Zorn, oh Zorn
Sie weinte rotes Blut.
Meine Hände fuhren sanft über ihr Gesicht, in der Hoffnung, sie noch ein letztes Mal lächeln zu sehen. Ich sah kein Lächeln - nur Blut.
Kraftlos lag sie auf dem Boden und versuchte verzweifelt sich aufrecht gegen die Wand zu lehnen. Ihr einst wunderschönes, braunes Haar war blutgetränkt, einzelne Strähnen hatten sich verklebt.
Ich kniete hilflos neben ihr - konnte sie nicht mehr retten, nicht mehr beschützen. Die Wunde, welche ihren Bauch zierte, war zu tief und zu rot. Sie fürchtete sich vor der bevorstehenden Dunkelheit.
Ich nahm ihre Hand in meine und drückte sie gegen meine Wange. „Wer hat dir das angetan?“ Ich drückte fester auf ihre Hand, in der Hoffnung ihr etwas Sicherheit zu geben.
Als sie sprechen wollte, kamen statt Wörter nur rote Tropfen aus ihrem Mund, die sich langsam ihren Weg über ihr Kinn bahnten. Erst jetzt begriff ich, dass sie sterben würde.
Liebe hält niemanden am Leben, das kann nur Blut.
„Wer hat dir das angetan?“ , fragte ich erneut.
Diesmal drehte sie ihre Augen weg. Die tiefen, blauen Ozeane wiesen auf ein schemenhaftes Regal. Sie zeigte mir ihren Mörder.
Bevor ich mich umdrehen konnte, verstärkte sich ihr Händedruck. Ihr Atmen wurde ein letztes Mal schneller. Ihre Augen suchten in meinen Halt. Dann erkaltete ihr Blut, ihr Herz hörte auf zu schlagen, das Leben wich aus ihren Augen.
Ich legte ihre Hand vorsichtig auf den Boden. Ich spürte Wut in meinen Arterien anschwellen, Zorn, der in meinem Blut zu kochen begann. Meine Hand, die gerade noch meine Liebe gehalten hatte, ballte sich zu einer hassenden Faust.
Ich stand auf, konnte den Anblick nicht mehr ertragen, und ging zum Regal. Im mittleren Fach stand ein Katana fein säuberlich auf seinem mit Samt verzierten Ständer. Seinen leuchtend gelben Griff schmückte ein roter Händedruck, das Blut auf den Ständer tropfend. Die hellgelbe Schwertscheide verdeckte die Klinge.
Ich wusste, dass sie tiefrot gefärbt sein würde, trotzdem glaubte ich nicht daran.
Als ich das Katana aus seiner Scheide befreite, erkannte ich den Stahl nicht mehr. Die gesamte Klinge war mit einer Schicht von dünnem Blut überzogen, das die Luft nach Eisen riechen ließ. Es gab nur ein Katana wie dieses in meiner Hand.
Ich kannte ihren Mörder. Es war mein Meister.
Ich betrachtete das japanische Schwert etwas. Bin ich ihm würdig? Die einzige Möglichkeit das herauszufinden, war zu fragen.
Die Schwertscheide befand sich in meiner linken Hand, die Klinge in meiner rechten. Ich warf das Schwert drehend in die Höhe und streckte meinen rechten Arm waagrecht aus. Wild flog das Katana in die Höhe, die Klinge erst gegen die Decke, dann gegen den Boden, dann wieder gegen die Decke gerichtet. Dann bewegte es sich kreisend auf meinen Arm zu.
Zorn, oh Zorn, verrate mich nicht.
Die stumpfe Seite der Klinge traf sanft auf meinen Arm, bevor sich die Spitze des Schwertes in den Boden bohrte. Ich bin würdig, war die Antwort des Schwertes. Das Katana verschwand wieder in seiner Schwertscheide. Schnell verließ ich den Raum, seine Konturen bereits vergessen und vergangen, das Schwert in meinen Armen, um meine Liebe zu rächen.
Als ich ihm endlich gegenüber stand, sah ich keine Farben mehr. Der wunderschöne Sonnenuntergang, der die riesige Wiese erleuchtete, verlor seine Wärme. Ich sah nur noch Schwarz und Weiß, während das Blut durch meinen Körper raste.
Ich schaute in sein Gesicht, doch erkannte nichts. Das Katana in seiner Hand verließ seine Scheide, nachdem meines schon lange die Freiheit genoss.
Ich habe nie nach dem Warum gefragt, trotzdem antwortete mein Meister auf eben diese Frage.
„Nur wer lernt das Liebste zu verlieren, kann seinen Geist kontrollieren.“
Ich spürte keine Kontrolle. Ich spürte das Gegenteil - unkontrollierbaren Hass.
Als ich auf meinen Meister zu rannte, hatte eben dieser Hass meinen kompletten Körper durchdrungen. Er hatte die Farben verdrängt, er hatte die Wärme verdrängt, er hatte die Liebe verdrängt.
Er blockte meinen ersten Hieb, mein zweiter folgte sogleich.
Mein Meister war leicht in seinen Bewegungen und ruhig in seinem Geiste. Dagegen war ich eine kochende Maschine, deren einziges Ziel war, zu töten.
Das Spiel zog sich über die Wiese, die Sonne immer weiter hinter dem Horizont verschwindend. Meine Kraft schien unerschöpflich, ein Hieb folgte dem Nächsten, keine Sekunde verging ohne erneutes Zuschlagen. Mein Meister hingegen schlug nie zu. Der Tanz ging weiter.
Dann fing ich an vor Wut zu schreien. Alle meine Sinne froren ein - ich nahm nichts mehr wahr. Ich durchbrach seine Deckung, mein Schwert trennte den Kopf von seinem Körper. Das Gesicht schien kurz in der Luft zu schweben, das Blut wie kalter Regen hinunterfallend. Meine Rache war eingetroffen.
Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Es wurde dunkel und ich sah wieder die Farben. Es gab jedoch keine Farben mehr, außer dem Rot, das mein Katana zierte. Ich ließ es in der Scheide verschwinden und warf es auf den Boden, die Wiese ein sanftes Bett bildend.
Meine Wut hörte auf zu kochen, mein Hass ebbte langsam ab. Ich fühlte Leere. Mein Geist beruhigte sich und ließ sich kontrollieren. Erst jetzt empfand ich Trauer um sie. Ich hatte sie verloren.
Zorn, oh Zorn, warum hast du mich verraten?