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Zeitlos
„He, Kev! Sieh’ dir mal die Braut da drüben an!“
Beppo deutete mit seinem Kinn auf die gegenüberliegende Straßenseite. Eine groß gewachsene Blondine hatte mit ein paar Einkaufstaschen eine Boutique verlassen und stelzte mit ihren Stilettos den Gehsteig entlang, wobei sie jede Menge anerkennende Blicke von männlichen Passanten einheimste.
„Ich wette, die saugt einem das Schmalz aus dem Schädel. Sieh’ dir nur mal diese Beine an!“
Kevin warf einen kurzen Blick auf das Schauspiel auf der anderen Straßenseite, ehe er sich wieder dem Streichholz widmete, mit dem er in seinen Zähnen rumstocherte.
Die beiden saßen nun schon seit einigen Stunden auf einer Parkbank und sahen sich Passanten an, wobei sich Beppo ausschließlich um hübsche weibliche Exemplare kümmerte und Kevin stumm daneben saß, um auf Beppos Bemerkungen bezüglich Brust- und Hinterngröße zu nicken.
„Sieh’ doch, sieh’ doch!“ Beppo knuffte Kevin in die Seite.
„Ja, is’ ja gut! Ich seh’s.“ Kevin schützte seine Seite, indem er seinen Ellenbogen hängen ließ und kaute weiter auf seinem Streichholz herum.
„Ach, nun komm’ schon!“, bemerkte Beppo schließlich und lehnte sich lässig zurück. „Du kannst genauso gut anfangen, es zu genießen!“
Kevin beugte sich langsam vor, nicht ohne seine Seite weiterhin zu schützen, die in den letzten Stunden öfter Bekanntschaft mit Beppo’s Ellenbogen gemacht hatte. „Ehrlich gesagt, fällt es mir etwas schwer mich auf so was zu konzentrieren. Ich hing an meiner Frau.“
Beppo sah ihn mit verkniffenem Mund an. „Du hast Recht. Ich bin ein unsensibles Arschloch. Tut mir leid.“
Eine Weile saßen die Beiden stumm da und hingen ihren Gedanken nach.
„Hör’ mal, was machen wir hier eigentlich?“, fragte Kevin schließlich.
„Was wir hier machen?“ Beppo stieß einen kurzen gackernden Lacher aus. „Wir sitzen einfach in der Gegend rum und sehen uns die Leute an.“
„Aber wozu?“
Beppo überlegte kurz. „Schwer zu sagen. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen. Im Prinzip ist es vollkommen egal, was wir tun. Ich glaube, eines unserer wichtigsten Aufgaben ist es, zu beobachten und zu lernen.“
„Lernen? Was denn?“ Kevin spuckte das Streichholz aus und blickte Beppo erwartungsvoll an.
„Naja, was Menschen so für Fehler machen. Fehler, die immer wiederkehren. Fehler, die wir beide, du und ich, genauso gemacht haben. Fehler zu erkennen, um aus ihnen zu lernen.“
„Das verstehe ich nicht. Wem soll das etwas bringen? Und wieso zum Teufel wird man in Zweierteams losgeschickt?“
Beppo streckte sich und stand auf. „Kleiner, du stellst zu viele Fragen. Du machst dir zu viele Gedanken. Hör’ auf damit. Ich bin selber noch nicht so lange dabei und habe selbst auf viele Fragen keine Antwort. Was wir tun, ergibt auf irgendeine Art und Weise Sinn, versprochen! Gibst du dich damit zufrieden?“
Kevin sah erneut auf die gegenüberliegende Straßenseite. Menschen wuselten hin und her und schienen sich um nichts Gedanken zu machen. Keiner von ihnen bemerkte, dass er und Beppo hier saßen und sie beobachteten. Schließlich stand auch er auf und zuckte mit den Achseln.
„Okay, wie auch immer! Ich hab’ keine Ahnung, was das hier soll, aber wenn du sagst, es ist okay, dann wird es wohl so sein.“
Beppo klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Braver Junge. Was hältst du von einem Tapetenwechsel? Ich glaube, ein paar Straßen weiter haben sich Hank und Charlie auf die Lauer gelegt. Die sind schon ewig dabei, vielleicht können wir sie ein wenig ausquetschen, hm? Was hältst du davon?“
Kevin nickte langsam.
