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Zu spät.
Die Haustür schlug zu. Das alles war endgültig. Calito war jetzt weg, für immer. Meine beiden kleinen Söhne kamen mit leisen Füßen die Treppe hinunter und sahen mich mit großen Augen an. „Ist er weg?“, fragten sie. „Ja, Calito ist weg“, sagte ich leise, und es stach in meiner Brust, als ich die schmerzhafte Wahrheit aus meinem Mund hörte. Finn und Luka schauten erst sich an, dann mich. Ich sah, wie sehr sie sich bemühten nicht zu lächeln. Sie hatten Calito nie gemocht. Sie hatten mir Lügen über ihn erzählt, sie hatten ihn beschimpft. Sie hatten alles getan, nur damit er endlich verschwand. Jetzt hatten sie es geschafft. „Ihr seid schuld, verdammt! Ihr habt alles kaputt gemacht!“, rief ich in meiner unkontrollierten Verzweiflung. Meinen eigenen Söhnen konnte ich nicht mehr in die Augen schauen, ich lief in das Schlafzimmer und drückte mein Gesicht in die Decke, die immer noch nach ihm duftete. Ich weinte und weinte, wie lange weiß ich nicht. Irgendwann starrte ich einfach an die Decke und ließ die heißen Tränen meine Wange hinunter tropfen, bis sie in meinem Ohr landeten. Es klopfte es zaghaft, Finn kam in mein Zimmer. „Mama?“, fragte er, und ich drehte mich um, verbarg mein Gesicht in den Kissen. „Mama“, sagte er nochmal, und legte mir seine kalte Hand auf den Rücken. „Mama, sei doch froh. Er ist endlich weg. Mama! Er hat uns angefasst, er hat uns geschlagen und er hat uns beklaut! Du hast doch einen viel besseren verdient“, meinte er. Mit einem Ruck drehte ich mich um. „Das ist nicht wahr!“, brüllte ich. „Das stimmt nicht!“, und diesmal prügelte ich dabei auf Finn ein. „Mama, scheiße! Mama das tut mir weh, hör auf!“, rief er, aber ich konnte nicht. Ich war voller Hass. Hass auf meine eigenen Kinder. Nur wegen ihren Lügen hatte ich mich wieder mit Calito gestritten und nur wegen ihnen war er schließlich abgehauen. Wie konnten sie mir das antun? Seid ihr Vater gestorben war hatte ich noch keinen Mann mit nach Haus gebracht. Wieso konnten sie nicht akzeptieren das ich mein Leben nicht einfach aufgeben konnte, so wie Patrick es getan hatte? Ich stürzte ins Bad und betrachtete mein verhasstes Spiegelbild. Ich riss den Arzneischrank auf, griff mir die nächstbesten Tabletten und schluckte sie mit ein wenig Wasser hinunter. Ich wollte nichts mehr spüren. Danach brach ich meinen Rasierer auseinander und nahm mir die Klinge. Mehrere Male ritzte ich in meine Haut und mir wurde schwindelig als ich Blut aus der Wunde tropfen sah. Für ein paar Sekunden achtete ich nur noch fasziniert auf meine Arme. Mittlerweile lief das Blut an meinem Arm hinunter. Ich drückte Lukas Waschlappen mit dem Froschgesicht auf die Wunde. Danach verband ich sie und zog meine Pulloverärmel über das Handgelenk. Im laufe des Abends verspürte ich immer wieder den Drang darauf zu fassen und dieses Brennen zu spüren. Abgesehen davon fühlte ich gar nichts mehr. Ich rauchte mehrere Zigaretten und trank eine Menge Alkohol. Meine Söhne ließen sich nicht mehr blicken, und als ich mich im Morgengrauen in den Schlaf weinte, da war es mir egal, ob ich wieder aufwachen würde oder nicht. Gegen 16 Uhr nachmittags stieg ich aus meinem Bett, ich hatte grässliche Kopfschmerzen, gegen die ich ein paar Tabletten schluckte. Ich setzte mich hin und las den Zettel, den Finn hinterlassen hatte: „Hallo Mami, wie geht es dir? Wir sind gegen 7 zurück, bitte mach dir keine Sorgen, und verzeih uns, wir haben dich so sehr lieb! Finn und Luka.