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Zwanzig Cent Wahrheit

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17.04.2006
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Zwanzig Cent Wahrheit

Zwanzig Cent Wahrheit

„Jetzt wird er wieder lila. Siehst du, nur weil du mich wütend machst mit deinem elendigen Pessimismus!“ Eigentlich ärgere ich mich mehr über mich selbst als über Ivo. Immer endet es so, wenn wir uns ,unterhalten’. ,Lass uns mal wieder unterhalten’… Klar Ivo, warum nicht… Und trotzdem hör ich ihm immer wieder zu. Er redet, schweift aus, träumt, verliert sich in seiner Welt, die er mich zwingt zu verstehen.
„Hör doch endlich mit dem scheiß Ring auf! Du verstehst nicht, um was es geht!“ Ivo wird laut. Ich hasse es, ihn enttäuscht zu sehen.
Seine Gedanken schreien nach Beachtung, ich merk es ja, aber warum bin ich diejenige die sie beachten muss? Er zwängt sie mir auf, ich versuche nachzuvollziehen, aber sie an meiner Geistesoberfläche abprallen zu lassen Es klappt nie. Sie fressen sich in meine Seele, bestimmen mein Denken, bringen meine Gefühle durcheinander.

Mir wird schwindelig. Ich kurbel’ die Scheibe etwas runter. Durch die schmale Öffnung zieht der Rauch seiner Zigarette und verliert sich draußen in den Abgasen. Der Tacho ist kaputt. Wir müssen schnell sein, denn alles an dem wir vorbei fahren wird zu einem einzigen breiten grauen Streifen.

Ich betrachte meinen Ring, während ich ihn langsam drehe. Vor drei Jahren hab ich ihn mir für zwanzig Cent an einem Automaten gezogen. Am selben Tag noch hab ich Ivo kennen gelernt.

Wir schweigen. Es leiert sein neuestes Mixtape. Zwischen zwei Songs, ganz leise unter dem Rauschen, hört man Rios Parolen. „Du hast das Scherben-Tape überspielt?“, frage ich ihn verwundert. Früher haben wir das immer im Auto gehört, laut mitgesungen und uns dabei heimlich einen Missstand ersehnt, etwas gegen das es sich zu rebellieren lohnte. „Das sind nicht wir“, sagt Ivo nach einer kurzen Pause, „das ist nicht für unsere Generation gedacht. Ich bin nicht pessimistisch, ich sehe alles so wie es ist. Ganz und gar. Du musst alles als Einheit betrachten, Marie, das Leben und die Zeit dazwischen. Es ist nicht so, wie wir es uns vorstellen“

„Was ist mit dir los, Ivo?“ Was soll schon mit ihm los sein, derselbe Psychoquatsch seit drei Jahren. Ich kenn das. Aber er ist in dieser Zeit zur wichtigsten Person in meinem Leben geworden. Auch wenn ich ihn mal einen Monat lang nicht sehe, ist er immer präsent. Ich bekomme ihn nicht mehr aus meinem Kopf. Er hat mich nie gefragt, ob er da überhaupt erwünscht ist.

„Wir kriegen echt zuviel von jedem Scheiß!“, versucht Ivo mir zu erklären, „Schau dich mal um! Es ist bunt, es ist laut. Wir haben Angst vor Zeit, deshalb stopfen wir sie voll, versuchen sie nicht zu bemerken und schnell zu verbringen. Tausende Banalitäten, die wir zum Himmel heben, an denen wir unser Herz hängen und die morgen vergessen sind, lieblos ersetzt durch gleichwertigen Dünnschiss“. Seine Stimme nimmt einen ernsten Ton an. „Aber wenn du erkennst, dass das alles nicht ist für was du es hältst, dann fängt es an gefährlich zu werden“. Bei den letzen Worten sieht er mir direkt in die Augen. Wir stehen an einer Ampel. Seine schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht und verdecken fast seine stechend grünen Augen, die mir als erstes bei ihm aufgefallen sind, am Tag, als ich mir den Ring am Kaugummiautomaten ergattert habe.

