Zimt und Jasmin
Er wusste nicht, wie spät es war, als er erwachte. Er wollte sich gerade umdrehen, um weiter zu schlafen, als er etwas spürte. Unwillkürlich stellten sich die kleinen Härchen in seinem Nacken auf. Er war nicht mehr allein, jemand war in seinem Schlafzimmer.
Mit der linken Hand tastete er vorsichtig unter seine Matratze, wo er das Jagdmesser aufbewahrte.
Als sich seine Finger um den kühlen Griff legten, fühlte er sich besser.
Er zog das Messer aus der Scheide und ließ es langsam unter seiner Bettdecke verschwinden.
„Wer ist da?“ fragte er nun vollkommen ruhig. Aber in seinem Schlafzimmer blieb es still.
Er lauschte angestrengt in die Stille, aber außer dem gleichmäßigen Ticken seiner Wanduhr und entfernten Straßenlärm, der durch das halb geöffnete Fenster drang, war es ruhig.
Peer drehte sich zur Seite und steckte das Messer zurück unter die Matratze.
Wahrscheinlich hatte er wieder mal einen lebhaften Traum gehabt und dadurch beim Aufwachen nicht direkt zurück in die Realität gefunden. In seinen Träumen konnte er nach wie vor sehen, auch wenn immer mehr Traumbilder durch Geräusche ersetzt wurden.
Seit seinem kleinen Unfall vor acht Monaten war er blind. Er war einfach unaufmerksam gewesen und hatte damit der kleinen Schlampe die Chance gegeben, ihm dieses Zeug in die Augen zu kippen. Die Schmerzen waren unvorstellbar gewesen, trotzdem war sie ihm nicht entkommen. Schnell und gezielt hatte er ihr das Genick gebrochen.
Darüber hatte er sich besonders geärgert. Er hatte alles lange und sorgfältig geplant.
Er hatte von ihr zehren wollen, Tage oder sogar Wochen. Sie hatte ihm alles zu Nichte gemacht und ihm noch dazu sein Augenlicht geraubt.
Trotz alledem war es aber auch eine Gabe. Die Menschen waren viel hilfsbereiter und hatten Mitleid mit einem armen, blinden Mann. Er brauchte nicht mehr so lange, um Vertrauen zu seinen Opfern aufzubauen. Sein letztes Opfer war ein kleines Mädchen von neun Jahren gewesen. Er hatte ihr vorgegaukelt, nicht alleine nach Hause finden zu können und sie hatte ihn in den Wald begleitet zu der kleinen Hütte oben am Hügel.
Dort war es ihm nicht schwer gefallen, sie zu fesseln und zu quälen. Vorher hatte er sich an der Todesangst in den Augen seiner Opfer gelabt, jetzt genoss er ihren intensiven Geruch bei deren Erkenntnis des nahen Todes, ihrem stoßenden Atem, ihrem zitternden Körper, ihrem Flehen um Gnade.
In drei Tagen würde es wieder so weit sein, ein kleiner Junge. Er hatte schon ein paar Mal mit ihm gesprochen. Er ging immer alleine vom Kindergarten nach Hause. Er musste nur den richtigen Moment abpassen.
In Gedanken an den Kleinen lächelnd, driftete Peer in den Schlaf zurück, als ein süßlicher Duft ihn plötzlich wieder hochfahren ließ.
Es roch nach Zimt und Jasmin. Er kannte diesen Duft, konnte sich aber nicht erinnern woher.
„Wer ist da?“ fragte er noch einmal, während er sein Messer bereits wieder in seinen Händen hielt.
Der süße Duft hüllte nun den ganzen Raum ein.
„Hallo Peer“, zischte es leise an seinem rechten Ohr. Die Stimme war zu leise, um sie jemandem zuordnen zu können. Er wusste nicht, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelte, aber das war auch egal, denn diese Person war unrechtmäßig in seine Wohnung eingedrungen und stand nun neben seinem Bett. Sie konnte ihm kaum freundlich gesonnen sein.
Also drehte er sich schnell auf die andere Seite und stieß mit seinem Messer blitzschnell in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Die Klinge ging ins Leere. Er versuchte es noch einmal etwas weiter links und dann noch mal weiter rechts. Ohne Erfolg.
Auf der anderen Seite des Bettes vernahm er nun ein leises Kichern.
„Aber nicht doch, Peer“, zischte die Stimme jetzt wieder so leise, dass er es kaum verstehen konnte.
Der überschwängliche, süße Duft ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Schweiß brach ihm aus. Dies war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich hilflos fühlte.
„Wer sind Sie, was wollen Sie?“ fragte er in den Raum hinein und versuchte sich so aufzusetzen, dass er sich möglichst zu allen Seiten verteidigen konnte, wenn man ihn angreifen sollte.
Aus einer völlig anderen Richtung als noch vor wenigen Sekunden erklang die Stimme jetzt erneut. Er hatte keine Schritte gehört, niemand kann sich völlig lautlos bewegen. Das Messer in seiner Hand glitschte in seinem Schweiß.
