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Zurückbleiben Bitte

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27.02.2009
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Zurückbleiben Bitte

ZURÜCKBLEIBEN BITTE


Ich stehe am Fenster und rauche, weil der Schlaf wieder nicht kam. Es wird schon hell, aber von mir aus könnte der heranbrechende Tag bleiben, wo er ist. Ich habe keine Lust auf den Tag. Meine Zimmerpflanze steht vorwurfsvoll in ihrer dunklen Ecke, sie bedrängt mich. Sie möchte gegossen werden, aber ich werde mir noch etwas Zeit damit lassen. Das verschafft mir ein Gefühl der Kontrolle, an dem ich mich ergötze. Im Bad wasche ich mir kurz die Hände, dann stelle ich mich wieder ans Fenster. Meine Gedanken sind bei ihr, und die Zeit vergeht unerwartet schnell. Es ist halb fünf, als ich mich setze, um ihr einen Brief zu schreiben.

Liebe J.
Mit diesem Brief wende ich mich ein letztes Mal an dich. Du wirst dich fragen, warum. Verzeih, wenn ich so ausführlich wie ehrlich sein werde.
Vorausgesetzt, man trägt, wie in meinem Fall, Verantwortung nur für sich selbst: Welchen Sinn könnte es dann haben, etwas zu tun, das einem keine Freude bereitet? Diese Frage gilt völlig unabhängig von der unbestreitbaren Wahrheit, dass nichts, wirklich gar nichts auch nur den geringsten Sinn hat, weil es nichts Letztgültiges gibt. Es ist alles eitel. Wer du auch bisT und was du auch tust, die Welt wird es nicht kümmern. Halte dir vor Augen, dass mit „die Welt“ mehr als das Hier und Jetzt gemeint ist. Und wenn es die Welt kümmert, so wie der Holocaust es eingestandenermaßen tut, das Universum interessiert es einen Dreck. Hitler wird vergessen werden, genau wie Jesus. Du weißt, dass ich nicht an Gott oder Jesus glaube, aber ein passenderes Beispiel fällt mir nicht ein. Gandhi meinetwegen, es tut nichts zur Sache. Und selbst wenn man in fünfhunderttausend Jahren noch über Hitlergandhi spräche, was ist danach? Im leeren schwarzen Himmel Reste von Strahlung, irgendwann, nachdem unser Universum kollabiert ist, nachdem sich auch der letzte Festkörper aufgelöst hat. Dann spricht keiner mehr über irgendwas. Daran, dass danach ein neuer Urknall kommen könnte, wage ich gar nicht zu denken. Ich hoffe inständig, dass die Existenz sich diesen Witz verkneift.
Du siehst also, dass es irrelevant ist, ob ein Austausch zwischen uns stattfindet oder nicht. Und, wie ich schon erwähnt habe, es würde mir keine Freude machen. Bitte versteh das nicht falsch, an überhaupt nichts habe ich noch Freude. Bin ich wirklich erst vierundzwanzig? Ich fühle mich um Jahrzehnte älter. Seit ich arbeitslos bin, und vor allem seit du mich verlassen hast, rauche ich viel mehr. Jede Zigarette taucht kurz in meinem Bewusstsein auf, bevor die Inhalation zum gewohnten mechanischen Prozess wird. Ich rauche dann auf Autopilot. In diesem kurzen Moment aber, in dem mir das Rauchen bewusst ist, ist mir auch die Möglichkeit eines Krebstodes, die ich billigend in Kauf nehme, bewusst. Aber diese Aussicht hat ihren Schrecken verloren, da ist nur noch Fatalismus. Das Rauchen ist das einzige, wozu ich mich nicht zwingen muss. Deswegen werde ich nie mehr damit aufhören.
Ich bin guter Hoffnung in mein Leben gestartet, als ich nach Köln gezogen bin. Ich hatte das Gefühl, dass etwas Großes auf mich wartet. Auch als wir beide nach Berlin gingen, war dieses Gefühl noch sehr präsent, und du warst Anlass, mich in meiner Annahme bestärkt zu sehen. Du warst ein Hinweis darauf, dass mein Weg richtig ist. Unser Leben war schön, J. Aber ich muss dir nichts erzählen, du weißt es ja, besser vielleicht noch als ich. Wenn ich sage, dass unser Leben schön war, dann meine ich natürlich meines. So sehr wir auch verschmolzen zu sein schienen, für dich kann ich nicht sprechen. Damals jedenfalls hat mir noch das konkrete und fühlbare Glück, das ich genoss, den Blick auf die oben beschriebene, unbestreitbare Wahrheit verstellt. Ich hatte keinen Anlass, darüber nachzudenken. Welche Gnade! Wie kostbar das abwesende Bewusstsein über unsere Bestimmung doch ist. Nur deswegen sind Kinder und Schwachsinnige immer fröhlich, ohne Grund.

