Zorn
„Ich kann doch auch nichts dafür, dass wir so wenig Geld haben.“ Sagte er und blickte auf den mager ausgefallenen Geschenke Tisch seines Sohnes. Er blickte seine Frau an.
„Du kannst dir das nicht vorstellen. Die nehmen einem alle Arbeit weg.
So billig wie deren Arbeit ist, sind die auch zu haben.“
„Es ist mir gleich was du für Ausreden erfindest. Ich will davon jetzt nichts mehr hören. Bitte benimm dich heute einfach. Für Martin, er ist doch noch so klein. Er versteht das alles doch noch gar nicht.“
fügte sie hinzu und versuchte die Alkoholfahne, die sie von ihrem Mann schon viel zu gut kannte, zu ignorieren.
„Komm, wir können ihn jetzt wecken und für ihn singen. Wie jedes Jahr.“
Als Martin sie näher kommen hörte lief er schnell wieder in sein Bett zurück. Er zog sich die Decke über den Kopf und stellte sich schlafend.
„Warum darf ich ihn nicht einladen? Er ist doch mein bester Freund.“
„Jetzt hör mir mal gut zu mein Junge. Der Vater deines Freundes, dieser Abdallah, arbeitet in der Fabrik, in der auch ich lange Jahre gearbeitet habe.“
Martin konnte sich nur noch schwach an die Zeit erinnern, als sein Vater jeden morgen in der Frühe aufgestanden war um zur Arbeit zu gehen. Doch auch hier sah er keinen Zusammenhang zu Fadil.
„Ich verstehe aber nicht, was das damit zu tun hat. Ich will Fadil einladen.“
„Mein Gott. Was ist daran so schwer zu verstehen? Der Kanake hat mir meine Arbeit gestohlen.“
Herr Abdallah sollte seinem Vater die Arbeit gestohlen haben? Wie kann man einem anderen die Arbeit stehlen. Martin konnte sich das kaum vorstellen, vor allem, da Fadils Vater immer so nett zu ihm war. Jedes Mal wenn Martin Fadhil besuchte, brachte der Vater ihnen irgendeine Köstlichkeit. Er hatte Fadhil darum ein wenig beneidet. Martin war entsetzt. Er wusste zwar nicht was „Kanake“ bedeutete, doch der Ton seines Vaters war nicht zu verkennen gewesen. Doch sein Vater hatte es gerade gesagt. Und der würde Martin niemals anlügen.
„Ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Immer steht er wie ein Sack Kartoffeln in der Ecke und sagt nichts. Warum sucht er sich keine Freunde?“
Die anderen lachten.
„Er denkt wohl, er wäre etwas Besseres als wir.“
„Dann sollten wir ihm vielleicht nach der Schule mal zeigen, dass das nicht der Fall ist.“
Wiederum heimsten Martins Worte großes Gelächter der anderen Jungen ein.
„Warst du nicht einmal mit ihm befreundet?“ wollte Florian plötzlich wissen. Alle starrten Martin an, der sofort rot anlief.
„Ach, das ist doch schon ewig her. Mit so einem dreckigen Lumpen will ich nichts zu tun haben, da muss man ja Angst haben, dass der einen nicht mit irgendeiner Krankheit ansteckt“ Sagte Martin und grinste.
Fadil stand mit dem Rücken zu der Jungengruppe auf dem Schulhof, sodass sie nicht die Tränen sahen, die ihm die Wangen hinuntertropften.
Martin kam mit dem Paket Tomaten, dass er für seine Mutter gekauft hatte, aus dem Supermarkt. Es war schon dunkel. Er bog nach rechts ab. Nur ein paar hundert Meter weiter konnte Martin den grauen Plattenbau sehen, in dem er und seine Eltern seit seinem dritten Lebensjahr wohnten. Er hasste diese, ihm so vertraute Gegend. Wenn er erst einmal die Schule beendet haben würde, würde er Pilot werden. Der Beruf, der es ihm ermöglichen würde mehr von der Welt zu sehen, als dieses Loch. Zwar liebte er seine Eltern über alles, doch das war kein Grund für ihn zu bleiben. Er hielt es nicht mehr aus, diese Enge, dieser Gestank nach Alkohol und Zigaretten.
Diese Schritte hinter ihm, er wusste dass es lächerlich war, doch er dachte oft an den kleinen Jungen, der irgendwo hier in der nähe tot aufgefunden worden war. Martin hatte schon immer ein wenig Angst im Dunkeln gehabt. Das gestand er sich jedoch noch nicht einmal vor sich selbst ein, geschweige denn vor seinen Freunden. Beruhig dich, sagte er sich, mach dich nicht zum Deppen. Dennoch beschleunigte er seinen Schritt und glaubte zu hören, wie auch die Schritte hinter ihm schneller wurden. Bildete er sich das nur ein? Er konnte die Angst nicht unterdrücken. Martin begann zu rennen. Doch der Verfolger hatte ihn bereits eingeholt und hielt ihn fest. Er baute sich vor Martin auf, sodass dieser das dunkle Gesicht und die braunen Augen erkennen konnte. Mehr konnte er jedoch nicht ausmachen, da ihm auf einmal ihm schwarz vor Augen wurde.
