- Beitritt
- 18.08.2002
- Beiträge
- 1.978
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 16
Zurück in die Freiheit
Erpressungen und Nötigungen, das war nur Alltag. Richtig spannend wurde es erst, wenn sie einen guten Tag hatten. Dann nahmen sie sich viel Zeit, um über den nächsten Coup nachzudenken. Gerne servierten sie ihm ein Menü mit dem einfallsreichen Namen "Wärters Stuhl". Seine Zunge spannten sie über die Flamme des Feuerzeugs, bis sie Blasen trieb und unten sich die Haut abrollte. Ihn, an den Ohren aufgehängt, nagelten sie manchmal von hinten ordentlich durch. Schossen ihm einmal flüssigen Rohrreiniger durch den Penis, bescherten ihm so einen künstlichen Harnausgang durch den Bauchnabel.
Die Liste wäre lang. Doch sie wurde nie geführt.
Und wenn nicht er, dann halt ein anderer. Und er half gerne mit, es blieb ihm auch nichts anderes übrig.
Zuweilen konnte man Wärter und Gefangene nur anhand der Uniform auseinanderhalten, eine Fassade, um die fließenden Übergänge zu kaschieren. Wenngleich: Es war selten, dass ein Wärter gepiesackt wurde. Dann war die Retourkutsche jedenfalls eine Überraschung. Dann war der Spaß wirklich vorbei.
Kurz, es gab zwei Arten von Gesetzen: Die ungeschriebenen, und die missachteten.
An jenem Tag ließ man sich in Frieden. In die Zellen wehte ein Hauch von Freiheit. Dass man aber so anders zu ihnen darüber sprach, das konnten sie nicht einordnen. So waren sie misstrauisch und sprachen kein einziges Wort.
"Die Q317!", rief ein Wärter, dessen Kopf in der Tür zum Warteraum erschien.
Schlürfen über den urintriefenden Boden. Stehenbleiben, sich weigern, warum, das wusste er nicht. Der Griff zum Schlagstock löste solche Konflikte jedoch auf bequeme Art, und man sah sich auf der Operationsbahre wieder.
"Berühre es."
...
"Berühre es, sonst E-Schock!"
...
Das abstrus verquälte Schreien zerriss die Luft, die Zeit und die Wirklichkeit. Es kam bis in den Warteraum und verlor sich in den Köpfen von steinernen Ignoranten. Es handelte sich um nichts Größeres als ein kleines Emblem auf der Stirn, das grün glitzerte und V-förmig, wie die Silhouette einer fliegenden Schwalbe gebogen war. Einmal aufgebracht, vertäute es sich mit den Schmerzrezeptoren der Haut. Mechanische Reize leitete es millionenfach verstärkt weiter, und verhinderte nebenbei jegliche Gewöhnung.
Das genaue nanotechnische Funktionsprinzip war absolutes Staatsgeheimnis. Nicht einmal die Wärter wussten darum, wenn sie es mittig auf die Stirne der Gefangenen brachten.
Die Aktion hatte ein europaweites Ausmaß und dauerte etwa zwei Wochen. Die Medien verfuhren derweil geschickt, das Volk gegen derlei gekennzeichnete Nichtmehrmenschen aufzuheizen, indem sie unisono verkündeten:
"Bannt das Böse aus dieser Welt!"
Als Q317 in den Pick-Up bugsiert wurde, fiel ihm wieder einmal ein, was er einmal verbrochen hatte.
Drei Frauen hatte er auf dem Gewissen. Oder, nein: Eigentlich waren sie ihm egal. Das Urteil hatte lebenslanger Freiheitsentzug wegen Vergewaltigung geheißen. Richtig schön, mit Holzstöcken, Fesseln aus Stacheldraht und anderem Kram. Es war zusammen mit seinem Bruder geschehen, der entflohen war, und an dessen Gesicht er sich kaum noch erinnern konnte.
Es musste eine Lust gewesen sein, dachte er sich. Obwohl ihm die Tat bereits sehr fern erschien. Manchmal fragte er sich gar, ob er sie überhaupt begangen hatte. Letztendlich aber war es nicht von der Hand zu weisen.
Hinten war das Verdeck offen. Die Gefangenen konnten so ganz gut verfolgen, welchen Weg der Wagen nahm. Immer mehr Leute liefen ihnen hinterher, aber eher nicht, um sie zu feiern. Höchstens nach dem Kampf feierte man mit dem Schlagstock in der Faust. Hin und wieder klatschten Eier und Tomaten, einmal sogar eine nackte Orange in das Auto. Die Beamten fühlten sich genötigt, das Megafon zu nehmen und die Menge zu verwarnen. Sie wollten nichts abbekommen.
