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Zum Gedenken an
Heftig winkend standen sie im Bereich "Ankunft" des Flughafens. Ihre Gesichter strahlten als sie ihre Tochter in die Arme schlossen. Küsse wurden ausgetauscht und sie eilten zum Parkhaus. Vorbei an anderen Autos, bemerkte Helena einen Fuchs. Sein Körper lag leblos vor den Vorderreifen eines Wagens, seine Augen standen offen und blickten glasig. Sie verengte die Augen zu Schlitzen und eine Woge des Mitleids stieg in ihr auf. Die Sicht verschleiert vom Vorhang einiger Haarsträhnen, die der Wind ihr ins Gesicht peitschte, zog sie die Strickjacke enger um sich. Ihre Eltern waren schon weiter zum Wagen geeilt, um der eisigen Kälte zu entgehen. Helena folgte ihnen und stieg in den Wagen, während ihr Vater den Koffer nach hinten in den Kofferraum hievte.
Auf dem Weg nach Haus überkam Helena eine Müdigkeit, doch hielt ihr stand und begann ein Gespräch. Sie tauschten Erlebnisse der vergangenen Woche aus, im Grunde banale Dinge. "Ja das Wetter war gut; nein das Essen war miserabel; ja eine Menge Spass" Die Eltern erzählten von ihren Tagen und von der Arbeit, eingelullt in ihrem Wortschwall, schloss Helena die Augen. Als sei es nur nebenbei fragte sie: "Wie geht es der Frau Wagner?"
Im Wagen war es dunkel, einzige Lichtquelle waren Bremslichter der Autos vor ihnen. Eine Stille trat ein, weder ihr Vater noch die Mutter sagten ein Wort. Helena glaubte ihre Eltern hätten sie vielleicht nicht gehört, denn das Radio war eingeschaltet. Schon wollte sie ihre Mutter antippen, da bemerkte sie den Blick ihres Vaters im Rückspiegel. Konnte ihn nicht deuten, vermutete nichts schlimmes und doch befiel sie eine innerliche Kälte. Was war denn nun? Sie öffnete den Mund um noch einmal ihre Frage zu stellen. Da fing ihre Mutter an zu sprechen, ihre Stimme klang belegt und leise, beinahe zu sanft als könnten die folgenden Worte ihre Tochter zerbrechen lassen, wie einen kostbaren Kristall. Helena beugte sich weiter nach vorne um ihre Mutter besser verstehen zu können. Sie seufzte. "Helena, Frau Wagner ist am Donnerstag gestorben." Mehr brauchte sie nicht zu hören, ein Gefühl beschlich sie, ihr Gesicht begann zu brennen und das Schlucken fiel ihr schwer, als habe sie einen Wollknäul verschluckt. Langsam wendete sie das Gesicht zum Autofenster, lehnte sich zurück und sah wie Bäume, Häuser, ganze Landschaften an ihr vorbei zogen, bis sie durch den Schleier ihrer Tränen nur noch Umrisse wahrnahm.
Sie schmeckte Salz und brauchte einige Momente um zu erkennen, dass es der Geschmack ihrer Tränen war. Auch ihre Eltern sprachen nicht mehr, jeder hing seinen Gedanken nach.
Helena musste eingedöst sein, denn als sie die Augen aufschlug stand der Wagen vor ihrem Wohnhaus. Blechern stieg sie aus, fühlte die Kälte nicht mehr, nur noch die Kälte des Schmerzes, der sie befiel, wie eine Lawine schwarzen Gerölls, der sie langsam unter sich begrub. Sie fühlte eine Hand an ihrem Rücken. Es sollte eine tröstliche Geste sein, doch Helena fühlte nichts, als sei sie gelähmt und ihre Beine trugen sie automatisch die Stufen zur Wohnung hinauf.
Sie legte sich sofort ins Bett, ihre Augen schmerzten vor Müdigkeit und doch war sie nicht fähig einzuschlafen. In ihrem Kopf geisterten die letzten Momente, die letzten Worte, während draussen Äste eines Baumes an ihr Fenster schlugen. Immer und immer wieder spulte sie zurück. Zurück an den Abend als sie zu ihrer Nachbarin ging, um sich zu verabschieden. Wie hatte sich die alte Frau für sie gefreut, dass sie nun doch an der Abschlussfahrt teilnahm. Sie sah sich selbst, wie sie sich über die Frau beugte, mit ihren Lippen an der Wange der Frau entlangstrich und sie umarmte. Immer wieder spielte Helena diese Szene durch, doch sie konnte sich nicht an die letzten Worte erinnern, weder an die der Frau, noch an ihre eigenen. Hatte Frau Wagner noch Gute Nacht gesagt? Oder Viel Spass? Oder ich freu mich wenn du wieder da bist? Und sie selbst, Helena, was hatte sie als letztes gesagt? Gute Nacht? Bis bald? Sie wusste es nicht. Wie seltsam dachte sie, dass solche Kleinigkeiten plötzlich doch sollte Bedeutung haben könnten.
Als sähe sie einen Film vor ihrem geistigen Auge, liefen all die glücklichen Momente zusammen mit Frau Wagner ab. Der Frau die sie quasi mit gross gezogen hatte, der sie ihre Geheimnisse anvertraut hatte. Sie spürte ein Lächeln auf ihrem Gesicht und versunken in Gedanken schlief sie schliesslich ein.
Am nächsten Tag erfuhr Helena, dass Frau Wagner einen Schlaganfall erlitten hatte. Sowohl die rechte als auch linke Körperhälfte war gelähmt, und ihre Mutter hatte erfahren, dass auch ihre Fähigkeit zu sprechen ausgelöscht gewesen sei. Frau Wagner sei die meiste Zeit bewusstlos gewesen und niemand wusste ob sie jemanden erkannte als sie zum letzten Mal die Augen öffnete, um sie wenige Momente später für immer zu schliessen.
Wie durch Zufall erinnerte sich Helena an den toten Fuchs, hätte sie bereits da eine Vorahnung haben müssen oder sogar gehabt? Der Fuchs war tot, seine Augen schauten nicht mehr und auch Frau Wagner, ihre liebste Frau Wagner war tot. Helena fühlte sich, als sei ein Teil von ihr mit der alten Frau gestorben.
Helena schlief viel, der Verlust war schmerzhaft, bisher hatte sie nie auch nur annähernd Kontakt mit dem Tod gehabt. Sie sass in sich gekehrt, versunken in Gedanken und Erinnerungen. Erst viel später, als die Schule wieder losging, kam sie aus ihrer eigenen Welt hervor und begann wieder zu essen.
Denn in den Tagen ihrer Isolation und Zurückgezogenheit hatte sie eins begriffen: An den Fuchs würde nie mehr jemand einen Gedanken verschwenden, er war verloren. Doch Frau Wagner würde in den Erinnerungen der Menschen die sie liebten weiterleben. Sie würde in Helena weiterleben.
Lächelnd blickte sie zum Himmel und freute sich an den Gedanken, dass Frau Wagner als sie die Augen geöffnet hatte, sich an all die Liebe in ihrem Leben erinnerte, und an den liebevollen Abschied und dass sie nun endlich einschlafen kann.