Tauchsieder vergewaltigt wird.
Ein Typ, der zwanzig Jahre im Scheinkoma liegt und alles mitbekommt.
In einer Zeitschrift meiner Mutter fand ich einen Artikel über eine psychisch kranke Frau, die einen so starken Juckreiz verspürte, dass sie sich durch den Schädelknochen hindurch kratzte, bis das Hirn hervortrat.
Das tat gut. Verglichen mit ihr, hatte ich Pralinés-Sorgen. Ich schnitt den Artikel aus und klebte ihn an die Wand neben meinem Bett.
Wenn es sehr schlimm war surfte ich auf freitod-forum.de und diskutierte mit anderen Usern die verschiedenen Möglichkeiten. Die meisten schlugen schmerzfreie, stille Abschiede vor. ‚SoonInHeaven’ warnte vor Metaldehyd, bei dem schnell körperliche Lähmung eintrete, aber man den Kampf bewusst erleben müsse.
Wir hatten Philosophie & Sozialkunde und unser Lehrer war verrückt. Seine Brille hatte nur ein Glas und es war vollkommen unmöglich zu verstehen, was er brabbelte. Ich klappte die letzte Seite meines Kalenders auf und überschrieb sie mit meinem und Maxims Namen. Dann teilte ich das Blatt vertikal mit einem Strich und nannte den linken Teil ‚Gemeinsamkeiten’ und den rechten ‚Unterschiede’.
Bei ‚Unterschiede’ trug ich ein: Kleidung (Basecap). Frisur. Musikgeschmack?
Bei ‚Gemeinsamkeiten’ schrieb ich: Körperstatur. Armut. Allein bei Mutter aufwachsen. Wut.
Ich betrachtete die Liste als sich von hinten eine Hand über meine Schulter schob und den Kalender packte. Ich hielt ihn fest, aber Maxim zog und zog, bis es klang, als ob er zerreißen würde. Da ließ ich los.
Maxim passte mich in der Pause ab und hielt mir die Tür zur Damentoilette auf. „Hier geht’s rein, Ruhländer.“ Ich wich aus, aber er packte mich sofort, schubste mich durch die Tür und in die erste Kabine. Am Nacken hielt er mich fest. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass auch seine Freunde nach und nach eintrafen. „Ruhländer, was haben wir denn gerade gelernt?“ Seine Stimme klang schärfer, nervöser als gewöhnlich. Bevor ich antworten konnte tauchte er meinen Kopf in die Toilette. Über mir hörte ich, wie die Spülung betätigt wurde. Wasser rauschte in meine Nase, meinen Mund, ich versuchte nach oben zu kommen, aber hatte keine Chance. Es dauerte lange.
Dann fischte er meinen Kopf aus der Schüssel und sagte: „Du musst dich wehren. Du musst kämpfen. Was durften wir soeben von Machiavelli hören? Du musst deinem Feind schmeicheln oder ihn vernichten. Für eine kleine Kränkung kann er sich rächen. Aus dem Grab heraus rächt sich niemand.“ Mein Kopf flog wieder nach unten. Dabei prallte meine Nase gegen das Becken und gab ein furchtbares Geräusch von sich. Maxim ließ sich nicht stören und betätigte die Spülung. Wieder und wieder. Meine Beine zappelten sinnlos umher. Als ich aufwachte, waren alle fort, ich lag in einer Lache aus Blut und Wasser auf dem Boden.
Aus meinem Bett konnte ich lauschen, wie meine Mutter mit dem Schulpsychologen stritt.
„Nicht fliehen? Die Unterlegenheit nicht zementieren? Aber was, wenn er das nächste Mal gar nicht mehr nach hause kommt?!“
Ich wollte nicht die Schule wechseln. Ich hatte nur diffuses Zeug im Kopf, aber ich wusste, dass ich bleiben wollte. Ich betrachtete im Spiegel meine abgetapte Nase, hängte mir meinen Rucksack über die Schulter und machte mich auf den Weg zum Unterricht.
„Deine Entschuldigung, Ruhländer.“ Ich drehte mich zu ihm um, sah ihn an und gab sie ihm. Er blickte mir noch eine Weile ins Gesicht, dann las er das Attest vor, faltete es in der Mitte und gab es mir zurück. „Ausnahmsweise akzeptiert“, sagte er.
