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Zwanzig Cent Wahrheit
Zwanzig Cent Wahrheit
„Jetzt wird er wieder lila. Siehst du, nur weil du mich wütend machst mit deinem elendigen Pessimismus!“ Eigentlich ärgere ich mich mehr über mich selbst als über Ivo. Immer endet es so, wenn wir uns ,unterhalten’. ,Lass uns mal wieder unterhalten’… Klar Ivo, warum nicht… Und trotzdem hör ich ihm immer wieder zu. Er redet, schweift aus, träumt, verliert sich in seiner Welt, die er mich zwingt zu verstehen.
„Hör doch endlich mit dem scheiß Ring auf! Du verstehst nicht, um was es geht!“ Ivo wird laut. Ich hasse es, ihn enttäuscht zu sehen.
Seine Gedanken schreien nach Beachtung, ich merk es ja, aber warum bin ich diejenige die sie beachten muss? Er zwängt sie mir auf, ich versuche nachzuvollziehen, aber sie an meiner Geistesoberfläche abprallen zu lassen Es klappt nie. Sie fressen sich in meine Seele, bestimmen mein Denken, bringen meine Gefühle durcheinander.
Mir wird schwindelig. Ich kurbel’ die Scheibe etwas runter. Durch die schmale Öffnung zieht der Rauch seiner Zigarette und verliert sich draußen in den Abgasen. Der Tacho ist kaputt. Wir müssen schnell sein, denn alles an dem wir vorbei fahren wird zu einem einzigen breiten grauen Streifen.
Ich betrachte meinen Ring, während ich ihn langsam drehe. Vor drei Jahren hab ich ihn mir für zwanzig Cent an einem Automaten gezogen. Am selben Tag noch hab ich Ivo kennen gelernt.
Wir schweigen. Es leiert sein neuestes Mixtape. Zwischen zwei Songs, ganz leise unter dem Rauschen, hört man Rios Parolen. „Du hast das Scherben-Tape überspielt?“, frage ich ihn verwundert. Früher haben wir das immer im Auto gehört, laut mitgesungen und uns dabei heimlich einen Missstand ersehnt, etwas gegen das es sich zu rebellieren lohnte. „Das sind nicht wir“, sagt Ivo nach einer kurzen Pause, „das ist nicht für unsere Generation gedacht. Ich bin nicht pessimistisch, ich sehe alles so wie es ist. Ganz und gar. Du musst alles als Einheit betrachten, Marie, das Leben und die Zeit dazwischen. Es ist nicht so, wie wir es uns vorstellen“
„Was ist mit dir los, Ivo?“ Was soll schon mit ihm los sein, derselbe Psychoquatsch seit drei Jahren. Ich kenn das. Aber er ist in dieser Zeit zur wichtigsten Person in meinem Leben geworden. Auch wenn ich ihn mal einen Monat lang nicht sehe, ist er immer präsent. Ich bekomme ihn nicht mehr aus meinem Kopf. Er hat mich nie gefragt, ob er da überhaupt erwünscht ist.
„Wir kriegen echt zuviel von jedem Scheiß!“, versucht Ivo mir zu erklären, „Schau dich mal um! Es ist bunt, es ist laut. Wir haben Angst vor Zeit, deshalb stopfen wir sie voll, versuchen sie nicht zu bemerken und schnell zu verbringen. Tausende Banalitäten, die wir zum Himmel heben, an denen wir unser Herz hängen und die morgen vergessen sind, lieblos ersetzt durch gleichwertigen Dünnschiss“. Seine Stimme nimmt einen ernsten Ton an. „Aber wenn du erkennst, dass das alles nicht ist für was du es hältst, dann fängt es an gefährlich zu werden“. Bei den letzen Worten sieht er mir direkt in die Augen. Wir stehen an einer Ampel. Seine schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht und verdecken fast seine stechend grünen Augen, die mir als erstes bei ihm aufgefallen sind, am Tag, als ich mir den Ring am Kaugummiautomaten ergattert habe.
