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Zu Früh

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12.03.2005
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Zu Früh

Ein seltsames Dröhnen erfüllte jeden Winkel von Pauls Bewusstsein. Brutal riss es ihn aus der tiefen dunklen Schwärze heraus, in der er sich seit mehreren Stunden befand. Er ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas festzuhalten, doch er griff nur in dunkle, seltsam flauschige Materie, die seinem hilflosen Griff keinerlei Widerstand entgegensetzte.
Er schlug schweißüberströmt die Augen auf und blickte in das dämmrige Zwielicht seines Schlafzimmers. Die „flauschige Materie“, die er immer noch verkrampft umklammerte, stellte sich als sein Kopfkissen heraus. Nur ein Albtraum, konstatierte er erleichtert und warf das Kissen auf den Fußboden.
Dennoch, das dumpfe Dröhnen aus dem Traum war immer noch da. Paul sah sich nach der Quelle um, sein schlaftrunkener Blick fiel auf den altertümlichen Wecker, seine jüngste Errungenschaft. Irgendetwas stimmt daran nicht. Er rieb sich irritiert die Augen. Doch die eigentümlich verdreht wirkenden, mit feinen Verzierungen versehenen Zeiger des großen klobigen Weckers drehten sich immer noch in einer atemberaubenden Geschwindigkeit umeinander, als hielten sie sich für die Rotoren eines Ventilators. Auch sollte das Zifferblatt eines Weckers normalerweise nicht in einer so unnatürlichen und schwindelerregenden Farbe strahlen, oder? Das dumpfe Dröhnen stammte offenbar von den beiden großen Glocken des Weckers, die von einem kleinen Hammer angeschlagen wurden. Gut, das war auch bei einem normalen Wecker so, allerdings bewegte sich dieser Hammer so schnell hin und her, dass er schon angefangen hatte zu glühen und eine Spur winziger Funken nach beiden Seiten versprühte. Aber er läutete nicht, wie es zu erwarten gewesen wäre.
Paul schwang die Beine über die Bettkante. Schlagartig hörte das Dröhnen auf, der kleine Hammer bewegte sich nicht mehr. Die Zeiger setzten ihren rasenden Tanz allerdings fort, so dass es unmöglich war, eine Uhrzeit abzulesen.
Paul schüttelte ungläubig den Kopf. Bestimmt gab es eine einfache Erklärung für alles. Jetzt war es aber noch eindeutig zu früh, um nachzudenken. Jetzt brauchte er erst mal Kaffee. Er gähnte herzhaft, stand schwankend auf und schlurfte mit verquollenen Augen und einsetzendem Brummschädel in die Küche, nicht ohne auf dem Weg dorthin fluchend ein paar mannshohe Bücherstapel umzuwerfen, die bislang den Gesetzen der Schwerkraft erstaunlicherweise getrotzt hatten. Er sollte mal irgendwann aufräumen, aber nicht um diese Uhrzeit, die…ja wie spät war es denn eigentlich? Irgendwie schienen die ganzen Uhren im Raum ohne Strom zu sein. Seltsam. Paul erinnerte sich dunkel, warum er eigentlich gestern so früh aufstehen wollte: Er hatte doch einen Termin. Er wollte heute Morgen seinen Job für die Semesterferien antreten: ein Knochenjob als Regalpacker in einem Möbelhaus, wo er in aller Herrgottsfrühe die neuen zentnerschweren Kartons in die hohen Regale einräumen musste, bevor die kaufwütige Kundschaft zu einer Uhrzeit, zu der er normalerweise in seinem Bett noch friedlich schlummerte, die Filiale stürmten. Immerhin bezahlten sie ihn gut.
Da er schon des Öfteren seinen jeweiligen Job verloren hatte, weil er den Arbeitsantritt mal wieder verschlafen hatte, wollte er diesmal unbedingt pünktlich erscheinen und hatte den seltsamen Wecker gestern sicherheitshalber auf eine frühe Uhrzeit eingestellt – welche genau das gewesen war, fiel ihm nicht mehr ein. Jedenfalls sehr früh.
Überhaupt, der Wecker! Er hatte ihn gestern zusammen mit einer Metallkiste auf einem Flohmarkt erworben, genauer gesagt hatte er nur die Kiste dem skurrilem Verkäufer mit dem bodenlangen Bart abkaufen wollen – er hoffte darin zuhause einige seiner wertvolleren Bücher beim nächsten Umzug sicher unterbringen zu können – und hatte nicht geahnt, dass die Kiste einen doppelten Boden besaß, in dem er später den merkwürdigen Wecker gefunden hatte. Der Verkäufer wollte sie vor einigen Jahren beim Tiefseetauchen gefunden haben. Paul hatte ihm allerdings kein Wort geglaubt.

In der Miniatur-Küche seiner winzigen, aber überteuerten Wohnung nahm er die Kaffeekanne aus der Maschine und öffnete mit der anderen Hand den Hahn, um sie mit Wasser zu füllen. Paul überlegte sich, was er gestern Abend in der Kneipe alles getrunken hatte und bis zum 12. Bier konnte er noch die Geschehnisse der Nacht rekonstruieren, danach stellte sich alles in seiner Erinnerung etwas unübersichtlich dar. Vermutlich stand er immer noch unter dem Einfluss des Restalkohols (oder Schlimmerem), was dieses komische Weckererlebnis erklären konnte - oder auch die Tatsache, dass es gerade so aussah, als flösse das Wasser nicht aus, sondern aus dem Abfluss in den Kran zurück. Die Illusion, nicht anderes konnte es ja sein, blieb sogar noch aufrecht, als er versuchsweise die Kanne unter den Hahn hielt – der Wasserstrahl prallte jetzt von der Unterseite der Kanne ab und das Wasser verteilte sich in und auf der ganzen Spüle. Lustig.