Die kommenden Wochen ließ er mich in Ruhe. Auf meinen Runden durch die Schule sah ich ihn stets im Rauchereck stehen. Meist waren seine Freunde bei ihm, manchmal war er allein. Dann verlangsamte ich meine Schritte. Er schien stets in Gedanken versunken und zugleich nervös. Dabei zog er an seiner Zigarette und sah hundertmal cooler aus, als alle anderen.
In Erdkunde wurden wir in einem anderen Klassenraum unterrichtet, wo die Tische in Hufeisenform angeordnet waren. Maxim saß mir genau gegenüber, nur drei Meter entfernt. Wenn er zur Tafel sah, konnte ich ihn betrachten. Er musste sein ganzes Geld für Kleidung ausgeben, seine Sachen waren zwar verwaschen und abgewetzt, aber ausschließlich von teuren Marken. Seine Frisur war immer verstrubbelt doch nie ungepflegt. Alles passte perfekt zueinander. Ich hatte das Gefühl, sogar das Parfum riechen zu können, das er auf der Haut trug. Er entdeckte, dass ich ihn ansah und zischte: „Gaff mich nicht an, Ruhländer.“
Aber er verprügelte mich nicht. Er tat mir nichts. Ich konnte es nicht verstehen. Als es ein Uhr war, verließ er das Gebäude, durchschritt den Hof genau in der Mitte und begrüßte mit Umarmung einen Freund, den ich noch nie gesehen hatte. Sie überquerten die Straße zum Park und verschwanden. So ging es Tag um Tag und Maxim erschien mir immer abwesender im Unterricht. Er starrte aus dem Fenster, grinste wenn ihn jemand ansprach, aber wirkte wie betäubt.
Am Ende des Schuljahrs wartete ich bis Maxim den Typ begrüßt hatte und sie in Richtung Park losspazierten, dann folgte ich ihnen. Ich nahm den Rundweg, der durch Büsche von den Bänken abgetrennt war und blieb hinter ihnen stehen.
Sie saßen ganz nah beieinander und man hätte sie für ein Liebespaar halten können. Maxim holte seine Schachtel Gauloises aus dem Rucksack, klopfte zwei Zigaretten heraus und gab eine ab.
Sie rauchten, Maxim erzählte, der andere erzählte, beide lächelten.
Und das war es eigentlich. In der Oberstufe waren wir in verschiedenen Kursen. Ich hatte noch immer das Gefühl, als ob jeder Ort dieser Welt doppelt existierte, einmal leergefegt für mich und einmal für die anderen Menschen. Aber sie ließen mich in Ruhe.
Als wir unsere Abiturzeugnisse abholten, verabschiedeten sich alle voneinander. Noch drei Hände, noch zwei bis zu Maxim. Was er wohl sagen würde? „Mach’s gut, Mann. Alles Gute.“?
Das war vielleicht zu viel verlangt. Doch er verließ nicht die Reihe, er blieb vor mir stehen und schüttelte meine Hand.
Ich verbrachte zwei soziale Jahre bei den Johannitern, bis die Wartezeit für Medizin verstrichen war, dann schrieb ich mich in Erlangen ein. Manchmal googelte ich Maxims Namen und als ich einmal Lars in der Mensa traf, fragte ich nach den Leuten von früher.
„Und was macht Maxim?“, sagte ich.
Lars sah mich an und zuckte mit den Schultern. „Den hab ich seit dem Abi nicht mehr gesehen.“
Zunächst höre ich es auf die Blätter über mir tropfen, dann spüre ich es auf meinen Händen. Es beginnt zu regnen.
Ja, der Tote. Er sah gut aus, zu dünn natürlich und mit einer bizarren Auswölbung auf der rechten Brust. Die Augen geschlossen in dem haarlosen, symmetrischen Gesicht.
Ein nackter Körper, hunderten Blicken im Vorlesungssaal preisgegeben.
Ich betrachte den Fluss, der den Park teilt und schüttle den Kopf. Das Wasser sieht dunkelbraun aus, beinahe schwarz, und die in der Strömung tanzenden Blätter kündigen schon den Herbst an.