„Gefährlich?“, frage ich gebannt und unter dem demütigen Wissen, wieder von seinen Gedanken gefangen zu sein.

„Wir bekommen alles was wir wollen. Jede Droge, jede Musik, nichts ist mehr neu. Wir haben viel zu viel und doch fehlt das Wichtigste. Wer weiß denn wo er hin gehört? Die überfressene Jugend hat keine verdammten Helden mehr! Keine Ziele und nichts für das es sich lohnt morgens aufzustehen. Scheiße, wo ist denn unser Platz hier? Ich weiß, niemand will die Songs spielen, die ich schreibe, geschweige denn hören. Wäre ja auch sinnlos. So wie alles hier sinnlos ist. Alles ein Brei“

Der Ring färbt sich grün. Mir wird kalt. Heute verläuft das Gespräch irgendwie anders als sonst. Es ist so ekelhaft realitätsnah. Kommt er nicht sonst nach spätestens drei Minuten auf das Universum, irgendwelche andere Welten, Gottestheorien oder längst verstorbene Philosophen?

Aus den kleinen Lautsprechern besingt Thees die US-Amerikanische Hauptstadt.
Ivo sagt: „Du musst gar nicht nach New York, um zu wissen wie es dort ist“. Das leuchtet mir ein.

„Ich mag deine Songs“, flüstere ich ihm zu. Ich weiß nicht warum ich flüster, ich weiß auch nicht warum mir Tränen in die Augen steigen.
„Ja…“ Ivo schmeißt seine Kippe aus dem Fenster, „das ist gut“.

Ich drehe an meinem Ring. Zu viele Eindrücke, wenn ich mich mit diesem Typen unterhalte.
„Marie, entweder du lebst weiter diese auferzwungende Oberflächlichkeit, oder du kommst mit mir dahin, wo wir frei sind“.
„Wo soll das sein?“ Scheißfrage! Ich weiß doch genau wo das sein soll. Ich bekomme Angst. „Für so was bin ich nicht bereit“, sage ich.
„Hast du dir mal überlegt, was du tun kannst, wenn dir das Arm-Aufschneiden nichts mehr bringt? Verdammt, ich muss hier raus, Marie!“
Beschämt betrachte ich meine vernarbten und zerkratzen Unterarme. Scheiße, bin ich genau so ein Psycho wie Ivo? Das ist mir vorher nicht bewusst gewesen. Auf einmal wird alles wahr. Alles was er mir je erzählt hat, über Menschen, Gedanken, Gefühle, die Welt. Alles ist ganz klar und logisch. Nichts hat mehr Wert. Dennoch, etwas in mir weigert sich.
„Ich muss zurück“
„Dann wirst du verlieren! Jemand der alles erkannt hat, kann dort nicht weiter leben!“
„Du bist krank, Ivo!“ Ich ziehe meinen Ring ab und lasse ihn durch das geöffnete Fenster fallen. Ich bilde mir ein, das Klimpern zu hören, mit dem dieses zwanzig Cent werte Kinderspielzeug auf die verregnete Landsberger fällt.

Vollbremsung.

Ich sitze neben einem schwarzhaarigen Jungen im Auto. Er hat schöne grüne Augen. Wir sind irgendwo im Osten der Stadt.
„Wer bist du?“, fragt der Junge.
„Ich weiß nicht“, antworte ich, „Wer bist du?“
„Steig aus!“
Ich steige aus. Es regnet. Der Junge fährt los. Die Reifen quietschen. Er fährt schnell und wird immer schneller.
,Da kommt eine Kurve’, denke ich. Ich drehe mich um und gehe die Straße zurück. Den Knall nehme ich wahr und das Blaulicht.
Komischer Junge. Da liegt ein roter Ring im Gras, gleich neben der Straße. ,Lass uns mal wieder unterhalten’, schießt es mir durch den Kopf.
Ich muss weinen.

