Zwei Euro und ein Knopf
Coby ging die leere Straße entlang. Es war eine sonst viel befahrene Straße in einer kleinen Stadt, die heute wie ausgestorben schien. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt, die kaum Platz für die Sonnenstrahlen machten, und so war der Himmel trüb und grau, wie an einem verschneiten Wintertag. Aber es fiel kein Schnee.
Und der Schnee war nicht das einzige, was nicht da war. Es waren keine Menschen in der Stadt zu sehen. Nicht ein einziges Gesicht erschien an den vielen Fenstern, nicht ein einziges Wort fiel in der wüsten Leere. Kein Auto fuhr durch die Straßen.
In den Schaufenstern war nichts zu sehen. In dem des Schuhgeschäfts, an dem Coby vorbeischlenderte, standen keine Schuhe. Nur leere kleine Podeste zeugten davon, dass dort einmal etwas gewesen sein mochte. In den Fenstern der Boutique hing kein einziges Kleid, nicht einmal eine Schaufensterpuppe starrte Coby aus leeren Augen an.
Leer war das richtige Wort für alles hier. Einsam, leer, verlassen.
Nur Coby wanderte hindurch, blieb hin und wieder stehen und starrte in den Himmel, oder zu den Fenstern der Wohnhäuser hinüber. Doch auch dort blieb alles leer.
Coby steckte seine kalten Hände in seine Jackentasche und zog sie kurz darauf wieder hinaus. In seiner linken Hand weilte ein silber-golden glänzendes Stück Metall, das der junge Mann durch seine Finger gleiten ließ und immer wieder hoch warf und auffing. Dann betrachtete er das kleine, runde Ding und sah sich wieder um. Jetzt hatte er also zwei Euro, aber wo sollte er die ausgeben können? Weit und breit war schließlich nichts. Nichts, das man hätte kaufen können. Nichts, das man hätte stehlen können. Einfach gar nichts.
Was also sollte er tun?
Er war allein. Hier war nichts. Hier war niemand. Warum? Wo waren sie?
Coby wusste es. Sie waren fort. Sie waren dort, wo sie schon immer gewesen waren: im Nirgendwo.
Coby steckte die Zwei-Euro-Münze zurück in seine Jackentasche und setzte seinen Spaziergang fort.
Coby war im Übrigen nicht einmal sein richtiger Name. Sein richtiger Name war vollkommen egal. Ihm jedenfalls. Und das reichte. Schließlich gab es hier auch niemanden außer ihm. Wen also sollte es stören, dass er sich einfach einen anderen Namen ausgesucht hatte, als den, den man ihm vor langer, langer Zeit einmal gegeben hatte? Er war ein alter Mann, da zählte alles nicht mehr viel. Alt und jung, was bedeutete das schon? Wo war der Sinn davon, wen interessierte es? Er konnte sich alt nennen, oder er konnte sich jung nennen. Er konnte ein Dieb sein, ein Mörder, ein Heiliger, der Messias. Vollkommen egal. Er war ja allein. Er war, wer immer er sein wollte.
Woher kamen die zwei Euro in seiner Tasche? Er glaubte sich zu entsinnen, dass sie von seinem Schreibtisch stammen. Der war ewig weit entfernt. Coby hatte noch nicht vor, dahin zurück zu kehren. Zu seinem Schreibtisch, zu seinem Haus, zu seiner Heimat. „Was soll’s“, murmelte er nur laut und ging weiter, immer weiter.
Bis er schließlich stehen blieb. Und immer noch stand er mitten auf der Straße. Aber er war nun ganz plötzlich nicht mehr allein. Er wusste es. Wusste aber nicht, warum.
„Wer bist du?“, fragte er und starrte mit einem Ausdruck der Verwirrtheit auf seinem Gesicht den Fremden an.
„Ich bin ein Reisender“, gab dieser zurück. „Aber ich mache hier schon lange Rast.“
„Wieso?“
„Wozu sollte ich weiter? Es ist hier doch nichts.“
„Ich könnte dich ein Stück mitnehmen.“
„Warum? Wohin? Es gibt da doch nichts.“
Coby betrachtete den Fremden mit schiefgelegtem Kopf und nickte schwach. „Kann sein“, sagte er dann. „Aber zu zweit ist man nicht so allein.“
„Ich bin ungern allein“, stimmte der Fremde nun zu. „Nimm mich mit.“
„Wie weit willst du?“
„Ach, so weit dich deine Beine tragen.“
„Gut. Dann soll es wohl so sein.“ Coby trat näher, bückte sich und hob den kleinen rundlichen Gegenstand von der Straße auf. Es war ein Knopf. Schwarz, mit vier Löchern, viel kleiner als das Zwei-Euro-Stück in seiner Tasche. Viel leichter als das Stück Metall in seiner Tasche.
Er steckte den Knopf also ein und holte das Geld hervor.
„Auf meiner Reise kann ich nicht viel unnötige Last gebrauchen“, sagte er und legte das Geld an die Stelle, an der vorher der Knopf gelegen hatte.