Paul verschob das Unterfangen „Kaffeekochen“ auf später und beschloss, sich erst mal um seine einsetzenden Kopfschmerzen zu kümmern, die schon zaghaft, aber zunehmend forscher von innen gegen seine Schädeldecke klopften und um seine Aufmerksamkeit buhlten. Vielleicht würden dann mit ein, zwei Aspirin auch seine Halluzinationen allmählich verschwinden.
Er taperte also Richtung Bad. Hm, anscheinend hatte er gestern das Licht dort brennen lassen. Er öffnet die nur angelehnte Tür und verharrte mitten in der Bewegung.
Unter dem Waschbecken lag ein kleiner Zwerg (komplett ausgestattet mit Zipfelmütze und weißem Vollbart) und schraubte mit einem riesigen Schraubenschlüssel angestrengt an den Eingeweiden seiner Wasserversorgung herum. Auf den Ohren saß ein riesenhaft wirkender Kopfhörer (den Paul als seinen eigenen identifizierte) über den er anscheinend Musik hörte. Nach dem Brummen zu schließen, das nach außen drang, offenbar Heavy Metal.
Paul durchforschte kurz sein Gedächtnis, ob er einen Handwerker für heute morgen bestellt hatte – zudem einen, der Ähnlichkeiten mit Schneewittchens WG-Mitbewohnern hatte – und entschied sich für ein klares Nein.
Er trat einen Schritt zurück und schloss vorsichtig die Tür, um erst einmal Zeit zu gewinnen…

Gimpli Gunnarson, technischer Facility Manager zweiundzwanzigster Klasse, Sozialnummer 7242 A /23 im dreitausendeinhundertundsechszehnten Dienstjahr summte leise mit, als er die Muffe mit dem 13erSchlüssel um eine Vierteldrehung nachjustierte. So, jetzt sollte das Ganze erstmal ein Weilchen halten, es sei denn, der dämliche Mundano würde einen von diesen bescheuerten Klemp…, Klamp… na ja, wie immer diese Rohrleitungsfuzzis hießen, beschäftigen und seine ganze nächtliche Arbeit hier zunichte machen. Er warf den Schraubenschlüssel zurück in seinen Werkzeugkoffer und kroch unter dem Waschbecken hervor. Der Hahn tropfte jetzt wie gewünscht platschend in unregelmäßigen, enervierenden Abständen. Perfekt. Gimpli betrachtete stolz sein Werk und wischte sich die verschmierten Hände an seinem Overall ab (wobei er vermutlich mehr Schmutz von dem Kleidungsstück auf seine Hände übertrug als umgekehrt). Noch ein paar Jährchen in der 22.Klasse und seiner Beförderung in die nächsthöhere Dienst-Etage stand nichts mehr im Wege. Vielleicht würde er sich dann auf die Mundano-Fahrzeug-Sparte spezialisieren können, da wurde momentan jede Hand gebraucht und die Aufstiegschancen waren nicht übel. Ob damit auch seine Attraktivität bei den Damen steigen würde? Er dachte da speziell an Biccha, die hübsche Zwergin aus der Sozialverwaltung. Er streckte sich ein wenig, um sein Spiegelbild in dem Badezimmerspiegel erkennen zu können, und strich sich den Bart glatt um dynamischer zu wirken. Im Spiegel tauchte plötzlich ein Schatten hinter seinem Konterfei auf. Alarmiert drehte er sich zur Badezimmertüre um, aber es war schon zu spät: Ein muffiger, nach Kartoffeln stinkender Jutesack wurde über seinen Kopf und seinen Oberkörper gestülpt. Wild in Gegenwehr mit den Armen und Beinen strampelnd verlor er das Gleichgewicht, sein Kopf stieß gegen etwas Hartes und die Welt verlor sich in undurchdringlicher Schwärze…

Als der Zwerg erwachte, fand er sich mit Klebeband an Armen und Beinen an einen für ihn viel zu großen Stuhl in der kleinen Küche gefesselt wieder. Der Sack war verschwunden, ebenso der Kopfhörer. Der Mundano wühlte gerade interessiert in Gimplis Werkzeugkoffer und blickte auf, als er bemerkte, dass sein Gefangener wieder bei Bewusstsein war. Der Mundano? Aber das war doch unmöglich! Das Erdvolk sollte doch überhaupt keine Ahnung von ihnen haben. Wieso schlief er denn nicht, wie alle anderen zu dieser Zeit? Der Mundano grinste ihn breit an, während er sich einen Stuhl heranzog und sich rittlings darauf setzte.
Verdammte Feenkacke, dachte Gimpli während in ihm die Panik hochstieg, bloß kein zweites Köln. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
„Also gut“, sagte Paul, während er dem Zwerg prüfend ins Gesicht starrte, „was ist hier los?“
Gimpli, der verzweifelt versuchte, seine Panik niederzukämpfen, beschloss, dem Menschen nichts Wesentliches zu verraten. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, Erbsen zu benutzen – alles, nur dass nicht. Er schluckte. Zwerge verabscheuten Hülsenfrüchte.
„Gggg..gar nichts“, versuchte es der Techniker, merkte aber gleich, das er damit bei Paul nichts erreichte.
„Okay, zweiter Anlauf: Nichts, was Euch Mundanos was anginge“. Als er Pauls verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, verbesserte er sich. „Weltliche, Normalsterbliche, Menschen, Erdbewohner – Mundanos halt. Leute wie Du. Du solltest überhaupt nicht hier sein. Kein Mundano sollte während der Wartungsarbeiten wach sein. Du bist zu früh dran“.
Paul nickte, den Eindruck hatte er auch schon gewonnen. Zu früh war es eindeutig.
„Wartungsarbeiten?“, hakte er nach.
Der Zwerg biss sich verärgert auf die Lippen, er hatte sich verplappert. Besser er schenkte dem Sterblichen reinen Wein ein, sonst kam er hier nie raus.
„Hör zu: Je weniger Du von all dem hier weißt, desto besser für Dich. Du solltest mich sofort freilassen und in Dein Bett zurückkehren. Und alles hier vergessen. Glaub mir, wenn die da oben merken, dass ein Techniker der 22. Klasse fehlt, werden die Himmel und Hölle in Bewegung setzen um mich zu finden – und das ist buchstäblich gemeint. Schon mal von Köln gehört?“
Paul schaute etwas verwirrt drein. „Sicher, große Stadt am Rhein, Dom, Karneval, Bier in kleinen Gläsern…“
Der Zwerg schüttelte heftig den Kopf: „Ich meine nicht die Stadt im Generellen, sondern den Köln-Zwischenfall. Circa 500 Jahre her? Klingelt da was?“
Die Verwirrung in Pauls Gesicht wurde offensichtlich größer.
Ach verdammt, das sprichwörtliche beschränkte kulturelle Gedächtnis der Mundanos.
„Wir haben nicht viel Zeit, fürchte ich, daher die Kurzfassung: Eine Techniker-Crew der Männer um Hein Zell geriet damals in einen Code 312….wurde von einer Mundano entdeckt, meine ich, die sie versehentlich geweckt hatten. Sie erpresste die Truppe zunächst recht erfolgreich. Sollten ein paar Gelegenheitsjobs erledigen und so. Die Jungs hatten einfach Angst, dass sie Ärger bekämen. Schließlich kam es aber nach einiger Zeit raus und die Oberen waren nicht sehr amüsiert darüber. Sie beschlossen, nach der Bestrafung der Frau (glaub mir, die Einzelheiten willst Du nicht wissen) an der ganzen Stadt ein Exempel zu statuieren. Schon mal von Düsseldorf gehört?“
„Düsseldorf, dem Zwischenfall?“, fragte Paul.
„Nein“, der kleinwüchsige Techniker schüttelte den Kopf, „Düsseldorf, der Stadt. Jetzt weißt Du, warum sie existiert.“
Paul ließ das gehörte einen Moment sinken. Hein Zell´s Männer von Köln? Irgendwie kam ihm das bekannt vor, aber er kam nicht darauf, warum. „Ich verstehe aber immer noch nicht, was Ihr genau hier treibt. Wartungsarbeiten? Techniker? Und was hattest Du in meinem Badezimmer verloren?“
Gimpli resignierte. Wenn er nicht bald seine Stechuhr bediente, würde ein gelber Alarm ausgelöst werden. 10 Minuten später ein roter; kurz danach würde die Hölle losbrechen. Und wenn man ihn hier raushauen musste, wars das mit der Beförderung. Er hatte sich nicht vergewissert, dass der Wohnungseigentümer schlief, wie es die Richtlinie 23/A9 verlangte. (Das machte kaum einer, schließlich war das Zeitverschwendung – zumindest normalerweise). Adieu Beförderung, adieu Klasse 23, adieu Fahrzeug-Crew, adieu Biccha…
„Okay, ich sag Dir alles, danach läßt Du mich frei und wir vergessen das Ganze. Und kein Wort zu irgendwem.“
Paul nickte. „Ich bin ganz Ohr“.