Einen nach dem anderen warf man irgendwo aus dem Wagen. Um ihn den Willkommen-in-der-Freiheit-Prügeln zu übergeben. Man dürfe auf keinen Fall zusammen Schindluder treiben, meinten sie. Habe jeder sein ganz persönliches Schicksal!
Q317 war der letzte. Rausgeworfen wurde er auf einem Feldweg, der anscheinend nur die Horizonte miteinander verband. Weit und breit nichts zu sehen von rechtschaffenen, heißherzigen Bürgern.
Seine Beine schritten müde in die eine, seine Gedanken aber in die andere Richtung. Wurde die Unsicherheit zu stark, machte er kehrt. Denn mit dem Knast war auch die Gleichgültigkeit gegangen. Die Gitter hatten ihm ein rechtwinkliges Stück Hölle beschert. Er sehnte sich schon dahin zurück, wo es auch keine Millionen Maiskolben gab, die nach Qual und Rache lüsterten, im Wind ihre Köpfe wiegten und kreischten: "Du entkommst uns nicht! Du entkommst uns nicht! Du entkommst uns...-" Das Kraftwerk von Q317 wummerte bis in die Kniekehlen.
Ja, das war Freiheit.
Irgendwann machte er einen ernsthaften Versuch, das Emblem abzuziehen. Doch schon als er es nur am Rand berührte, brannte lichterloh die Stirn, und es sprengte seinen Kopf, als er sich instinktiv die Wunde hielt. "Wirf dich in den Sand, wirf dich in den Sand!", kreischten die Stimmen panisch, was er dann auch tat. Er warf sich mit der Stirn voran in den Sand, und das war der Rest - Ohnmacht deckte sich über ihn.
Irgendwann zerrte Q317 ein grausiges, schmerzvolles Erwachen in die Wirklichkeit zurück. Er wusste jetzt nichts mehr besser, als dass er das Emblem sein lassen musste bis ans Ende seiner Tage. Er war also gekennzeichnet, seine Freiheit sabotiert. Auf die hatte er gleichwohl keine Lust mehr.
Mit immer noch schwelendem Kopf befahl er sich, aufzustehen, was am Ende auch gelang.
Das Spiel mit dem Hin und Her hätte sich gewiss ewig wiederholt, wenn ihm nicht ein Heulaster entgegen gekommen wäre.
"Wo wollen Sie hin?"
Q317 stieg ein, ohne eine Antwort zu geben. Das ließ den Fahrer aufsehen, und so erblickte er das Zeichen auf der Stirn von Q317. 'Er wird mich kaltblütig erdrosseln', dachte sich Q317. Wahrhaftig, er bat den Fahrer gar darum, mit seinen Augen.
Der Fahrer aber dachte nur: 'Was trägt der nur dieses komische V auf der Stirn, und warum ist er so ängstlich?'
So legten sie einige Meilen zurück.
Irgendwann regte sich etwas auf der Rückbank. Im Rückspiegel sah Q317 eine junge Frau sich erheben, die bisher da hinten geschlafen hatte und nun erwacht war. Q317 gefiel diese Frau auf Anhieb. Sie war nicht sehr groß, vielmehr zierlich und mit wohlgeformter Silhouette. Schwarze Locken, schwarze Augen, einfach in allem eine Pracht. Und doch wurde ihm schlecht.
Sie rieb sich die Augen, und dann durchfuhr es sie so heftig, dass von ihrem Aufschrei sogar Q317 einen Schreck bekam.
"Halt a...", rief sie mit aufgerissenen Augen und einer Stimme, die sich überschlug, "Halt an, sofort, Wahnsinniger, stop!"
"Was hast Du, Schätzchen, warum?"
Schulterzucken.
"Mensch, das ist ein Vogelfreier, ein Schwerverbrecher, verdammt, hältst Du nicht an?! ... Wirf ihn raus, sofort!", schrie sie wie am Spieß. "Die buchten dich noch ein, wirf ihn doch raus..."
So langsam dämmerte es ihm. Er ließ den Wagen im Leerlauf in eine Pfütze rollen, während er die Gestalt auf dem Beifahrersitz anglotzte, als würde sie das Ende aller Zeit verkünden.
Es bedurfte keiner weiteren Worte. Q317 sprang aus dem Führerhaus in den Schlamm hinein. Keine Sekunde später hatte der Bauer in das Pedal getreten und war raus aus der Situation.