Laut ist es hier. Zu jeder Zeit, Autos und Menschen. Viel Gesindel darunter, das sich streitet. Oft habe ich den Wunsch, Eier oder Farbbeutel nach unten zu werfen, aber ich fürchte, gesehen zu werden. Dann wüssten sie, wo ich wohne. Aber am meisten stören mich die Krankenwagen. Man möchte nicht glauben, wie oft irgendjemand allein in diesem Bezirk einen Notarzt braucht. Weil die Autos sich tagsüber an der Ecke Warschauer stapeln würden, wenn sie könnten, brauchen diese elenden Krankenwagen eine Ewigkeit, bis sie die Kreuzung passiert haben. Der Lärm ist nicht zu ertragen.

Du kennst doch diese Ansagen vom Band in der U-Bahn, kurz bevor sie losfährt: „Zurückbleiben bitte!“ Dann kommt ein Warnsignal, und die Türen schließen sich. Es ist dies eine Situation von geradezu aufdringlichem Symbolgehalt, wahrscheinlich tausendmal interpretierbar. Eine Maschine spricht zu den Menschen, die sich fügen, weil der Menschenstrom in diesem Monster, das wir Großstadt nennen (und es damit klanglich in die Nähe von „Großtat“ rücken, wir Perversen, und auf ihren Metropolencharakter stolz sind), einer Regulation bedarf. Wir werden organisiert. Wie es mich anwidert. Aber nicht alle fügen sich, nur ist das leider nicht besser. Entlang der U8, vor allem zwischen Bernauer Straße und Gesundbrunnen, lungern immer Rotten von jungen Türken oder Arabern, ich kann sie nicht auseinander halten, herum. Oft blockiert einer von denen die Tür, damit seine heranschlendernden Freunde noch einsteigen können. Es kann dauern, bis die Herren sich allmählich bequemt haben, mehrere hundert Menschen warten dann wegen ihnen. Der Gedanke „Keine Angst, der will nur dealen“ hat mich vor einigen Wochen schmunzeln lassen. Wenn die Gesellschaft sie wenigstens bräuchte! Dann wäre dieser kleine Widerstand irgendwie sympathisch, weniger absurd zumindest. Aber von Mitgliedern der Gesellschaft, die gemeinhin als wichtig, als „Leistungsträger“ gelten, ist ein solches Verhalten nicht zu erwarten, da sie ihren Status gerade aufgrund ihrer Konformität erlangt haben. In der Zurückbleiben-bitte!-Situation gibt es kein richtiges oder natürliches Verhalten, keines, das nicht kritisierbar wäre, da die Umstände selbst, unter denen diese Situation erst zustande kommt, falsch und unnatürlich sind. Ich denke, dass ich mit einer gewissen Berechtigung behaupte, dass der Kern allen Übels gut 400 Millionen Jahre zurückliegt, als die ersten Fische sich aufs Land verirrten. Als ich in der Bernauer zuletzt auf die U-Bahn wartete, drängte sich mir die Frage auf: Wo ist eigentlich die SS? Es beschämt mich, solche Gedanken zu haben. Meinem gesitteten Ich wird ganz übel. Ich will so nicht denken, aber ich tu`s. Ich bin ein Menschenfeind geworden. Das Monster, geschaffen von einer Leistungsgesellschaft, der nicht gewachsen zu sein mir immer bewusster wird, hat mich dazu gemacht. Natürlich weiß ich, dass ich unter dieser Voraussetzung in Berlin am falschen Ort bin, wo es hier doch so viele Menschen gibt. Aber wohin sollte ich schon gehen. Ist man frei von Zwang, was gibt es dann, dem man folgen könnte, außer seinen Neigungen? Und was tut jemand, der keine Neigungen mehr hat? Jemand, der sich eingestehen muss, dass eben dieses Handeln ihn an diesen Punkt gebracht hat? Um mich sind nur Mauern, Mauern und Fragezeichen. Und es interessiert mich nicht mehr, was sich dahinter verbergen könnte.
Seit ich dich verloren habe, denke ich oft an Selbstmord. Ich werde es aber nicht tun. Mir fehlt die Entschlossenheit, ich habe nicht die Eier dazu. Und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch keinen ausreichenden Leidensdruck. Ach, hätte ich doch nur einen Grund, mir gleich, ob zu leben oder zu sterben. Ich kann jeden Kriegsheimkehrer verstehen, der das unentwegte Tosen und Wüten in seinem Kopf nicht mehr ertragen will und im Freitod einen nur zu legitimen Ausweg sieht. Meine Situation ist selbstverständlich eine völlig andere. Ich leide unter nichts, aber ich habe keine Erwartungen an das Leben mehr. Ich würde nichts verpassen, nichts Substantielles, denn was hat schon Substanz. Und da drängt sich die Frage doch geradezu auf, weshalb man nicht einfach eine kleine Abkürzung nehmen sollte. Die Welt wird es nicht kümmern. Obwohl, meiner Mutter könnte ich das nicht antun. Die Arme hat so viel Ungemach erdulden müssen, das würde sie nicht mehr überstehen. Sie weint ohnehin jeden Tag, die kleinste Nichtigkeit lässt ihre Tränen fließen, so schwach sind ihre Nerven. Wir telefonieren hin und wieder.