„Ich weiß, es ist nicht nett von mir, dich hier allein zurück zu lassen. Aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass es wohl das Beste sein mag.“
Und so ging Coby weiter und irgendwann wurde es ihm zu langweilig und er hatte keine Lust mehr, zu gehen. Und dann nahm er den Knopf und legte ihn an den Straßenrand. Es hatte bereits begonnen zu schneien und Coby war es bitter kalt. Und so legte er den Knopf in den Schnee und sagte: „Ich weiß, ich weiß, es ist nicht nett von mir, dich jetzt hier abzulegen und allein zu lassen, aber... Was soll ich tun? Der Weg ist mir zu beschwerlich mit dir an meiner Seite.“
Und Coby ging weiter, und weiter, und weiter. Und irgendwann wollte er ins Warme, zurück in seine Geborgenheit, und hatte keine Lust mehr. Keine Lust auf diese kleinen Spielchen.
Wer war er denn auch, so etwas zu tun? Er hatte doch Besseres vor, als hier so rumzulaufen und darauf zu warten, dass endlich was geschah.
Er war wichtig, er war wichtig, und weil er wichtig war, konnte er tun, was immer er wollte.
Die Leute fragten zwar hin und wieder, warum er tat, was er tat. Aber er hatte keine Lust ihnen Antworten zu geben. Er wollte einfach nicht darauf antworten. Wie dumm würde es auch klingen, würde er sagen: „Mir war halt gerade danach.“
Was würden sie auch sagen? Dann würde ihn ja niemand mehr ernst nehmen. Eigentlich nahm ihn natürlich auch so keiner ernst. Er versuchte zwar, es sich einzureden, aber was nicht war, das war eben nicht.
Früher, ja früher war das mal anders gewesen. Aber was war schon früher? Wen interessierte denn noch die Vergangenheit? Wen interessierte, was er so Großartiges getan hatte? Da konnte man ihn doch auch viel besser für seine Fehler verantwortlich machen, als ihn für seine Künste zu loben.
Und irgendwann wollte er dann nicht mehr. Da hatte er keine Lust mehr. Warum sollte er noch nett sein, wenn’s doch eh niemanden interessierte? Kratzte ja keinen, was er tat. „D’rauf gepfiffen“, sagten sie und ließen ihn im Stich. Wie nett von ihnen. Und das, wo er doch so viel für sie getan hatte.
„D’rauf gepfiffen“, sagte schließlich auch er und hatte begonnen, ein wenig hier zu tun und ein wenig da zu tun und dann mal zu sehen, was dabei rauskam.
Gelangweilt blickte Coby gen Himmel. Am Horizont war es bereits düster geworden und die Nacht legte sich über die Stadt und ihre Umgebung. Und dann war Coby nicht mehr da.
Der Zeitungsjunge fuhr vorbei und schleuderte das Tagesblatt auf die Veranda eines Hauses. Durchnässt blieb die Zeitung im halb geschmolzenen Schneematsch liegen und die Tinte auf der obersten Seite begann zu verschwimmen.
Die Schlagzeile besagte:
Mysteriöser Todesfall eines Bankers
Darunter war nur noch ein Auszug zu lesen:
„... starb gestern unter noch ungeklärten Umständen ein reicher Banker auf einer Hauptstraße. Es gibt keine Anzeichen von äußerer Gewalt. Der Mann wurde in seinem Anzug auf dem Mittelstreifen der Straße von einem Autofahrer gefunden, der auf dem Weg zur Arbeit war [...] Scheinbar wurde der Mann nicht angefahren oder überfallen. Ungeklärt ist auch, warum er mitten auf der Straße lag [...] Das einzige, was man bei ihm fand, war ein Geldstück [...].“
Irgendwo, ein paar Seiten weiter, die nun nicht mehr zu erkennen waren, stand ein kleinerer Artikel über einen Bettler, der etwas außerhalb der Stadt am Straßenrand entdeckt wurde. Fest umklammert hatte er einen Knopf gehalten, dessen Aussehen im Artikel zwar nicht erwähnt wurde, aber die Polizei hatte sich dennoch reichlich über das scheinbar einzige Gut des Obdachlosen gewundert, das schwarz in seiner steifgefrorenen Hand geblinkt hatte.
Ein paar Tage später stand weinend eine Frau vor einem Grab und blickte auf die vielen Blumen, die man dort gelassen hatte. Ihr reicher Bankersmann lag dort begraben, in einem schweren Eichensarg, teurer als er hätte sein müssen, und der Grabstein war prunkvoll, groß und klobig, reich verziert an liebenswürdigen Kleinigkeiten, die aber so weit die Überhand nahmen, dass kaum mehr als Chaos auf dem Stein zu herrschen schien.
Schluchzend hob die Frau den Kopf zum Himmel und schrie in ihrer Verzweiflung und Trauer immer wieder das eine Wort hinaus, damit es jemand hören und ihr Antwort geben möge. „Warum?!“
Ein Zettel wurde vom Wind herüber getragen und blieb im Gesträuch der Kränze hingen, verfing sich dort und kam nicht frei. Die Frau nahm den Zettel zur Hand, es war ein Flugblatt und sie las den einen Satz, der groß und unverkennbar darauf zu lesen stand. Und sie las ihn und las ihn wieder und ließ den Zettel schließlich fallen, um mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern den kahlen Friedhof zu verlassen.
Und das Blatt wehte im Wind weiter und schien am Grab des Mannes kleben bleiben zu wollen, doch dann wurde es in die Lüfte empor getragen, weit hinauf in den Himmel, bis es im blendenden Licht der Sonne verschwand, und mit ihm der eine Satz, den die Trauernde gelesen hatte, die einzige Antwort, die sie jemals bekommen hatte:
Gott ist nicht die Antwort auf alle Fragen.