„Was ist passiert?“ wollte Schwester Tina den Jugendlichen, der vor einer Stunde mit einer schweren Kopfverletzung eingeliefert wurde doch bisher kaum eine Antwort auf ihre Fragen gegeben hatte.
„So ein verdammtes Ausländerschwein hat mich ohne Grund angegriffen.“
Sie war erschrocken über die tiefe Stimme. Sie war fast schon Angst einflößend.
Sie zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts sondern warf nur einen verstohlenen Blick auf seine Springerstiefel und das T-Shirt, unter seiner Bomberjacke, auf dem die Buchstaben „NSDA“ zu lesen waren. Dem wollte sie lieber nicht im Dunkeln begegnen, doch darum würde sich hoffentlich die Polizei kümmern.
„Komm schnell, da vorne ist er.“ sagte Martin, und lief ihm hinterher.
„Und der hat dich zusammengeschlagen?“ fragte einer seiner Freunde ein wenig ungläubig. Dem etwas schmächtig gebauten Fadhil mochte niemand so recht zutrauen, dass er den 1,85 großen Martin wirklich zusammengeschlagen hatte.
„Kommt einfach“ Sie gehorchten.
„Sie sind mit sofortiger Wirkung der Schule verwiesen.“ Sagte Professor Botcher zornig.
„Ach ja, aus welchem Grund. So einfach können sie das nicht.“
„Jetzt reicht es mir. Sie kennen den Grund sehr genau.“ Antwortete der Professor und verlor fast die Beherrschung unter seinem puterroten Gesicht.
„Nun gut, dann sage ich es Ihnen jetzt noch einmal. Erstens ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie und einige Ihrer Freunde, einen Mitschüler mit afghanischer Abstammung am Freitagabend abgefangen und auf übelste Weise misshandelt geschlagen haben. Sie können sich glücklich schätzen, dass er wieder heil aus dem Krankenhaus entlassen wurde, denn sonst sähe die ganze Sache anders für sie aus. “
„Und wenn es so wäre? Es hat nichts mit dieser Schule zu tun. Es ist nicht hier passiert.“
„So etwas dulden wir hier nicht!“ Der Direktor schlug mit der Hand auf den Tisch.
Martin war außer sich. Er hatte immer Abitur machen wollen. Er war so kurz davor gewesen und jetzt hatte ihm dieses Arschloch alles kaputt gemacht. Wie sollte er nun seine Ziele verwirklichen? Er biss sich auf die Lippen und versuchte seine Tränen zu unterdrücken. Es half nichts, sie liefen ihm haltlos die Wangen hinunter und wurden erst von seiner Jacke aufgefangen. Er hatte niemals so enden wollen wie sein Vater, doch jetzt erst Verstand Martin welch einen Schicksalsschlag dieser erlitten hatte, als er durch irgendein Drecksschwein seine Arbeit verloren hatte. Genau wie es bei seinem Vater ein Ausländer gewesen war, der ihn zu Boden gestürzt hatte, so war auch Martins Leben von einem zerstört worden. Er schlug mit der Hand gegen die Wand.
„Er ist tot.“ Schluchzte seine Mutter. Martin konnte es nicht glauben. Erst gestern hatte er mit seinem Vater telefoniert und mit ihm vereinbart bei seinen Eltern vorbeizuschauen.
„Aber, wie…“
Seine Mutter brachte unter ihren Schluchzern kaum mehr ein Wort hervor.
„Er war in der Kneipe. Da hat er sich…“
Sie brach ab, doch Martin konnte sich denken, was geschehen sein mochte. Sein Vater hatte sich mit irgendjemandem geprügelt.
„Dann hat er sich angeblich mit jemandem angelegt und ihm gedroht.“ Presste seine Mutter hervor. Martin konnte sich das nur zu gut vorstellen.
„Ich glaube das einfach nicht. Sie sagen, er habe einem anderen Mann mit Mord gedroht, wenn er die Kneipe nicht verlassen wolle. Und als dieser dann nicht auf ihn hörte, sei Papa einfach auf ihn losgegangen. Es war Notwehr, sagen die.“
Er musste hier weg. Jetzt hielt er es schon gar nicht mehr in der Enge der Wohnung aus. Ohne ein Wort ließ er seine Mutter haltlos schluchzend am Küchentisch sitzen.
Martin empfand eine sonderbare Befriedigung. Bei jedem Schlag, den er dem anderen Versetzte spürte er ein Gefühl der Macht. Er konnte machen was er wollte. Es war, als sei er Gott. Unbarmherzig schlug er weiter auf ihn ein.
„Für meinen Vater!“
Er versetzte ihm einen erneuten Schlag in die Magengegend.
„Für eure ganze bescheuerte Sippschaft“
Er schlug weiter auf den wimmernden Fadhil ein. Er stellte alles dar, was Martin verabscheute.
„Wegen schwerer Körperverletzung wird Martin Klein zu vier Jahren Haft verurteilt.“
Martin konnte seine Mutter schluchzen hören, doch was ihm in diesem Moment mehr zu schaffen machte war etwas ganz anderes. Der Ausdruck des Mannes, der in der dritten Reihe des Gerichts saß. Es war kein Zorn, es war schlichtes Mitleid, was Martin da von Herrn Abdallah entgegengebracht wurde.