Pauls Kopf schwirrte bald von all den neuen Informationen, die sein bisher so gefestigtes Weltbild vollkommen über den Haufen warfen. Der Zwerg behauptete, die Welt würde jede Nacht in eine Art Standby-Modus versetzt, in der die ganzen „Kleinigkeiten“ behoben würden, die während des Betriebs der Welt so anfallen würden. „Du hast sicher schon mal gehört, die Welt sei in sechs Tagen erschaffen worden? In Wahrheit ist das Ding bis heute immer noch nicht richtig fertig und fällt zum Teil schon fast wieder auseinander. Wenn wir nicht wären, würde hier gar nichts laufen“, hatte Gimpli behauptet. Ob er nicht schon einmal bemerkt habe, dass sich manche Dinge über Nacht regeln würden? Das wären ihnen zu verdanken. Und das Tropfen des Wasserhahns? Die Welt solle schließlich auch nicht zu perfekt wirken, deshalb müsse man auch einige Fehler und Probleme einbauen. Der umgekehrte Wasserfluss in der Küche? Irgendwann müsse man die Quellen und Seen ja auch wieder auffüllen, oder? Mit den Hauhalten höre der Technikereinsatz natürlich nicht auf, es gebe draussen Sondereinheiten für das Pflanzenwachstum, die Gestirne, das Wetter undsoweiterundsofort - ja sogar kleine Teams, die sorgsam den Rost auf Metallgegenstände auftrüge und wieder welche, die Müll auf (nachts zuvor noch völlig sauberen) öffentlichen Plätzen verteilen würden. Und natürlich die Verwaltung, Paul könne sich gar nicht vorstellen, was für ein Papierkrieg jeden Tag anfallen würde. Man müsse sogar die weltliche Bürokratie tagsüber mitbemühen – die schließlich nur zu diesem Zweck geschaffen worden sei - ohne dass die überarbeiteten Mundano-Sachbearbeiter das bemerken würden, versteht sich. Ob er schon mal versucht habe, irgendwo etwas bei einer Behörde zu erreichen? Eben.

„Eins verstehe ich aber immer noch nicht“, grübelte Gimpli, „wieso in aller Welt bist Du als einziger von 6 Milliarden Mundanos um diese Zeit wach?“
Paul ging ins Schlafzimmer und holte den Wecker.
Als er dem kleinen Techniker das Gerät vor die Nase hielt, dachte Paul, Gimplis Augen würden gleich aus den Höhlen fallen, so überrascht und zugleich bestürzt schien der Zwerg. Sämtliche Farbe war schlagartig aus seinem Gesicht gewichen.
„DU hast das Ding? Nach all der Zeit… - Wir sind verloren!“ Die Stimme des Zwergs überschlug sich fast, dann riß er sich wieder zusammen. „Hör zu. Mach mich frei. Vielleicht kann ich meine Oberen überzeugen, dass, alles ein Irrtum war und sie verschonen Dich. Aber nein, wenn die Uhr wieder da ist, bedeutet das, ER ist auch nicht mehr weit…oh Mist.“ Paul verstand überhaupt nichts mehr.
„Wovon redest Du eigentlich?“
„Für lange Erklärungen bleibt keine Zeit mehr. Ich…“ begann Gimpli, dann unterbrach ihn ein ohrenbetäubendes Schrillen.
„Was ist das?“ schrie Paul gegen den Lärm an.
„Roter Alarm“ antwortete der Zwerg entgeistert, „wir sind im Arsch.“
Paul griff sich ein Küchenmesser und machte Anstalten, den Zwerg zu befreien. Doch Gimpli schüttelte abwehrend den Kopf. „Keine Zeit. "Du musst verschwinden, versteck Dich irgendwo. Ich werde versuchen sie hinzuhalten. Pass gut auf die Uhr auf, sie ist wichtiger als Du vielleicht glaubst, wichtiger als - einfach alles. Jetzt lauf!“
„Aber ich…“
„Keine Zeit, lauf!“
„Und was…“
„Keine Zeit!“
„Aber…“
„VERDAMMT GEH ENDLICH!“
Paul war zu durcheinander, um dieser Aufforderung etwas entgegenzusetzen. Er schnappte sich ein Küchentuch, schlug hastig den Wecker darin ein und stolperte durch den bücherübersäten Flur zur Wohnungstür, riß sie auf und war verschwunden.