„Dann los!“
Sie durchquerten den Park, wobei Beppo mehrere dreckige Bemerkungen von sich gab, als sie sich einer Parkbank näherten, auf denen zwei Mütter ihren Babies gerade die Brust gaben.
„Ach, du meine Fresse! Sieh’ dir mal diese Melonen an! Und der Rest ist auch nicht zu verachten, oder? Mann, ich sag’ dir, bei so einer Mutter hätte ich mir meine Geschwister selber gemacht, ehrlich!“
Kevin sah kurz auf die entblößten Brüste der Mütter und ging weiter. Beppo war kurz stehen geblieben, um den Anblick noch ein wenig länger zu genießen und machte schließlich seufzend kehrt, um Kevin nachzulaufen. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her. Beppo warf Kevin einige verstohlene Blicke zu.
„Es wird alles wieder gut, ehrlich“, sagte er schließlich. „Du glaubst es jetzt vielleicht noch nicht, aber du wirst bald drüber hinwegkommen.“
Kevin sah ihn kurz an, ehe er beide Hände in seine Hosentaschen steckte und mürrisch weiterging.
„Wann war noch mal der Termin?“, fragte Beppo und pflanzte unwillkürlich auch beide Hände in den Taschen seiner Jeans.
„Um 10 Uhr.“, antwortete Kevin.
„Und du willst wirklich hingehen?“
„Ich schätze schon. Ich muss mir das ansehen, um es verstehen zu können. Irgendwie sagt mir jeder, was Sache ist, aber irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, es zu glauben.“
„Wie lange wart ihr denn getrennt?“
Kevin legte den Kopf in den Nacken und überlegte. „Hm, wir haben uns vor einem knappen halben Jahr getrennt. Du weißt schon, ein bisschen Freiraum, um über die Zukunft nachzudenken und so. Sich wieder sicher sein, dass man den richtigen Partner hat.“
„Scheint, als wäre es nicht so gut gelaufen, hm?“ Beppo lächelte sauer.
„Von wegen.“, gab Kevin mürrisch zurück.
Sie verließen den Park und spazierten eine stark frequentierte Straße entlang, die in einen größeren Platz mündete.
„Da vorne sind die Zwei!“, sagte Beppo schließlich und zeigte auf einen Springbrunnen, vor dem es sich zwei Gestalten gemütlich gemacht hatten. Sie beschleunigten ihre Schritte und liefen quer über den Platz zum Brunnen.
Hank und Charlie hatten es sich vor dem Brunnen bequem gemacht. Beide trugen Sonnenbrillen und saßen lässig auf den Stufen, als würden sie darauf warten, dass jemand Fotos von ihnen machte.
„Na, ihr zwei, was geht?“, fragte Beppo und ließ sich ebenfalls auf den Stufen nieder.
„Alles klar, Bep!“, sagte Hank
„Alles locker, Kleiner!“, sagte Charlie. „Wer is’n der Neue da?“, fragte er, nachdem er einen kurzen Blick auf Kevin geworfen hatte.
„Das ist Kevin. Er ist erst ein paar Tage dabei.“ Beppo streckte seine Beine aus und gähnte.
Hank lugte kurz über den Rand seiner Sonnenbrille, um den Neuankömmling zu begutachten, ehe er seine Brille wieder hochschob und seine alte Position einnahm.
„Dann sag’ ihm mal, er soll seinen Arsch hinpflanzen, er macht mich nervös.“
Kevin setzte sich stirnrunzelnd neben Beppo, ohne etwas zu sagen.