Meine Zeilen geben mir zu denken, sie betrüben mich. Paolo Coelho würde sich im Grabe umdrehen, wenn er schon tot wäre. Der Tag meint es inzwischen ernst, verlangt, wahrgenommen zu werden, und ich reagiere auf die Stunde wie jeder Mensch, ich koche Kaffee. Normalität. Der Brief hat noch Zeit, und ich muss mich von dem, was ich geschrieben habe, erholen. Mich aufheitern, wie man sagt.
Es gelingt mir nicht. Heiterkeit ist ein Zustand, an den ich nur noch vage Erinnerungen habe. Und unmöglich ist er herbeizuführen, wenn man gewiss sein kann, dass er so flüchtig wie unbegründet ist. So, wie es von mögen keinen Imperativ gibt, so kann man auch nicht von sich oder irgendjemandem verlangen, heiter zu sein. Was mir aber gelingt, ist, eine Neutralität der Empfindungen herzustellen. Ich plansche im Internet, denke an nichts. Orson Welles hat einmal gesagt, das Fernsehen sei Kaugummi fürs Gehirn. Das Internet ist es noch viel mehr, der Rückkanal spielt dabei keine Rolle. Verfolgt man dort keine konkrete Absicht, wird man zum Sklaven seiner Gewohnheiten. Trotz einer behaupteten Grenzenlosigkeit hat man bald das Gefühl, alles zu kennen, dreht sich im Kreis. Ich lese Artikel, die ich schon einmal gelesen habe, sehe die immer gleichen Videos, es ist halb acht. Dann onaniere ich. Mir stellt sich die Frage, was es über uns aussagt, dass wir die Möglichkeit haben, den Amateuranalsexporno eines Paares aus Thüringen zu benoten. Die Skala reicht von einem bis fünf Sternen. Ich bin kein Moralist, ich benote ja selbst. Aber habe ich, der in dieser Welt altern muss, dadurch einen Vorteil verglichen mit jemandem, der 1357 geboren wurde? Das Internet ist nicht mehr nur Medium, es ist irrwitzige Umwelt.
Das kalte und banale Glückseligkeitssubstitut der Selbstbefriedigung ist das Maximum an Freude, das ich mir zu verschaffen in der Lage bin. Ich bedauere, dass es danach naturgemäß einige Stunden dauern wird, bis ich wieder will. Mir graut angesichts der Gewissheit, dass mein Köper in gar nicht ferner Zukunft mir auch diese kleinen Flüchte nicht mehr gönnen wird. Schwer und träge sitze ich vor meinem Computer, und starre eine Nachrichtenseite an. Es ist keine Energie in meinem Körper, keine. Ich versinke wieder in einen Zustand tauber Teilnahmslosigkeit, ähnlich wie Hypnose, nur ohne den Effekt der Entspannung. Mein Geist verlässt mich, den Raum und die Stadt. Er treibt sich stundenlang irgendwo herum, wie ein Kind, das sich zuhause nicht wohl fühlt. Die schlaffe, lauwarme Menschenhülle, die ich bin, würde so gerne schlafen, einfach für immer schlafen. Aber es gibt keine Vorhänge. Es ist laut.