Gimpli musste nicht lange warten. Mit einem Krachen implodierte das Küchenfenster, binnen weniger Sekunden war der kleine Raum von bis an die Zähne bewaffneten geflügelten Feenwesen angefüllt, die in militärischer Manier blitzschnell die einzelnen Räume sicherten. Mittendrin im Getümmel, Gimpli hatte es befürchtet, stand Offizier Cipher. Die blitzblanke Tarnfarben-Uniform des kleinen Zwergenoffiziers war so sehr mit schweren Orden übersät, das sich bei heftigeren Bewegungen einzelne Medaillen lösten und er dadurch beim Gehen eine kleine Spur von verlorenen Auszeichnungen hinterließ.
„Ach was“, Cipher lächelte süffisant, „wen haben wir denn da?“.
„Hallo Binky“, erwiderte Gimpli lahm.
Cipher und er waren alte Bekannte. Beide waren früher in derselben Abteilung tätig gewesen, anders als Gimpli hatte Cipher nach dem großen Umsturz rasch Karriere gemacht und war nach Köln zum Leiter des Sondereinsatzkommandos aufgestiegen, während Gimpli weiterhin Wasserhähne zum Tropfen brachte.
„Alle Räume sind gesichert und leer. Vom Mundano keine Spur, Sir!“ machte eine kleine Fee Meldung, die in einem weiten Kampfanzug mit einem viel zu großen Helm steckte und eine Waffe schulterte, die doppelt so groß war wie sie selbst.
„Verflucht“. Offizier Cipher explodierte beinahe vor Wut. „Was hast du hier wieder angerichtet, Gimpli Gunnarsson? Wo ist der Mensch hin? Warum ist er überhaupt während der Wartungsphase wach? Und wie steckst Du da mit drin? Du weißt doch sehr gut, was Technikern passiert, die einen Code 312 nicht melden.“ Er wandte sich an die Fee. “Macht ihn los und schleift ihn ins Hauptquartier, wir werden alles erfahren, und wenn wir die Informationen aus ihm herausquetschen müssen.“
„Es ist kein Code 312“, meinte Gimpli leise, aber mit einem schwachen Lächeln während ihn die kleine Fee ungeschickt vom Klebeband befreite, „es ist ein Code 1“.
„WAAAAAS“, brüllte der bullige Offizier während kleine Orden in alle Richtungen davonspritzten, „hast Du den Verstand verloren? Wo ist der verdammte Mundano?“
„Das mein lieber Binky“ grinste Gimpli, „wirst Du schon selbst herausfinden müssen.“


Paul lief durch eine Stadt, die er zwar einerseits zu kennen glaubte, ihm aber in ihrem derzeitigen Zustand äußerst fremd erschien. Das lag zum einem an dem seltsamen Zwielicht, das diffus durch die Wolken sickerte und die Stadt mehr spärlich als wirklich effektiv beleuchtete, aber viel mehr an den merkwürdigen Aktivitäten, die allerorts vor sich gingen. Fast überall waren kleine Wesen emsig mit vielfältigen Aufgaben beschäftigt, einige zipfelmützenbewehrte Zwerge wie Gimpli waren darunter, aber auch kleine geflügelte Feen, Gnome, Trolle mit buschigen Schweifen und andere Fabelwesen, für die Paul (oder überhaupt ein Mensch) keine Bezeichnung kannte. Manche schraubten kaputte Glühbirnen in Lampenfassungen, befestigten in den Parks Blätter mit schweissbrennerartigen Geräten an Bäumen und schossen mit kleinen Maschinen, die an Bolzenschussgeräte erinnerten, Blumen in die Wiese, schraubten an Fahrzeugen oder Strassenbahnen herum oder fegten Strassenstaub unter hochgeklappten Bordsteine. Obwohl alles zunächst nach einem heillosen Durcheinander aussah, schien doch eine gewisse Struktur hinter all den Aktivitäten zu stecken, so als ob man inmitten eines gewaltigen Ameisenhaufens stünde.
Zunächst versuchte Paul noch, eng an Hauswände gedrückt oder hinter den seltsamen riesigen dröhnenden Gerätschaften in Deckung zu bleiben, die offenbar die stickige Luft des Vortags gegen die frische, duftige Morgenluft austauschten, und für kurze Zeit gelang ihm das auch.
Doch natürlich wurde er schnell bemerkt. Von überall her ertönten plötzlich alarmierte Schreie. Eine metallisch klingende Lautsprecheransage verkündete pipsend: „ACHTUNG, ACHTUNG! WIR HABEN EINEN CODE 312, WIEDERHOLE CODE 312! FLÜCHTIGER MUNDANO VON STADTPARK RICHTUNG HAUPTSTRASSE GESICHTET. UNBEDINGT STOPP…“ – eine schmerzhaft laute Rückkopplung unterbrach die Durchsage –
„…MistdingichhabedenenschonhundertmalgesagtdiesollendasTeil-reparierenaberniemandhörtjaaufmich…ÄH, UNBEDINGT STOPPEN. DAS IST KEINE ÜBUNG!“
Paul setzte alles auf eine Karte und rannte los. Einige Wagemutige versuchten, sich ihm in den Weg zu stellen. Paul schlug mehrfach Haken, ein oder zwei Feen in Latzhosen rannte er einfach um. Kleine Hände griffen mehrfach nach ihm und zerrten an seinem gestreiften Pyjama und an dem Küchentuch, in dem der Wecker eingewickelt war, doch jedes Mal konnte er sich wieder losreissen. Lange würde er das Tempo jedoch nicht durchhalten können, er wurde schon zunehmend langsamer. Paul verfluchte seine schlechte Kondition, die er zu viel Junk Food und zu wenig Sport verdankte, während sein Herz schon bis zum Hals schlug und kleine Sterne vor seinen Augen zu tanzen begannen. Er bog um eine Häuserecke und rannte blindlings weiter.
Da stießen seine Schienbeine plötzlich gegen etwas Flauschiges, Unnachgiebiges, er fiel nach vorne und landete bäuchlings in einer watteartigen weißen Masse. Direkt vor ihm ragte eine Art Lenkrad aus dem plüschigen Teppich, daneben sah er einige Schalter und Knöpfe. Er konnte sich kaum fangen, da erscholl hinter ihm mehrstimmiges Triumphgeschrei, sie hatten ihn offenbar nahezu eingeholt. Er blickte schnell über seine Schulter um und wünschte sich im gleichen Augenblick, es nicht getan zu haben. Ein riesiger Pulk von Fabelwesen, bewaffnet mit Stangen, Wagenhebern und großen Schraubenschlüsseln hatte die Verfolgung aufgenommen und schon fast die wolkenartige Plattform erreicht, auf der er gerade lag. Verzweifelt hieb er auf die Kontrollen vor ihm ein. Das Gefährt oder was es auch immer war, tat einen plötzlichen Satz nach vorn, der Paul fast von der Plattform heruntergeschleudert hätte, wenn er sich nicht noch im letzten Moment mit der freien Hand in der flauschigen Masse festgekrallt hätte. Dann katapultierte das Ding fast senkrecht nach oben gen Himmel.
„Oh Sch……….“