Die vier saßen einige Zeit vor dem Brunnen. Beppo, Hank und Charlie gaben abwechselnd dreckige Bemerkungen von sich, worüber alle drei wild kicherten. Kevin legte den Kopf zurück und schloss seine Augen. Er fühlte die Sonnenstrahlen auf seiner Haut und fragte sich, wann er das letzte Mal bewusst die Sonne gespürt hatte. Seine Gedanken kreisten um Claire, seine Frau. Es war aus. Ein Lastwagen hatte von einem Tag auf den anderen alle Möglichkeiten zunichte gemacht, ihre Differenzen aus der Welt zu schaffen. Er hatte keine Möglichkeit mehr gehabt ihr zu sagen, dass es ein Fehler gewesen war, sich von ihr zu trennen und dass er seinen Fehler eingesehen hatte. Und nun war es zu spät. Er sah sie vor sich, wie sie vor einigen Jahren ihren Urlaub am Meer verbracht hatten. Ihr strohblondes Haar, ihre zierliche Figur, ihre sonnengebräunte Haut. Er tauchte vollends in diese Erinnerung ein und döste im warmen Sonnenlicht vor sich hin.
Ein Ellenbogen in seiner Seite weckte ihn unsanft. Kevin schreckte hoch.
„Alter, ich wollte dir nur sagen, dass es kurz vor 10 Uhr ist.“ Beppo hockte vor ihm und grinste ihn dumm an.
Kevin sprang auf und sah sich desorientiert um.
„Wieso hast du mich nicht früher geweckt?“
Beppo stand langsam auf und klopfte sich den Staub von seiner Jeans. „He, seh’ ich aus, wie der Weckdienst, oder was?“
Kevin spritzte sich Wasser vom Springbrunnen ins Gesicht, zog sein T-Shirt hoch und trocknete sich ab. „Okay, ich muss los!“
„Alles klar, ich komme mit. Ich kenne da eine Abkürzung!“
Sie verließen den Springbrunnen, riefen Hank und Charlie ein kurzes „Bis dann!“ zu und machten sich auf den Weg zum St. Peter’s Friedhof am anderen Ende der Stadt.
* * * * *
Die Trauergemeinde begann sich aufzulösen. Den Sarg war schon in die Grube gelassen worden und zwei Männer begannen bereits die Erde zurückzuschaufeln.
Kevin und Beppo standen atemlos im Schatten einiger Bäume und versuchten wieder zu Atem zu kommen.
„Mist, zu spät!“ keuchte Kevin.
„Ja.“ japste Beppo und lehnte sich an einen Baumstamm.
Sie setzten sich in den Schatten der Bäume und beobachteten die zwei Totengräber, wie sie das Grab herrichteten und mit ihrer Gerätschaft abzogen. Schließlich stand Kevin auf und ging zum Grab. Beppo erschien kurze Zeit darauf hinter ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Tut mir leid, Mann.“
Kevin nickte stumm.
„Alter, sieh’ mal da drüben!“, sagte Beppo und deutete auf ein paar übrig gebliebene Trauergäste. „Mann, diese Blondine hat echt ein verdammt heißes Fahrgestell! Kennst du die?“
Kevin warf einen Blick auf die Personen, die sich vor einer kleinen Kapelle versammelt hatten, ehe er seinen Blick wieder dem Grab zuwandte.
„Das war meine Frau.“, sagte er schließlich traurig.
„Oh, Shit! Tut mir leid!“, gab Beppo betroffen von sich, warf noch einmal einen Blick auf das Rasseweib und fragte sich, wie um alles in der Welt Kevin so dumm gewesen sein konnte, sich von so einer Frau zu trennen.
„Irgendwie seltsam sich am eigenen Grab zu besuchen.“, sagte Kevin schließlich und drehte sich um.
„Und dann auch noch zu spät.“, bemerkte Beppo grinsend. „Das ist eigentlich zu schön, um wahr zu sein, oder? Zu spät zu seiner eigenen Beerdigung! Kennst du den Spruch?“ Er begann zu lachen.
Kevin sah Claire nach, die gerade den Friedhof verließ und betrachtete danach Beppo. Er hatte verdammt noch mal Recht! Man konnte sich genauso gut sofort mit dem Gedanken anfreunden, tot zu sein. Er legte Beppo seinen Arm auf die Schulter und fiel, zuerst leise, dann laut losprustend in dessen Lachen ein.