 

Hallo Ray,

erstmal Willkommen auf kg. Ich finde es nicht einfach etwas zu der Geschichte zu schreiben, weil ich sie als eine ziemlich zwiespältige Angelegenheit empfinde. Zunächst einmal finde ich sie sprachlich gut gemacht. Von der Charakterkonstruktion her ist Marie über weite Strecken glaubwürdig, außer in dem Moment, da ihr auffällt, Ivo hätte ja eigentlich vollkommen recht. That seems a little bit fast. Überhaupt habe ich das Problem, dass Ivo mir vollkommen unglaubwürdig erscheint. Oder anders gesagt: Es gibt solche Menschen wie ihn, Menschen mit (nicht immer naiven) Idealen, doch du überziehst das in einen monologistischen Schwall, der eher satirisch wirkt; was vermutlich nicht gewollt war. Mich erinnert er inklusive seinem Ende ziemlich an James Dean. Nur James Dean verkörperte 1950 ein Klischee, das auf die 20er Jahre abzielt und heute haben wir 2006. Natürlich war er Schauspieler und kein Revolutionär, aber auch dein Charakter raucht vermutlich den Tabak irgendeiner amerikanischen Marke und fährt ein japanisches oder deutsches Auto.
Ich weiß nicht, ob du ausdrücken willst, dass Marie eine (Mit-)Schuld an Ivos Tod zukommt und sich dieselbe dann auch zuweist. Falls ja, so finde ich das problematisch im Sinne einer moralischen Aussage, die ein Leser auf sich projezieren könnte. Es ist ja eine Art Scheinschuld, da Ivo sich sein Schicksal aus freien Stücken wählt. Ein Mensch, der sich damit belastet, ist eben nicht frei, was deine Charaktere ja sein wollen.
Du zerschlägts die gleißende Naivität (und Schönheit) der Ringszene mit einer verkopften und sich im Kreis drehenden Naivität und das ist schade.

nils

 

Puh, danke für die schnelle Einschätzung. Du hast viel mehr Dinge betrachtet als ich.
Dass Marie zu schnell auffällt, dass Ivo Recht hat, finde ich nicht. Marie hat die ganze Zeit Angst, von Ivos Gedanken eingewickelt zu werden, denn sie weiß, dass sie sich zu leicht von so idealistischen Menschen wie Ivo, oder besser gesagt: speziell von ihm, beeindrucken lässt. Marie hat nicht nur eine Seite.
Ja, und der Ivo, hm, vielleicht ist er wirklich etwas überzogen, ich bin mir nicht sicher. Ich wollte durch seine Rede seine Psyche und Ideologie verdeutlichen, die auch ursprünglich so auffällig extrem sein sollte. Aber dass es satirisch wirkt, war wirklich nicht gewollt.
Zu James Dean kann ich nicht viel sagen. Aber als Helden oder so wollte ich Ivo nicht dastehen lassen. Ich wollte die Anziehung verdeutlichen die er auf Marie auswirkt.
Und noch kurz zu der Mitschuld am Tod Ivos:
Ich finde garnicht, dass man denken könnte, Marie hätte Schuld. Ivo hätte sich so oder so umgebracht. Dass Marie den Ring weggeworfen hat und sich somit der Lage entzogen hat, hat sie nur selbst gerettet. Damit hat sie sich Ivo entzogen und sich aus seinem "Psychonetz" befreit. Sie ist ja keine Psychologin und deshalb war es das Klügste, wenigstens sich selbst vor dem Tod zu bewahren.
Also, so sehe ich das. Aber wahrscheinlich habe ich einfach mehr über die Personen im Kopf, als ich dem Leser verdeutlicht habe. Das ist halt immer schwierig darzustellen.
Aber vielen Dank. Ich werde das alles nochmal überdenken.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ray.Kosmos.