„Gefährlich?“, frage ich gebannt und unter dem demütigen Wissen, wieder von seinen Gedanken gefangen zu sein.
„Wir bekommen alles was wir wollen. Jede Droge, jede Musik, nichts ist mehr neu. Wir haben viel zu viel und doch fehlt das Wichtigste. Wer weiß denn wo er hin gehört? Die überfressene Jugend hat keine verdammten Helden mehr! Keine Ziele und nichts für das es sich lohnt morgens aufzustehen. Scheiße, wo ist denn unser Platz hier? Ich weiß, niemand will die Songs spielen, die ich schreibe, geschweige denn hören. Wäre ja auch sinnlos. So wie alles hier sinnlos ist. Alles ein Brei“
Der Ring färbt sich grün. Mir wird kalt. Heute verläuft das Gespräch irgendwie anders als sonst. Es ist so ekelhaft realitätsnah. Kommt er nicht sonst nach spätestens drei Minuten auf das Universum, irgendwelche andere Welten, Gottestheorien oder längst verstorbene Philosophen?
Aus den kleinen Lautsprechern besingt Thees die US-Amerikanische Hauptstadt.
Ivo sagt: „Du musst gar nicht nach New York, um zu wissen wie es dort ist“. Das leuchtet mir ein.
„Ich mag deine Songs“, flüstere ich ihm zu. Ich weiß nicht warum ich flüster, ich weiß auch nicht warum mir Tränen in die Augen steigen.
„Ja…“ Ivo schmeißt seine Kippe aus dem Fenster, „das ist gut“.
Ich drehe an meinem Ring. Zu viele Eindrücke, wenn ich mich mit diesem Typen unterhalte.
„Marie, entweder du lebst weiter diese auferzwungende Oberflächlichkeit, oder du kommst mit mir dahin, wo wir frei sind“.
„Wo soll das sein?“ Scheißfrage! Ich weiß doch genau wo das sein soll. Ich bekomme Angst. „Für so was bin ich nicht bereit“, sage ich.
„Hast du dir mal überlegt, was du tun kannst, wenn dir das Arm-Aufschneiden nichts mehr bringt? Verdammt, ich muss hier raus, Marie!“
Beschämt betrachte ich meine vernarbten und zerkratzen Unterarme. Scheiße, bin ich genau so ein Psycho wie Ivo? Das ist mir vorher nicht bewusst gewesen. Auf einmal wird alles wahr. Alles was er mir je erzählt hat, über Menschen, Gedanken, Gefühle, die Welt. Alles ist ganz klar und logisch. Nichts hat mehr Wert. Dennoch, etwas in mir weigert sich.
„Ich muss zurück“
„Dann wirst du verlieren! Jemand der alles erkannt hat, kann dort nicht weiter leben!“
„Du bist krank, Ivo!“ Ich ziehe meinen Ring ab und lasse ihn durch das geöffnete Fenster fallen. Ich bilde mir ein, das Klimpern zu hören, mit dem dieses zwanzig Cent werte Kinderspielzeug auf die verregnete Landsberger fällt.
Vollbremsung.
Ich sitze neben einem schwarzhaarigen Jungen im Auto. Er hat schöne grüne Augen. Wir sind irgendwo im Osten der Stadt.
„Wer bist du?“, fragt der Junge.
„Ich weiß nicht“, antworte ich, „Wer bist du?“
„Steig aus!“
Ich steige aus. Es regnet. Der Junge fährt los. Die Reifen quietschen. Er fährt schnell und wird immer schneller.
,Da kommt eine Kurve’, denke ich. Ich drehe mich um und gehe die Straße zurück. Den Knall nehme ich wahr und das Blaulicht.
Komischer Junge. Da liegt ein roter Ring im Gras, gleich neben der Straße. ,Lass uns mal wieder unterhalten’, schießt es mir durch den Kopf.
Ich muss weinen.