Die Sirene eines Krankenwagens, vielleicht der fünfte an diesem Morgen, zwingt meinen Geist in den Körper zurück. Ich wünsche, dass er, der verfluchte Krankenwagen, zu spät kommt. Seit etwa dreißig Stunden habe ich meine Wohnung nicht verlassen, ich hatte auch keinen Grund. Das ist jetzt anders, ich brauche Kaffee und vor allem Zigaretten. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als dem Monster gegenüberzutreten. Eine Nachbarin, die ich noch nie gesehen habe, nickt mir im Treppenhaus, wo es noch immer ein wenig nach DDR riecht, kurz zu. Sie dürfte um die siebzig sein, und hat erkennbare Mühe, ihre Einkäufe nach oben zu tragen. Mit leichtem Abscheu nehme ich Notiz von dem Zeugnis altersbedingten Verfalls, das sich keuchend an mir vorbei schiebt. Sie riecht, wie ich wahrscheinlich auch, denn in den vergangenen Tagen habe ich mich nicht gewaschen. Ich bin froh, dass sie mich nicht gebeten hat, ihr zu helfen. Wäre sie jung gewesen, hätte ich ihr meine Hilfe angeboten. Diese Begegnung beschert mir wieder einen der Momente, in denen mir bewusst wird, dass ich lange keinen richtigen Sex mehr hatte. Ich bin zurückhaltend und sehe durchschnittlich aus, am sozialen Leben nehme ich so gut wie nicht teil. Es ist kein Wunder. Draußen regnet es, wie man es von einem Sommer in Deutschland erwarten darf. Nicht stark, aber stark genug, um die Klamotten auf dem Weg zum Kiosk unangenehm nass werden zu lassen. Trotzdem gehe ich langsam. Der Sexgedanke beschäftigt mich. Es ist nicht so, dass ich danach lechze. Ich mache mir eigentlich keine Gedanken darüber, es kommt gar nicht so weit, da die stete Onanie einem Verlangen vorbeugt. Es baut sich deswegen kein Druck auf. Aber ist diese Vorgehensweise nicht irgendwie unnatürlich? Wäre ich glücklicher, wenn ich ein Sexualleben hätte? Früher war ich es, aber der Sex war eher nachrangig. Ich hänge diesem Gedanken noch einige Zeit hinterher, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Als ich wieder zuhause bin, denke ich bereits an etwas anderes, und koche starken Kaffee. Es zieht mich wieder in mein virtuelles Planschbecken, sonst gibt es nichts zu tun. Ich könnte aufräumen, habe aber keine Lust, und die Ekelgrenze ist noch nicht erreicht. Es ist bis jetzt nur unordentlich, noch nicht versifft. In ein paar Tagen vielleicht. Der Brief an J. wartet noch. Ich möchte ihn fertigstellen, einerseits, weiß aber nicht, was ich ihr noch sagen soll. Während ich darüber sinniere, wird mir allmählich klar, dass ich ihn niemals fertigstellen werde, wie all die anderen, die sich in meiner Schublade stapeln. Lethargie und Vernunft hindern mich daran. Noch einmal lese ich ihn, dann lege ich ihn auf den Stapel. Wie ein naives Kind bin ich, das zum lieben Gott betet, und sich Seine Einflussnahme auf ein kleines, unbedeutendes Leben erbittet. Mit einer Toten teile ich meine Gedanken, weil kein Lebender mir näher steht. Und unbegründet ist die Hoffnung, im Geisterreich gehört zu werden. Weil es nicht existiert. J. existiert nicht mehr.