“ Beinahe hätte ich gelächelt, doch dann dachte ich daran, was dank ihnen passiert war, und schaute verbittert auf die ganzen bunt gemalten Bilder von den beiden. Ich ging näher zum Kühlschrank und riss sie alle ab, ich zerfetzte sie und brach schließlich weinend über den Schnipseln zusammen. Was nützte mir all das Glück wenn ich niemandem mehr hatte, mit dem ich es teilen konnte? Mein Mann war Tod, aber mein Traummann und meine wahre große Liebe war vor meinen Kindern geflüchtet. Ich zitterte vor Kälte und Wut und beschloss ein Bad zu nehmen. Meine Gedanken versanken in beruhigendem Lavendelschaumbad und für kurze Zeit vergaß ich alles um mich herum. Bis ich wieder die herausgebrochene Klinge neben der Badewanne sah. Ich schnitt noch ein paar Mal in meine Waden, und als sich das Wasser leicht rötlich verfärbte und ich mich ein wenig ekelte stieg ich aus dem Wasser. Ich beschloss ein paar Spiegeleier zu braten und stellte mich an den Herd. Das Fett spritze und ich verbrannte mich, aber ich nahm es nicht wirklich war. Ich hörte Gerumpel und Geschepper im Flur, ich seufzte. Ich wollte diese Kinder nicht sehen, die meine Liebe zerstört hatten. Finn und Luka stürmten glücklich in die Küche. „Hallo Mami!“, riefen sie, und mir wurde übel, als ich merkte, dass ihnen Calitos verschwinden völlig egal war. Wie konnten sie nur so mit mir umgehen? Ich wollte nicht reden, schob die Pfanne hoch und wollte meinen Kindern die Spiegeleier auftun, aber Luka redete drauf los: „Oh man, seid dieser Calito weg ist ist alles wieder richtig schön. Ich bin so froh, dass du ihn verscheucht hast, Mami. Danke. Aber wir wussten, an Papi kommt niemand ran, vorallem nicht DER!“ Er gluckste vor lachen. Außer mir vor Wut schlug ich ihm die Pfanne auf den Hinterkopf. Sein Körper erschlaffte, er rutschte vom Stuhl. Entgeistert schaute mich Finn an. „MAMA!" brüllte er, Tränen ihm in den Augen. Er wollte aufstehen, doch er hatte keine Chance mehr. Ich hatte meine Kontrolle verloren. In dem Moment, in dem ich auch Finn die Pfanne mehrmals auf den Kopf donnerte. Er verdrehte die Augen, aus seinen Ohren tropfte Blut. Ich kam zur Besinnung, was hatte ich getan? Ich konnte nicht mehr denken, ich hatte meine eigenen Kinder getötet. Wie hatte ich das tun können? Ich liebte meine Kinder, mehr als alles andere auf der Welt, mehr als Calito, mehr als man jemals jemandem begreifbar machen könnte, der noch nicht Mutter war. Ich schüttelte Finn und Luka in der Hoffnung, dass ich sie wieder lebendig machen konnte, aber die beiden rührten sich nicht. Die noch heiße Pfanne, die ich abgestellt hatte hatte in der Zwischenzeit ein Loch in die Decke gebrannt. Das Telefon klingelte und durchschnitt die ohrenbetäubende Stille. Das musste Calito sein! Ich nahm ab und meldete mich: "Calito! Endlich! Es, es ist zu spät, ich habe sie beide umgebracht!" Es ertönte ein Tuten, Calito hatte wohl aufgelegt. Und wieder brach ich weinend zusammen.