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- 08.11.2004
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Zug für Zug
Ben muss die Stadt und die Schrebergärten schon eine ganze Weile hinter sich lassen, um an seine Lieblingsstelle zu kommen. Es ist eine Brücke mitten im Wald. Ganz aus Stein, soweit man das von außen beurteilen kann. Sie führt über Bahngleise hinüber. Ben steht oft da und betrachtet die Züge. Die Gleise gehen exakt parallel und soweit, wie Ben sehen kann. Am Horizont berühren sie sich. Ben glaubt, dass sei Anlass zur Hoffnung. Die Kraft, die Unbeirrbarkeit und die Präzision der Züge schlagen Ben in ihren Bann. Manchmal muss er eine ganze Stunde warten, bis ein Zug kommt, manchmal kommen mehrere innerhalb von wenigen Minuten. Ben kennt den Zugplan. Trotzdem kommt er wann er möchte, ungeachtet, ob er viele oder wenige Zügen sehen wird.
Unter der Woche ist Ben acht Stunden täglich Bibliothekar. Ben glaubt, dass er nicht noch weiter von den Zügen entfernt sein kann, als in seiner Bibliothek. Wenn er viel gearbeitet hat und erschöpft ist, klappen die Regale um und zeigen ihr wahres Gesicht: Dann sieht Ben stehen gebliebene Züge, ihrer Beweglichkeit und Geschwindigkeit beraubt. Ben durchschaut die Täuschung: Es sind falsche Züge.
Luca sitzt am Rande einer Maisfeldes, es ist ungefähr kniehoch. “Schade”, denkt Luca, “dass es keine Vogelscheuchen mehr gibt.” Einmal im Monat geht Luca die Felder ihres Bruders entlang und prüft die Zäune. Sie werden ständig zerschnitten.
Luca weiß, dass Vogelscheuchen heute durch bessere Methoden ersetzt sind. Vogelscheuchen sind sinn- und nutzlos.
“Schade”, denkt Luca, “dass man sich auf so wenig verlassen kann.”
Viele Züge erkennt Ben wieder. Ihnen gibt dann er Tiernamen: Katze, Elefant, Gnu, je nachdem an welches Tier ihn der jeweilige Zug erinnert. Ben vermutet eine geheime Verwandtschaft zwischen Zügen und Zoos: beide sind gefangen - geordnete, wilde Lebendigkeit.
Wenn er Zeit hat, sucht Ben aufgegebene und entlegene Bahnhöfe auf und läuft stillgelegte Gleise entlang. Hier hat die Bewegung ihren Schatten dagelassen. Ben lest ihn auf.
Manchmal kreuzt sich Bens und Lucas Weg, dann nickt der Ben der viel älteren Frau freundlich zu.
Eines Tages weicht Luca ein wenig von ihrem gewohnten Weg ab und kommt zu der Brücke und der Stelle, wo Ben Züge betrachtet. Ben bemerkt sie nicht. Luca schaut ihn lange an und weiß nicht wieso. Aus irgendeinem Grund muss sie an Vogelscheuchen denken.