Spät am Abend habe ich mich zu einem Entschluss durchgerungen. Ich dusche und rasiere meine Schamhaare ab, ich will einen guten Eindruck hinterlassen, das ist mir wichtig. Mein Ziel ist die Kurfürstenstraße, weil ich gehört habe, dass es da billiger als in der Oranienburger ist, wo die besoffenen Amerikaner abgezockt werden. Dreißig Euro habe ich eingeplant, das muss reichen. Als ich ankomme, vermute ich, dass mein Geld locker reicht. Mehr würde kein vernünftiger Mensch in die Miete dieser Sexspielzeuge, die nur zufällig aus Fleisch und Blut bestehen, investieren. Ich drücke mich ein wenig herum, laufe vor zur Potsdamer, rauche eine, gehe wieder zurück. Ich genieße es, von den Nutten angesprochen zu werden. Ich fühle mich begehrt. Trotzdem kostet es mich Überwindung, das Geschäftsangebot anzunehmen. Von einem ruhigen Posten aus, wo ich mich sicher fühle, beobachte ich, wie einige Freier, offensichtlich Routiniers, anhalten und sich die Nutten ihrer Wahl ins Auto holen. Es sieht so einfach aus. Ich nehme mir vor, es mit der nächsten, die halbwegs attraktiv zu finden ich mich zwingen kann, zu tun.
„Na Hübscher, wie wär`s?“, fragt sie mich. Sie hat mich hübsch genannt. Ich finde sie auch halbwegs attraktiv. Sie ist etwa Mitte dreißig, vielleicht jünger, das Korsett verleiht ihr eine Wespentaille. Ihre durchsichtige Strumpfhose ist als Reizwäsche gemeint, leider sieht sie dadurch wie ein abgepacktes Hühnchen aus, so als läge sie in einem Kühlregal. Ein passendes Bild, wie mir scheint. Sie ist viel zu stark geschminkt, wahrscheinlich sehr bewusst. Obwohl sie lächelt, und dabei ihre Madonnazahnlücke zur Schau stellt, wirkt sie traurig und verhärmt. Das macht sie mir sympathisch, weil es ehrlich aussieht. „Was soll es denn kosten?“, erkundige ich mich, in der Hoffnung, sie möge meine Unsicherheit nicht bemerken. „Halbe Stunde, Französisch dreißig, Verkehr fünfzig.“ Diesen Satz hat sie so oft gesagt, dass ihr eine syntaktische Variation nicht mehr möglich ist, so sehr hat er sich eingebrannt in ihr Nuttengehirn. Ich überspiele meine Enttäuschung darüber, dass ich mir Verkehr nicht leisten kann, sage stattdessen „Na, da werden wir uns schon einig.“ Sie lächelt kurz noch etwas mehr, dann hakt sie sich bei mir unter und wir gehen in irgendein Gebäude, vorbei an den anderen Stricherinnen, die missgünstig dreinblicken. „Und wie heißt du?“, will sie wissen. Ich antworte wahrheitsgemäß, obwohl ich mir vorgenommen hatte zu lügen. „Und du?“ „Savannah.“ Gut, denke ich, Savannah, dann ist es jetzt an dir, mir Leben einzuhauchen. Ich bin aufgeregt. Vielleicht freue ich mich sogar, sicher aber spüre ich die sonst allgegenwärtige Traurigkeit in diesem Moment nicht. Eigentlich hat sie damit schon alles für mich getan. Ich bin nicht geil auf sie. Aber jetzt einen Rückzieher zu machen wäre erbärmlich, und es würde sie sicher enttäuschen. Das will ich nicht. So nah wie ihr habe ich mich seit Langem niemandem mehr gefühlt.
Als wir das kleine Zimmer betreten, bin ich überrascht, wie gepflegt es aussieht. Aber das rote, schummrige Licht hilft wahrscheinlich. „Hier ist Vorkasse“, sagt sie knapp. Ich reiche ihr dreißig Euro, die sie entgegennimmt und verstaut. Damit ist für Savannah auch klar, dass sie sich nicht ausziehen muss, sie legt sich bekleidet aufs Bett. Ich ziehe meine Hose aus und fühle mich nackt, nackter als ich bin, und lege mich zu ihr. In einer Frauenzeitschrift habe ich einmal gelesen, man solle beim Gynäkologen einen dicken Pullover tragen, damit fühle man sich nicht so schutzlos. Ich kann das jetzt nachvollziehen, und bin froh über meine leichte Jacke. Das Bett riecht ein wenig, aber das stört mich nicht. Ich schließe die Augen, um sie den Rest besorgen zu lassen, doch zunächst werde ich unterwiesen. „Also, wenn ich dir einen blase kannst du mich anfassen, aber nicht die Haare und auch nicht das Gesicht. Klar?“ Klar. Ich habe nicht vor, dich überhaupt anzufassen, Savannah. Mit der Hand macht sie ihn hart, ich muss an ein Paar aus Thüringen denken, damit es klappt. Mir ist überhaupt nicht nach Sex. Aber ich bringe ihn hoch, irgendwie. Sie streift mir ein Kondom über, er wird schon wieder schlaffer, aber es geht noch. Dann fängt sie an, die Dienstleisterin. Es ist eine unangenehme Situation, die sich so lieblos anfühlt wie sie ist. Während sie meinen Schwanz im Mund hat, kommt mir in den Sinn, dass alles Streben, wonach auch immer, in Enttäuschung enden muss. Kein Ziel kann die frohen Erwartungen während der Reise dorthin erfüllen. Nichts zu erwarten, nichts zu hoffen ist die aufrichtigste Weise, dem Leben zu begegnen. Alles andere ist Schauspiel und Selbstbetrug. Meine Erektion verliere ich natürlich, und Savannah blickt mich fragend an. Sie erwartet zu Recht irgendeine Reaktion von mir. Ich räuspere mich, dann stehe ich auf und ziehe mich an, um uns beiden zu ersparen, was wir nicht fortsetzen wollen. Ich gehe grußlos. Sie wird mich schon bald vergessen, ich werde mich ewig an sie erinnern. Auf der Straße stecke ich mir eine Zigarette an. Dreißig Jahre noch, denke ich mir, vierzig, wenn ich Pech habe. Irgendwo lacht jemand. In ein paar Stunden wird es hell.