„Lagebericht“, bellte Cipher in sein Sprechfunkgerät, „warum kann mir denn niemand einen Lagebericht geben? Irgendwer?“. Cipher saß wieder in seinem geräumigen schwebenden Einsatzfahrzeug, das sein Pilot vor dem Fenster von Pauls Wohnung geparkt hatte und starrte konsterniert auf die Monitore vor ihm, die das Geschehen auf dem Erdboden unter ihm aus verschiedenen Perspektiven zeigte. Gerade hatte es doch noch so ausgesehen, als wäre dieser einfältige Mensch gleich von der Menge geschnappt worden, dann aber war der Mundano plötzlich von dem Bildschirm verschwunden und das Gerät zeigte nur noch verwirrt nach oben starrende Arbeiter.
„Sir?“ piepste eine kleinlaute Stimme aus dem Gerät.
„Ja“, gab der Zwergenoffizier zurück.
„Hier ist Leutnant Quarks, Einheit 2481/A12. Subjekt hat sich dem Zugriff durch Flucht mithilfe einer Arbeitsplattform Marke Kumulus 13 entzogen. Erbitten weitere Instruktionen.“
Cipher fluchte ungehemmt. War er denn von lauter Stümpern umgeben? „ Ja was wohl? Hinterher!“
„Aber Sir…“ die Stimme des Leutnants klang unsicher, „der Mundano flüchtet in Richtung Luna-Einheit. Genauergesagt, wenn er die Flugbahn so einhält, befindet er sich auf Kollisionskurs“.
Cipher lächelte bösartig. Offenbar löste sich dieses Problem gerade von selbst…
„Na dann schicken sie am besten jemand mit Kehrschaufel und Besen hinterher.“
Code 1, dass er nicht lachte.

Die Wolke , an der Paul immer noch mit nur einer Hand festgeklammert hing, schoß weiterhin in magenumdrehender Geschwindigkeit steil nach oben. In der linken Hand hielt er immer noch den Wecker, den er nur deshalb noch nicht losgelassen hatte, weil ihm der bestürzte Gesichtsausdruck des Zwerges immer noch vor Augen stand. „…wichtiger als einfach alles...“ sei der Wecker und irgendwie glaubte Paul ihm das. Hatte in den Augen des Zwerges nicht auch noch so etwas wie Hoffnung aufgeblitzt?
Obwohl sich Paul kaum zu bewegen wagte, schaffte er es dennoch irgendwie, einhändig die eingewickelte Uhr sicher in seiner Pyjama-Hosentasche zu verstauen. Somit konnte er sich endlich mit beiden Händen in der wattigen Wolkenmasse festhalten und traute sich auch zum ersten Mal, nach oben in Richtung seines unfreiwilligen rasanten Aufstiegs zu schauen und zu sehen, wohin die Reise eigentlich ging. Sein Blickfeld wurde von einer riesigen, rasch näher kommenden, gelb leuchtenden Kugel eingenommen, auf die sein Gefährt unaufhaltsam zuraste. Der Mond.
„Oh Sch….“

Paul erwachte, weil etwas Schwammartiges von unten nach oben über sein Gesicht und seine gesamte vordere Körperhälfte strich. Zunächst war er völlig orientierungslos. Gerade hatte er noch mit verzweifelter Anstrengung das Lenkrad der Wolke erreicht und den unheilvollen Kollisionskurs in buchstäblich letzter Sekunde abwenden können, war aber durch den plötzlichen Richtungswechsel von dem Gefährt abgerutscht (dass ohne ihn irgendwohin davon karriolte) , einen endlos wirkenden Augenblick lang durch ein absolutes Nichts gefallen und schließlich - weniger hart als erwartet, aber immer noch so hart, dass es ihm schwarz vor Augen wurde - irgendwo aufgeschlagen. Lange konnte er eigentlich nicht bewusstlos gewesen sein. Dann wurde ihm seine Situation blitzartig klar. Er war auf dem Mond gelandet, genauer gesagt auf der oberen Hälfte. Und das gummiartige Zeug, das nach oben an ihm vorbeiglitt, war die Mondoberfläche: er rutschte langsam ab…

Von nahem betrachtet, glichen die Krater des Mondes weniger wie die Einschlagstellen von durch das Weltall zischenden Meteoren, sondern vielmehr, als habe jemand mehrfach Pech beim Ausparken dieser Himmlischen Kugel gehabt. Vermutlich traf dies nach allem was er bisher heute gesehen hatte, auch eher zu, sinnierte Paul, der schon wieder nur mit den Händen festgeklammert an einem Himmelskörper hing, seine Füße pendelten hilflos im Nichts. Er hatte seine Rutschpartie gerade noch an einem stangenartigen Vorsprung stoppen können, bevor er mehrere hundert Meter in die Tiefe gestürzt wäre. Dies würde er wohl in Kürze trotzdem nachholen, denn allzu lang würde er sich nicht mehr halten können. Seine Schultern schmerzten höllisch, der Ruck, mit dem er seinen Absturz gebremst hatte, hätten sie beinnahe ausgekugelt.
Um seinen rechten Arm zu entlasten, verlagerte er sein Gewicht etwas nach links. Dabei geschah es: die kleine Stange, an die er sich festklammerte, sackte ein Stück nach links ab - Paul stürzte vor Schreck beinahe ab, konnte sich aber gerade noch halten - und ein Teil der Mondoberfläche schwang nach außen auf.
Eine Tür.