„Ich kann dir helfen“. Peer drehte seinen Kopf hektisch in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er hatte bisher nie Angst in seinem Leben gehabt, aber nun spürte er die Furcht tief in seinen Knochen. Irgendwas an dieser Stimme war nicht richtig. Dieser Geruch, er sollte ihn an etwas erinnern, aber er kam nicht darauf.
Als er nicht antwortete, sprach die Stimme zischelnd weiter.
„Ich kann dich heilen, Peer, du musst es diesmal nur anders machen!“ Wieder erklang dieses Kichern.
Etwas zupfte an seiner Bettdecke. Wild stach er mit dem Messer in die Richtung und traf dabei seinen eigenen Fuß. Vom Schmerz überwältigt schrie er auf.
Das Lachen klang nun voller, wirklicher.
„Das war ein wenig dumm, findest du nicht auch?“ hänselte ihn die Stimme.
Peer umklammerte das Messer und zog es aus der Wunde. Schmerz explodierte in seinem Fuß und ließ ihn laut aufstöhnen.
„Verdammt noch mal, verschwinden Sie aus meinem Haus, oder ich werde Sie töten“, wandte er sich stöhnend an die Stimme und versuchte dabei, selbstsicher zu klingen. Heraus kam aber nur ein ängstliches Wimmern.
„Oh, ich werde gehen, sobald du wieder siehst“, sprach die Stimme, die er immer noch nicht zuordnen konnte.
„Ich will nicht, verschwinden Sie“, schrie er nun. Ihm wurde schwindelig, scheinbar war die Wunde an seinem Fuß doch schlimmer, als er zunächst angenommen hatte.
Nun war die Stimme direkt an seinem Ohr, nein, eigentlich eher in seinem Ohr, er schlug wild mit den Händen um sich, griff aber nur in die Luft.
„Aber du musst sehen“, säuselte die Stimme in seinem Ohr.
Und dann fühlte er, wie eine massenlose Substanz nach ihm griff, in seinen Kopf drang, eine namenlose Kälte, Fühler, die seine Erinnerungen speisten und verschlangen.
Es warf ihn in sein Kissen zurück, was er fühlte war so furchtbar, dass er sich röchelnd und gekrümmt nach dem Tod sehnte.
Angst, die er zuvor nicht kannte durchfuhr seinen Körper wie eine Explosion, jeder einzelne Muskel zuckte unkontrolliert, Speichel rann aus seinen Mundwinkeln, Hoffnung auf Rettung durch Mama und Papa, das Flehen um Erlösung, die Bitte nach dem nackten Überleben, zerstörtes Vertrauen und zuletzt Resignation. Bei zwölf Kindern waren das eine Menge psychischer Qualen. Qualen, die ihn einst erregten und ihm Lebensfreude bereitet hatten.
Jetzt brachten sie ihn um.
Er dachte, dass es niemals aufhören würde, als er plötzlich spürte, wie sich das Fremdartige, welches sich über seinen Geist gelegt hatte, entfernte. Die Kälte zog sich aus seinem Kopf zurück und er schaffte es wieder, kontrolliert zu atmen. Das Bettlaken unter ihm war klebrig und nass. Er begann zu weinen. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, alle Reflexionen, die ihm durch den Kopf schossen, waren wirr und sinnfrei.
Minutenlang lag er nur da und atmete flach, ohne sich zu regen.
Die Stimme, die dann zu ihm sprach, nahm er nur ganz oberflächlich wahr. Wie die Hintergrundmusik in einem überfüllten Kaufhaus, in dem die Menschen genervt mit ihren schreienden Kindern durch die Gänge liefen, um noch vor Geschäftsschluss letzte Besorgungen zu machen.
„Alles hat seine zwei Gesichter. Ich will sehen, du bist nutzlos für mich“
Der Duft von Jasminblüten und Zimt lag in der Luft. Peer atmete den wohligen Geruch tief ein. Er war dem Mädchen in den Blumenladen gefolgt. Ihre blonden Zöpfe hatten gewippt, als sie lachend vor ihm weg gelaufen war.
Nun stand sie hinter den vielen Kübeln mit den duftenden Blumen und winkte ihm, ihr zu folgen. Er ging vorsichtig zwischen den Blumen hindurch und sah sie unter einem Tisch hockend. Er kroch zu ihr unter den Tisch und lächelte sie an.
„Ich bin ein Engel“, sagte sie lächelnd zu ihm.
„Das glaube ich dir auf`s Wort“, erwiderte er lachend. „Darf ich in deinem Herzen wohnen?“ fragte sie ihn und blickte ihm tief in die Augen.
„Für immer darfst du das“, sagte er in der Hoffnung, sie nun küssen zu dürfen.
Sie küsste ihn und dann wurde er ohnmächtig. Als er wieder erwachte, fand er sich in seinem Bett wieder. „Ein Traum“, dachte er. Er sah das Mädchen nie wieder. In der nächsten Woche begang er seinen ersten Mord.
Jasmin und Zimt, Zimt und Jasmin. Sie war immer in seinem Herzen gewesen, bis jetzt.
Der Duft verschwand und damit auch sein Verstand.