 

Hallo tomcollins,

und herzlich willkomme.
Ich fürchte, dieser Text hat deshalb bisher keine Kritik erhalten, weil so viel Selbstmitleid schwer zu ertragen ist.
Natürlich dürfen Geschichten auch misantrophische Inhalte haben, bei dieser habe ich aber den Eindruck, da ist gerade mal so alles reingepackt worden, was auf dem Herzen lag und worauf keine Antwort gefunden wurde. Und der ganze pessimistischpubertäre Weltschmerz, weil jemand von seiner Freundin verlassen wurde.
Der schreibt er einen Brief, bei dem sie sofort den Gedanken haben muss: Zum Glück habe ich ihn verlassen, er zöge mich ja nur in sein depressives Loch.
Für mich verliert die Geschichte in der Häufung der Aufzählungen warum diese Welt nicht zu leben lohnte, an Substanz. Sie bedient sich der typischen Schlagwörter wie "Leistungsgesellschaft", "wir werden reguliert", "Kontrolle", "Uniformität", die solchen Geschichten halt anhaften und hat manchmal in dieser Trostlosigkeit fast komische Gedanken, wenn der Erzähler zum Beispiel begründet, warum er nicht zu rauchen aufhörte:

Das Rauchen ist das einzige, wozu ich mich nicht zwingen muss. Deswegen werde ich nie mehr damit aufhören.
Stilistisch empfinde ich den Text als umgangssprachlich, was sich zum Beispiel in der Unkenntnis von Konjunktiven ausdrückt, die alle über das Hilfsverb "würde" gebildet werden. Auch der Genitiv wird lieber vermieden, dabei spielt der Text doch in Berlin und nicht in Bayern, der Diaspora des Wesfalls.
So leid es mir tut, der Text hat mich nicht überzeugt.

Liebe Grüße
sim

 

Hallo sim,

vielen Dank für die Kritik.

Ich finde den Text selbst schwer erträglich. Er ist in einer Zeit entstanden, in der es mir sehr schlecht ging, ich betrachte ihn daher als eine Art geistigen Stuhlgang. Auch wenn ich mich beim Schreiben nicht völlig mit dem Protagonisten identifiziert habe, ist seine Welt doch in denselben grauen Farben gemalt, in denen ich damals das Leben gesehen habe.

Aber auf eine kleine Unachtsamkeit deinerseits möchte ich dennoch hinweisen: Die Freundin hat den Protagonisten nicht verlassen, sondern ist gestorben und mit ihr all seine Lebensfreude.

Was die stilistischen Unzulänglichkeiten betrifft, hast du aber wohl recht.

Mit freundlichen Grüßen,

tc84

 

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