Obwohl Paul es kaum für möglich gehalten hätte, konnte er noch einmal alle seine verbleibenden Kräfte mobilisieren und sich keuchend und mit fast unerträglichen Muskelschmerzen von dem Türgriff, an dem er gehangen hatte, in das Innere des Mondes hinein schwingen.
Nach Luft schnappend blieb er eine Weile in dem schmalen Korridor liegen, bis die kleinen Sternchen vor seinen Augen beschlossen, dass es mit der Herumtanzerei genug sei und sich ein anderes Betätigungsfeld suchten. Dann rappelte er sich umständlich auf und wagte sich tiefer in den Korridor hinein. Irgendwer musste das Ding ja steuern…

„Er hat was?“ Cipher tobte. Nicht nur hatte der Mundano die Kollision mit dem Mond überlebt, sondern er war zudem den mobilen Wolken-Fluggeschwadern entwischt, die gerade noch sehen konnten, dass Paul den Mond betreten hatte. Ihn da raus zu holen würde etwas schwieriger werden. Mist. Jetzt musste schwereres Geschütz her.
„Machen Sie die Solaris sofort startklar.“
Jemand schluckte hörbar am andern Ende der Leitung. „Wer – ich, Sir?“
„Ja wer denn sonst, Soldat? Die Zahnfee?“
„Ja?“ meldete sich unsicher eine kleine Fee mit einer gewaltigen Zahnlücke aus dem hinteren Teil des vollbesetzten mobilen Hauptquartiers.
„Schnauze“ brüllte Cipher über die Schulter. Und ins Sprechfunkgerät: “Tun Sie´s einfach“.

Der Mann im Mond öffnete die nächste Flasche Rotwein. Dass der Strahl des tiefroten Getränks das Glas nicht verfehlte, grenzte angesichts des fortgeschrittenen Zustands des Einschenkenden schon fast an ein Wunder. Irgendwo auf dem Armaturenbrett, auf dem das Glas stand, blinkte Aufmerksamkeit heischend ein Warnlämpchen. Dazu passend heulte in der Tiefe der lunaren Kommandozentrale ein heiseres Alarmsignal.
„Willsu wohl sstill sssein“, machte der bärtige Kommandant, dessen Äußeres stark an einen alten Seebären erinnerte (komplett mit Schirmmütze und einer Tätowierung auf dem rechten Oberarm ). Er hieb mit seiner mächtigen, prankenhaften Faust einmal auf die Schalttafel, die sich offenbar davon beeindrucken liess: das Licht erlosch und das Schrillen hörte auf.
„Na alsso, geht ddoch“, lallte er zufrieden, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas und liess sich auf dem zerschlissenen Kommandosessel sinken. Er leerte das Glas, beäugte es scharf, warf es über die Schulter nach hinten (wo es klirrend zerschellte) und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche.
Aus dem Sessel konnte er in einen überdimensionalen, von der Decke herabhängenden Flachbildmonitor- quasi als Äquivalent eines Innenspiegels - das Geschehen im Inneren des Mondes beobachten. Daher überraschte es ihn auch nicht, als Paul schließlich die Kommandobrücke des Mondes betrat.
„Wer bisn Du? Un was willsn Du?“
Paul überkam ein plötzlicher Schub von Selbstbewusstsein und er versuchte es mit einem Bluff: „Ich bin Paul. Und ich erkläre dieses Mond…äh…-dingens für geentert. Ich bin bewaffnet und werde nicht zögern hiervon Gebrauch zu machen, wenn es nötig sein sollte.“ Er hielt dem Mondmann den Wecker vor die Nase.
„Vowon, nem ollen Küchnhanndduch?“
Paul bemerkte seinen Fehler und zog das Tuch von der Uhr. Das hier konnte einfach nicht funktionieren. Komischerweise tat es das doch.
Der Mann im Mond erbleichte und schien schlagartig einen gewissen Grad von Ernüchterung wiedergewonnen zu haben. „A-a-a-alles was Sie sagen Sssir…“.

An Bord der Solaris herrschte qualvolle Enge. Das Cockpit, das sonst normalerweise von ein oder zwei Mann besetzt war, quoll vor Angehörigen der mobilen Einsatztruppe geradezu über. Trotzdem wurde um die Person von Offizier Cipher wie von Zauberhand ein respektvoller Abstand freigehalten.
„Sir ich kann so nicht arbeiten“, beschwerte sich der Pilot, der gerade zum drittenmal einen Feenzee ins linke Auge bekommen hatte. Jemand drückte mit einem Ellenbogen versehentlich einen der unzähligen Knöpfe auf dem weitläufigen Amaturenbrett der Solaris und der Scheibenwischer ging an.
„Stellen Sie sich halt nicht so an“ brummte Cipher, der als einziger an Bord genug Platz bekam. „Geben Sie mir lieber eine Schaltung zur Luna.“
Der Pilot schob ein paar Zwergenkörperteile zur Seite, bis er den richtigen Knopf gefunden hatte. Auf dem großen Bildschirm erschien das Bild einer halbvollen Weinflasche. „Achkarrener Sonnenberg“ stand auf dem Etikett.
Offenbar wurde die Schaltung in der Kommandozentrale des Mondes bemerkt, eine Hand zog nämlich schnell die Flasche aus dem Bereich der Kamera, stattdessen schob sich der Kopf des Mondpiloten ins Bild.
„Ssorry, muss wohl jemand von den Werfftarbeiter hier vergessssen haben“, entschuldigte sich der Mann im Mond.
Die Gesichtfarbe des gereizten Zwergenoffiziers wechselte von dunkelrot zu purpur.
„Darüber sprechen wir noch! Warum reagieren Sie nicht auf die Funksprüche und warum sind sie immer noch nicht im Hangar? Und vor allem, wieso melden Sie nicht das Eindringen eines Mundanos in Eigentum der Welt-Wartungstruppe?“ Cipher Stimme wurde von Frage zu Frage lauter bis er bei den letzten Worten nur noch brüllte.
Der bärtige Pilot grinste unsicher: „Weisss gar nich, wass Ssie meinen Sssir. Wir hatten ein Fffunk-Problem. Und ein Mmmundano ist hier auch nicht.“
„Bis auf den, der da gerade versucht, sich hinter Ihrem Rücken zu verstecken, meinen Sie?“
Der Mondmann kratzte sich verlegen am Kopf. „Ach den meinen Sssie? Wo kommmt der denn plötzlich her…?“ Dämliche Weitwinkelkameras….
Kleine Orden fielen wie ein Funkenregen von Cipher Brust als er losbrüllte: „FÜR WIE BLÖD HALTEN SIE MICH, SIE…“ dann fiel sein Blick auf Paul. O Himmel, Gimpli Gunnarson hatte recht gehabt, sie hatten wirklich einen Code 1. „Er hat den WECKER, aber d-d-das ist doch unmöglich…“. Cipher Gesichtsfarbe schaltete von purpur zu fahlweiss. Er hatte das Ding doch eigenhändig im Meer versenkt. Na schön, dann würde es eben hier und jetzt endgültig vernichtet.
„Pilot“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „eröffnen sie das Feuer. Holen Sie mir den Mond vom Himmel!“
„Aber Sir…“, kam es kleinlaut aus dem Leibergewühl von Richtung des Pilotensessels.
„TUN SIE´S !!!“