Jetzt war Q317 entschiedener. Er lief einfach geradeaus, ohne wissen zu wollen, wohin. Doch er hielt sich die Hände vor die Stirn, damit niemand sehen konnte, wer er war.
Irgendwann wurde ihm bewusst, dass die Farbe des Weges ins Rötliche spielte. Der Tag ging dem Abend entgegen. Stimmengewirr. Ein schneller Blick und er erkannte vor sich einen gut besuchten Spielplatz hinter einer Hecke. Er beschleunigte seinen Schritt. Vorbei, nur vorbei.
Q317 war einmal Optimist. Er sollte es nicht schaffen. Es geschah, dass er in die Hecke gezerrt wurde, die an dieser Stelle sehr breit war.
Ihm fiel das Gesicht seines Bruders wieder ein, wie ein Stein.
"Aber, aber, Brüderchen, was für ein Zufall." Seine Stimme hatte er gesünder in Erinnerung. Sie war heiser geworden und verraucht.
Q317 schwieg.
"Entwischt? Nein, sehe schon. Verdammtes Pech, arme Sau. Aber auch sowas von verdammt. ...Scheiße, Mann!"
Q317 schwieg immer noch. Die Worte fielen ihm hinten runter und krochen als Magensäure wieder herauf.
"Und jetzt willste wohl Obdach, wa? Sollste kriegen, hehe."
An der Hecke bewegte sich etwas. Das Blattwerk wurde beiseite geschoben, und das Gesicht einer älteren Frau erschien.
"Verschwindet von hier, aber hopp-hopp! Schweine ihr, ich hol die -!" Das Wort blieb ihr wohl im Halse stecken, als sie des Emblems ansichtig wurde. Ihr strenges Gesicht verlor das letzte bisschen Farbe.
Q317 und sein größerer Bruder verließen das Gestrüpp. Die Frau hatte sich die Herren viel kleiner vorgestellt. Jetzt überkam sie die Angst.
Der Bruder musste grinsen angesichts ihrer ohnmächtigen Visage. "Ihr Tanten solltet alle mal ...", sprach's, nahm die Hand wieder heraus und schritt vondannen, den entsetzten Q317 hinter sich herziehend.
Erst als der Motor aufgeheult und sie das Weite gesucht hatten, löste sich die Lähmung und sie jagte ins Haus. Zum Telefon hin, Hörer in die Hand, Nummer gewählt. Sie kannte nicht das Autokennzeichen, aber für Phantombilder sollte es reichen.
Auf dem Weg nach Hause kaufte der Bruder Brötchen und Marmelade. Als er die Wohnung aufschloss, kam Q317 stickige Luft entgegen und öffnete ihm weite Teile seines Gedächtnisses.
Der Bruder stand verträumt grinsend in der Küche und schmierte. Q317 saß bei ihm auf der Kochplatte und heulte Rotz und Wasser. Aber sei es noch soviel, drei Jahre abartigster Qualen wollten sich nicht darin lösen. Drei Jahre, die sein Gewissen krampfend an sich haftete, auf dass es Schutz habe vor etwaiger Entblößung.
"Willste nicht erzählen, wie schön es da war?"
...
"Olle Heulsuse, so schlimm kann's ja nicht gewesen sein. Komm mit inne Bude, grad neuer Porn da."
Sein Bruder flezte sich mit einem Pfirsichmarmeladenbrötchen auf das fleckige Sofa und stopfte sich ein Pfeifchen. Es kostete Q317 einiges an Überwindung, ebenfalls etwas zu essen. In der letzten Zeit vor seiner Inhaftierung hatte er ihm nur noch abgrundtiefen, doch gelähmten Hass entgegengebracht, genauso all seinem Machwerk, und sei es ein karges Zwischenmahl nach einer durchzechten Nacht. Der Hunger war diesmal stärker als sein Wille. Er überwand sich, warf - denn er war Optimist! - alle negativen Gedanken über Bord und stürzte sich über den Teller wie einer, der über drei Jahre lang abartigste Qualen erleben musste und -
Q317 sah auf den Schirm, aber er sah nicht, was er zeigte. Die Musik im Hintergrund war eine perverse Mischung aus Heavy Metal, Alternative Rock und Spielzeugxylophon, dazu das aufopferungsvolle Gestöhne aus den Lautsprechern des Fernsehers. Er war in einer traurigen Trance.
Ganz fern von ihm hörte er sich flüstern...