Eine sehr gute Geschichte wie ich finde. Die Protagonistin, ihr narzisstischer Freund, der Ring, Freiheit, Liebe. Die Charaktere fand ich sehr glaubwürdig.
Stilistisch hab ich nichts zu meckern gefunden, hab' auch nicht weiter danach gesucht, weil mich mehr beschäftig hat, was erzählt/gezeigt wird.
An der Stelle hier:

Auf einmal wird alles wahr. Alles was er mir je erzählt hat, über Menschen, Gedanken, Gefühle, die Welt. Alles ist ganz klar und logisch. Nichts hat mehr Wert. Dennoch, etwas in mir weigert sich.
muss ich Nils allerdings zustimmen. Es wirkt etwas abrupt, was aber besonders an dem "Auf einmal" liegt, auf das dann wieder das "Dennoch" folgt.

Den Knall nehme ich wahr und das Blaulicht.
Sollte das heißen "...und auch das Blaulicht"?

Zum Schluss hätte ich fast noch ein wenig mehr lesen können.

Dennoch sehr schön. Freundliche Grüße, Rodion

 

Hallo Ray.Kosmos,

das Lebensgefühl kann ich nachvollziehen. Weniger Jugendarbeitslosigkeit treibt junge Menschen in den Wahnsinn, als die Bedeutungslosigkeit der Zeit. Andere Generationen konnten gegen den Schah demonstrieren, gegen den Muss aus tausend Jahren unter den Talaren, gegen Kernkraftwerke und Pershings, gegen Franz-Josef Strauß und für die sexuelle Revolution. Es hat in kleinen Schritten mal mehr, mal weniger gebracht, vielleicht sogar Strukturen aufgebrochen. Ivo scheinen diese Möglichkeiten zu fehlen. Er spürt die latente Unzufriedenheit und empfindet sich als machtlos. Und diese Machtlosigkeit schwallt er in Grund und Boden, bevor er in den Tod fährt.
Dabei hätte er von Zeittypica auch lernen können. Damit sein Tod überhaupt einen Sinn hätte, hätte er zum beispiel einen offenen Abschiedsbrief an eine Zeitung oder einen Fernsehsender schreiben können.
Ich kenne viele, die so denken, wie Ivo, die an ihrer Machtlosigkeit scheitern, in der ihnen auch noch erzählt wird, sie könnten alle Ziele erreichen, wenn sie nur wollten. Sich dem Spiel zu verweigern wird im Zuge der Globalisierung immer schwerer, immer aussichtsloser. Und man kann es fast erschreckend nennen, wie wenig die Generation (bis auf ein par Attacaktivisten) die Bedingungen der Globalisierung als Anlass zum Kämpfen sieht. In sofern wäre zu fragen, ob dieser Satz Ivos stimmt:

Keine Ziele und nichts für das es sich lohnt morgens aufzustehen. Scheiße, wo ist denn unser Platz hier?
Einen Platz gäbe es. sie müssten ihn nur besetzen, wie die Instantbesetzer in den 80ern die Häuser. Aber auch die Kraft zum Protest muss natürlich irgendwo her kommen.
In seinem Gerede aber kommt die psychische Not zu kurz, die ihn letztlich den Mut für den letzten Tritt aufs Bremspedal gibt.
Der Suizid erscheint mir noch nicht zwingend genug. Die Entscheidung Maries geht mir zu flott aus der Tastatur. Dadurch erweckt die Geschichte den Eindruck als hättest du sie nur benutzt, um Ivos Theorien unters Volk zu bringen.
Ich kurbel’ die Scheibe etwas runter.
kurble
Ich bin nicht pessimistisch, ich sehe alles so wie es ist.
Alle Pessimisten halten sich für Realisten.;)
entweder du lebst weiter diese auferzwungende Oberflächlichkeit
aufgezwungene

Trotz aller Kritik regt die Geschichte zum Nachdenken an und hat mir deshalb gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

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