- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Zurückgeblieben
Ein Ball kullerte auf sie zu und blieb vor ihren Füßen liegen. Unschlüssig sah Franziska auf ihn hinab. Ein kleiner Junge kam in ihre Richtung gelaufen. Sie stieß mit ihrem Gehstock nach dem Ball, um ihn dem Jungen zuzuspielen. Aber der Stock rutschte ab und der Ball blieb liegen. Schon war der Junge da, hob den Ball auf und grinste sie fröhlich an. Franziska versuchte ein Lächeln. Aber der Junge hatte ihr bereits den Rücken zugedreht und rannte zurück zu seinen Freunden.
Sie ließ sich langsam und umständlich auf eine Parkbank sinken und legte den Stock neben sich ab. Wehmütig blickte sie auf die Ball spielenden Kinder. Ein junges Pärchen schlenderte Arm in Arm und schäkernd an Franziska vorbei. Sie sind alle nicht alleine, dachte Franziska bitter. An manchen Tagen würde ihr schon ein kleiner wackelnder Goldfisch im Glas reichen, damit Einsamkeit und Trostlosigkeit sie nicht übermannten. Der Fisch würde ihr stille Gesellschaft leisten, ihm könnte sie von früher erzählen. Im Seniorenstift waren Haustiere jedoch nicht erlaubt. Und von den übrigen Mitbewohnern hatte sich Franziska bisher abgekapselt. Sie wollte nicht mit denen über belangloses Zeug reden. Unwillkürlich presste sie die Lippen aufeinander.
Seit Johannes´ Tod machte ihr Leben einfach keinen Sinn mehr. Sie hatte ihr gemeinsames Haus verlassen müssen, weil sie es alleine nicht geschafft hätte, sich zu versorgen. Ihr Hüftleiden und der fortschreitende graue Star machten es unmöglich. Johannes hatte immer so viele Dinge erledigt. Da es keine Kinder gab, die sie hätten aufnehmen können, war ihr nur der Weg in ein Seniorenstift geblieben. Dort schien sie gut aufgehoben. Sie bewohnte ein kleines Appartement im ersten Stock, das sie nur zu den Mahlzeiten im Speiseraum verließ. Die übrige Zeit saß sie zusammengekauert auf ihrem Sessel, lauschte dem Radio oder blickte einfach nur stundenlang aus dem Fenster. Oft zeichneten danach salzige Spuren auf ihren Wangen den Weg der Tränen nach.
Heute hatte sie die Oktobersonne jedoch so vorwitzig durch ihr Fenster gekitzelt, dass Franziska sich zögerlich hinaus gewagt hatte. Das Gehen bereitete ihr Mühe, nur sehr langsam hatte sie sich durch den kleinen Park bewegt, der das Seniorenstift umgab.
Ein satt dunkelrot verfärbtes Ahornblatt segelte neben ihr auf die Bank nieder. Sie nahm es auf und strich mit den Fingern darüber. Es fühlte sich glatt und fest an, aber sie konnte auch die feinen Adern spüren, die das Blatt durchzogen. Versonnen zwirbelte sie das Blatt zwischen den Fingern. Den Herbst hatten Johannes und sie so sehr gemocht. Mit seinen warmen Farben und dem besonderen Duft nach Laub und Erde hatte er sie beide jedes Jahr aufs Neue verzaubert.
Johannes´ Leben war ihr Leben gewesen. Als sie sich kennen lernten, war sie bereits neunundzwanzig Jahre alt gewesen. Sie hatten sich vom ersten Moment so verbunden und vertraut gefühlt, dass es ihnen unerklärlich gewesen war, wie sie vorher ohne einander hatten auskommen können. Wenige Zeit später waren sie frisch verheiratet in ein kleines Haus am Stadtrand gezogen. Ein Leben ohne den Anderen war von nun an unvorstellbar.
Franziska schloss die Augen. Johannes. Sie sah ihn immer noch so lebendig vor sich, sein widerspenstiges, graues Haar, die Lachfältchen um die Augen. Wenn sie doch jetzt mit ihm hier sitzen könnte. Er würde ihre Hand nehmen und sie festhalten. Vielleicht würde er ihr von einem fernen Land erzählen, und sie würden sich übermütig ausmalen, es zu erkunden, bevor sie in die süßen Erinnerungen an ihre unzähligen, gemeinsamen Reisen versinken würden. Wann immer sie von diesen vielen Erkundungen wieder in ihr kleines Haus zurückgekehrt waren, hatten sie sich vorgestellt, ein Stückchen Welt mitzubringen, so dass sie irgendwann den ganzen Globus bei sich zu Hause hätten. Bis zu dem Zeitpunkt, da Franziskas Beschwerden das Reisen nicht mehr möglich gemacht hatten, waren sie zusammen unterwegs gewesen, um fremde Städte und Länder kennen zu lernen.
Irgendwie hatte Franziska immer gedacht, sie würden auch ihre letzte Reise eines Tages gemeinsam antreten. Aber er war ohne sie gegangen. Nach neunundvierzig Jahren Ehe hatte sein Herz plötzlich aufgehört zu schlagen, mitten in der Nacht.
Das lag nun drei Monate zurück. Franziska verspürte seitdem nur noch den Wunsch, auch ihr Leben möge zu Ende gehen. Es war eine Qual für sie, sich jeden Morgen aufzuraffen, um einem Tag ohne Johannes entgegenzuhumpeln. Einem Tag ohne Licht, Wärme, Freude, Hoffnung, Mut.
Vor seinem Tod war Franziska eine lebenslustige Frau gewesen. Sie hatte jedem Tag entgegengelacht, mochte er noch so hässlich gewesen sein. Es hatte einem Freude bereitet, mit ihr zu sprechen, da sie eine wunderbare Zuhörerin gewesen war und für ihr geknicktes Gegenüber stets aufmunternde Worte bereit gehabt hatte. Selbst später, als ihre Leiden begonnen hatten, schien kein noch so bohrender Schmerz es ihr wert gewesen, darüber zu jammern oder zu klagen.
Auf einmal schien es, als gäbe es diese Franziska nicht mehr. Als habe Johannes sie mitgenommen und eine leere Hülle zurückgelassen.
Franziska schüttelte es. Die Sonne blinzelte nur noch schwach durch Bäume, die Kinder trollten sich lachend und schwatzend aus dem Park nach Hause. Franziska schob ihr wärmendes Halstuch höher. Dann griff sie nach ihrem Gehstock, um sich darauf zu stützen und erhob sich mühsam von der Bank. Langsam trat sie den Rückweg an.
Als sie das Seniorenstift erreichte, rief ihr eine winkende alte Frau von ihrem Balkon einen Gruß zu. Franziska zögerte.
Dann winkte sie, das rote Ahornblatt zwischen den Fingern, vorsichtig zurück.