"Nur noch ficken.
Nur noch rammeln.
Rammel das Böse aus der Welt,
Mäste sie mit deinem Samen.
Nur noch - rammeln,
Nur - noch - ...ficken.
..."
Er schrak auf. Das waren nicht nur seine Worte. Sondern auch die der Musik. Sondern auch die seines Bruders, der sie volle Kehle mitgegröhlt hatte. Q317 biss von seinem Pfirsichbrötchen ab und betrachtete die DVD-Sammlung in der Schrankwand.
"FFII: Linux Expo San Diego Congress", "ARD Sabine Christiansen - Bill Gates", "RTL Notruf 110", "Streifflüge über die karibischen Inseln", und so weiter.
Er sah auf, sein Bruder hatte schon gemerkt, was ihn irritierte. Er hatte einen Damenslip um seinen Schaft gewickelt und war schon eifrig am Pumpen.
"Hehe, 'staunste, wa? Alles randvoll mit KP. Bild-in-Bild-Verschlüsselung, da kann mich die Razzia kreuzweise. That's hardcore, man!"
Da kam's Q317 erst recht hoch. "Scheische Mann, wo isch'nn 'Chlo...", sagte er mit dem Rachen schon voll Soße und hastete ins Bad.
"Weeßte, 'plan ja schon wieder 'n adventure", lallte der Bruder, als Q317 etwas oliv im Gesicht zurückkehrte, und ihn hart ansah, wie ein letztes Aufbäumen vor der großen Kapitulation. Was wusste er schon, wie tief er in der Kacke steckte. Das haltende Seil Moral war bei ihm schon lange gerissen. Bei Q317 natürlich auch, aber man sieht sich selbst ja nur in Spiegeln...
"Schauste nur nich so. Wer war'nn schon im Knast, he? - Du kommst nämlich mit, hast ja Erfahrung, hihi." Da verwandelte sich die Härte schnell in Bleiche. "Sieh mal", sein Bruder sprach fast zärtlich und versöhnlich zu ihm, "allet janz einfach, wenn de dein Opfer erstma' kennst..." Er steckte die Hand flach zwischen Sitzspalte der Couch und brachte ein Foto zum Vorschein.
Er hielt es ihm vor die Augen, damit er sie sich gut einpräge. Sie war nicht sehr groß, vielmehr zierlich und mit wohlgeformter Silhouette. Schwarze Locken, schwarze Augen, einfach in allem eine Pracht...
Sein Bruder war ja schon voll breit gewesen. Trotzdem wunderte sich Q317 über das leichte Spiel, das er mit ihm gehabt hatte. Er kämpfte gegen den Schwindel an. Sah das erste Blut aus dem Ohr des Bruders tropfen, und sah es doch nicht.
Q317 rannte los. Aus der Wohnung raus. Das Treppenhaus und die Straße hinunter. Immer weiter, wie lange, das wusste er nicht, es war ihm auch egal. Er rannte ungeachtet des scharfen Brennens auf der Stirn, des millionenfach verstärkten Windes. Bei nächster Gelegenheit bog er querfeldein und war kaum mehr zu sehen. Obwohl völlig aus der Puste und aller Kraft entledigt, rannte er weiter, hatte er doch rund um sich die lüsternen Maiskolben. Blinde Flucht nach vorne.
Warum noch?
Q317 erwachte mit dröhnendem Kopf und auf kaltem Blech. Ein dünner Lichtstreif kam durch den Spalt zwischen den Türen vor ihm, und brummen hörte er den Motor des LKW. Im letzten Fach seines Gedächtnisses lag Geratter von Rotoren und dann ein stechender Schmerz in seiner Flanke.
Irgendwann hielt der LKW an, sein Motorgeräusch erstarb. Draußen erhob sich eine Megafonstimme. Das Blech verhinderte, dass er auch nur das lauteste der wallenden und wütenden, mit Hass gemästeten Worte verstand. Eines war sicher: Man heizte seinen Ofen an. Er konnte sogar mehrere Male das Aufglühen hören. Bald entflammte sich der Volkszorn vollends. Er entfaltete sich zu einem nervenzerreißenden Kreischen und Brüllen, ein blechernes Trommelgewitter derart, dass ihn der Wahnsinn packte. Panik, die ihn raustrieb, raus in die freie Welt, raus in die große Arena.
Das Spiel brach los wie eine Lawine. Alles stürzte sich aufs Nichts. Jagte es von allen Seiten. Hetzte es, bis zum Schluss.