Unten auf der Erde hatten die Wartungsleute ihr Treiben eingestellt und starrten gebannt zum Himmel an dem sich ein bislang völlig unerhörtes Schauspiel abzeichnete: Die Sonne (die eigentlich erst einige Stunden später starten sollte) raste mit abenteuerlicher Geschwindigkeit hinter dem Mond her, der ebenfalls plötzlich Gas gegeben hatte und hakenschlagend kreuz und quer über den Himmel jagte. Unvermittelt schossen gebündelte Sonnenstrahlen aus dem glühenden Himmelkörper auf den Mond zu. Den ersten Projektilen konnte der Luna-Pilot noch durch rasches Ausweichen entgehen, dann aber brachte ihn ein weiterer Haken direkt in die Schussbahn eines weiteren Geschosses. Der Mond fing sofort Feuer, trudelte und stürzte unvermittelt wie ein Stein, der er ja war, in die Tiefe.

When the moon hits the sky, like a big pizza pie….
Mit einem Pizzateig hatten die weit verstreuten Überreste des Mondes auf den Berghängen des verschneiten Himalaja nun nicht wirklich etwas gemein. Eher vielleicht noch mit dem Belag.
Überall lagen glimmende oder zumindest leicht rauchende Trümmer herum. Ein brennendes Rad rollte einen Abhang herab . Irgendwoher ertönte ein leises Stöhnen. Dann hob sich ein grosses Trümmerstück wie von selbst leicht an und Paul schob sich darunter hervor. Er richtete sich auf und schaute an sich herab. Außer einigen Schrammen und Brandlöchern in Kleidung und Frisur schien er okay zu sein. Er sah sich um: weder vom Mondmann noch vom Wecker war um ihn herum etwas zu entdecken. Er begann, die Trümmer abzusuchen, als es plötzlich strahlend hell wurde: Die Sonne schob sich über den Bergkamm.

Die gleißendhelle Solaris kam über dem Trümmerfeld abrupt zu stehen. Es gab ein surrendes Geräusch, dann wurde eine lange Landetreppe ausgefahren. Ein Trupp schwerbewaffneter Feen und Zwerge stürmte herunter, die Paul in Windeseile einkreisten und mit seltsam aussehenden Waffen in Schach hielten. Allerdings schienen sie ihn für äußerst gefährlich zu halten, denn sie hielten einen großen Abstand zu ihm und beäugten ihn nervös. Einige ihm entgegengehaltene Waffenläufe zitterten fast unmerklich. Was war da los?

Paul wich langsam einige Schritte rückwärts nach hinten, bis er mit dem Rücken an die kalte, durchlöcherte Pilotenkanzel des zerstörten Mondes stieß.
„Hah, wen haben wir denn hier?“
Die gefühlskalte Stimme gehörte Cipher, der mit grimmigem Lächeln zusammen mit weiteren seiner Leute die Landungstreppe der Sonne herabstieg. Hinter ihm führten zwei Truppenangehörige den gefesselten Gimpli die Stufen herunter, der Paul einen halb verzweifelten, halb aufmunternden Blick zuwarf.
„Ein Mundano zu dieser frühen Stunde? Hübscher Pyjama übrigens…“ –das falsche Lächeln auf Cipher Lippen erstarb. Er wies seine Leute an, die Gegend zu durchkämmen. Dann wandte er sich wieder an den vor Kälte schlotternden Mundano. „Wo ist der verdammte WECKER?“
„Ich weiß gar nicht, wovon Sie eigentlich reden“ erwiderte Paul. Naja, das stimmte ja fast auch. Er verstand immer noch nicht so ganz, worum es überhaupt ging.
Nur dass diese vermaledeite Uhr offenbar an allem Schuld war. Ohne das blöde Ding stünde er nicht mit einem viel zu dünnen Schlafanzug in Eiseskälte auf dem Dach der Welt und müsste mit einem kleinwüchsigen Choleriker inmitten einer Trümmerlandschaft herumstreiten, der mit dem rechten Fuß wütend auf einem Stück Metall herumtrampelte.
Moment mal. Metall. Mit Zeigern und zwei Glocken dran. Der Wecker!
Jetzt bloß nichts anmerken lassen.
„Hör mal“ explodierte Cipher gerade, „Du händigst mir das Gerät jetzt sofort aus, dann werde ich gnädigerweise Deine Existenz wenigstens schmerzfrei auslöschen. Ich gebe Dir 5 Sekunden: 1…2…“
Paul überlegt fieberhaft, ihm blieben nicht mehr viele Möglichkeiten.
Unvermittelt liess er sich zu Boden sinken und robbte auf Händen und Knien unterwürfig auf den Zwerg zu.
„O bitte bitte, verschont mich, bitte, ich sag Euch ja, wo der Wecker ist, nur tut mir nichts.“
Cipher wirkte verblüfft, er hatte offenbar mit mehr Gegenwehr gerechnet.
Paul kam näher an den Zwergenoffizier heran.
„Ist ja schon gut, sag mir nur einfach wo der WECKER ist, dann schaun wir mal“, meinte der Zwerg, offenbar nicht ganz überzeugt.
Paul machte Anstalten, den Fuß des Hauptmanns zu küssen.
Der wehrte ab: „Das ist nun wirklich nicht nötig. Wo ist der Wecker denn?“.
Paul umklammerte den Fuß und riss ihn jählings nach oben, so dass der Zwerg von dem Schwung mitgerissen wurde und nach hinten stürzte.
„Na hier!“ sagt Paul und griff nach dem Wecker.

Dutzendfaches Klicken ertönte, als die Einsatztruppe ihre Waffen scharfmachte und wieder auf Paul richtete. Jetzt war es vorbei. Adieu, Welt. Paul schloss die Augen und machte sich auf den Einschlag der Projektile gefasst, die seinem Leben ein abruptes Ende setzen würden.
Da vernahm er eine Stimme. „Der Knopf! Drück den Knopf“. Das war Gimpli. Der Zwergentechniker, der jahrelang seinen Wasserhahn zum Tropfen gebracht hatte. Was für einen Knopf meinte er? Paul öffnete vorsichtig ein Auge. Als erstes sah er Hauptmann Cipher, der sich gerade von dem Schreck erholte und dem von einem seiner Leute wieder aufgeholfen wurden. Um ihn herum standen die Einsatztruppen, die instruktionenheischend zu ihrem gestürzten Chef blickten, im Hintergrund wurde der Mondmann, der anscheinend den Absturz ebenfalls überlebt hatte auf einer Bahre herangetragen. Neben der Landungstreppe stand Gimpli, der mit auf den Rücken gefesselten Händen das Kunststück fertigbrachte, wild zu gestikulieren.
„Der Knopf! Auf der Rückseite! Drücken!“
Inzwischen hatte sich Cipher wieder gefasst. „Erschiesst ihn!“
„Äh, wen jetzt von beiden, Chef?“
„Ihn! Nein den andern! Ach einfach alle beide…“
Paul nutzte die Verwirrung und drehte den Wecker herum. Auf der Rückseite prangte tatsächlich ein roter Knopf, der ihm bislang irgendwie entgangen war. Beschriftet war es mit „Wecken an“.
Paul drückte ihn.

Zunächst geschah gar nichts. Vielleicht war der Wecker ja beim Absturz oder danach beschädigt worden. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Die Einsatztruppen feuerten Ihre Waffen ab. Ein Geräusch wie von tausend Kirchenglocken ertönte, voll und tief tönend, zunehmend lauter. Der Weck-Alarm. Die abgefeuerten Projektile blieben schwirrend in der Luft vor Paul stehen.
Und der Himmel öffnete sich.

Ein Licht, heller als tausend Solaris-Sonnen erstrahlte vom Himmel, so dass es Paul unmöglich war, direkt hineinzusehen.
Jemand gähnte herzhaft.
Wie spät ist es denn? Ich wollte mich doch nur mal kurz hinlegen, so eine Erschaffung der Welt in Rekordzeit von sechs Tagen ist doch recht anstrengend. Hatte ich denn nicht einen Wecker gestellt? Lou? Warum hast Du mich denn nicht am achten Tag geweckt?
Lou Cipher, der zwergenhafte Hauptmann sah aus, als wollte am liebsten er im schneebedeckten Erdboden versinken. Er murmelte irgendwas von Kleinigkeiten, mit die man ihn nicht behelligen wollte.
Naja, das klären wir später. Jetzt werde ich mich erst mal um die Dinge kümmern, die noch liegen geblieben sind.
Ach, und Paul?
Paul blickte auf.
Danke fürs Wecken.

Ein seltsames Läuten erfüllte jeden Winkel von Pauls Bewusstsein. Brutal riss es ihn aus der tiefen dunklen Schwärze heraus, in der er sich seit mehreren Stunden befand. Er ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas festzuhalten, doch er griff nur in dunkle, seltsam flauschige Materie, die seinem hilflosen Griff keinerlei Widerstand entgegensetzte.
Er schlug schweißüberströmt die Augen auf und blickte in das dämmrige Zwielicht seines Schlafzimmers. Die „flauschige Materie“, die er immer noch verkrampft umklammerte, stellte sich als sein Kopfkissen heraus. Nur ein Albtraum, konstatierte er erleichtert und warf das Kissen auf den Fußboden. Irgendwie war der Traum seltsam gewesen, obwohl er sich nicht mehr daran erinnern konnte.
Dennoch, das dumpfe Läuten aus dem Traum war immer noch da. Paul sah sich nach der Quelle um, sein schlaftrunkener Blick fiel auf den Digitalwecker der eine sehr, sehr frühe Zeit anzeigte. Er hieb auf den Ausschalter. Es gab einfach Uhrzeiten, für die der Mensch nicht geschaffen war. In einer Stunde oder so würde die Welt viel freundlicher aussehen. Paul drehte sich um und schlief wieder ein.

Er sollte Recht behalten.

 

Hallo Ghostwriter, willkommen zurück!
Ich hab die Geschichte gern gelesen. Sie erinnert mich an einen Text von Pratchett, den ich mal gelesen habe, aber in dem kamen keine Zwerge vor, und Gott auch nicht. Ich finde die Idee, dass die Zwerge Gott verschlafen lassen haben, um in Ruhe an der Welt rumzuschrauben, ziemlich witzig :D
Du solltest über deine Satzzeichen noch mal drübergucken. Ich glaube, du hast das eine oder andere Mal bei der nachgestellten wörtlichen Rede noch Punkte gesetzt, obwohl ja eigentlich schon am Ende der WR ein Satzzeichen stand. Außerdem fand ichs stellenweise ein bisschen zu albern, zum Beispiel bei der Sache mit dem Mann im Mond. Da versuchst du, durch die Erzählweise Witz zu erzeugen, anstatt die Geschichte für sich selbst wirken zu lassen.
Im Prinzip aber gern gelesen :D

gruß
vita
:bounce:

 

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