- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Zwei Glockenschläge und kein Handtuch (überarbeitet)
Als Kind habe ich oft über mich selbst in der dritten Person gesprochen. Vince geht pinkeln, Vince isst Sand. Als ich Chamberlad gegenüberstand, wäre ich am Liebsten wieder in diesen Zustand kindlicher Abgrenzung zurückgekehrt.
Seine bloße Anwesenheit genügte, mich zittern zu lassen. Ein Bulldozer in Form fleischlichen Gewebes. Zwischen uns knisterte die Luft und nur eine falsche Bewegung, ein Niesen, und die Barriere, die uns jetzt noch voneinander trennte, würde zerbrechen. Chamberlads Grinsen, das nicht nur seinen Mund bewirtete, sondern auch sein Auge, machte mich rasend. Angst und Wut führten einen erbitterten Kampf.
Als der Kampfrichter den Ring betrat und seine Arme gen Decke streckte, wurde es vollkommen still. Ich hörte nur meinen Atem durch meine durch unzählige Brüche deformierte Nase pfeifen.
Trotz meiner Angst, meinen Kontrahenten aus den Augen zu lassen, blickte ich auf das Publikum. Zu meiner Linken senkten sich Doppelkinne, Hände kreuzten sich vor der Scham. Rechts von mir knieten die Menschen auf dem gesplitterten Holzboden und als der Ringrichter seine Hände sinken ließ, gab er ihnen lautlos den Befehl, ihre Gebete zu beenden.
Mit dem ersten Glockenschlag begannen das Geschrei, die Anfeuerungen und der Kampf.
Und als Chamberlads Faust mit der Geschwindigkeit eines Güterzuges auf mein Gesicht zuraste, wollte Vince wieder fünf sein.
***
Aufhören. Ein einziges Wort, das sich in meine Gedanken wie Säure geätzt hatte und während jedes Kampfes brannte es tiefer.
Bei meinem letzten Boxkampf wurde ich mit Norman Kingstons erstem, perfekt platziertem Schlag erneut daran erinnert. Warum ich mich immer wieder dieser Tortour aussetzte, obwohl ich wusste, dass ich verlieren würde, war mir unklar.
Ich teilte Hiebe aus, doch Kingston bei weitem mehr. Sein Sieg überraschte mich nicht, überraschte niemanden. Er schüttelte mir die Hand, trug ein breites Lächeln zur Schau. Für diese herablassende Geste hasste ich ihn. Hasste ihn mehr als alle anderen Männer, die mir schlimmere Prellungen, schmerzhaftere Brüche verursacht hatten. Dieses Lächeln tat mehr weh. Mit gesenktem Kopf kämpfte ich mich durch das Publikum. Ellbogen stießen gegen meine geprellten Rippen. Ich stieß zurück.
Das Taxi setzte mich vor dem Stadtpark ab, eine Straße von meiner Wohnung entfernt. Noch waren die Nächte warm, noch tummelten sich Menschen in den Alleen, Paare im Gebüsch. Hin und wieder konnte man zwischen Zweigen nackte Haut aufblitzen sehen, ein Käuzchen zusammen mit einem Mädchen schreien hören.
Ich setzte mich auf eine Bank und starrte in den Himmel. Die Sterne funkelten kitschig, kein bisschen romantisch in dieser Nacht.
»Furchtbar, nicht wahr?« Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Neben mir hatte ein Mann Platz genommen, Kinn und Hals von einem Schal verdeckt, der für diese Jahreszeit unerträglich warm sein musste. »Weshalb alle Gedichte von Sternen handeln? Furchtbar ist gar kein Ausdruck.«
Ich sagte nichts.
»Sie sind Boxer?«, fragte er, die Wangen in das Orange einer glühenden Zigarette getaucht, die er locker im Mundwinkel balancierte. Er war groß, sein Hals dick und seine Stimme war etwas brechend, er wirkte jung.
»Ja.« Ich versuchte sein Gesicht auszumachen, doch das bisschen Licht verwischte seine Züge noch mehr als die Dunkelheit. »Warum?« Sein Interesse war mit Sicherheit geheuchelt. Ich wollte allein sein, einfach in den leeren Himmel starren.
»Boxen ist eine gute Sportart. Stark, machtvoll. Männlich, hm?«
»Was wollen Sie?«
»Kingston hat Ihnen ne Abreibung verpasst. Ein harter Kerl, allerdings kein bisschen Grips.« Der Mann spielte mit seinem Regenschirm genauso wie mit meinen Nerven. »Haben Sie Grips?«, fragte er mich ohne herüberzusehen.
»Was soll ich darauf sagen?«
»Nun, das beantwortet sich mit meiner nächsten Frage.« Er drehte sich um. Sein Oberkörper war breit und er überragte mich im Sitzen fast um einen Kopf. Zwischen und unter seinen Augen trug er jedoch Falten, die sein wahres Alter mehr als nur andeuteten. »Ich bin Dick Harrison, Ahern«, sagte er und streckte seine Hand aus. Aus Reflex ergriff ich sie. Harrison trug Handschuhe, das Leder schmiegte sich an meine Haut wie ein Schoßtier.
»Sie sind nicht verheiratet«, fuhr er fort.
»Nein.«
»Das war keine Frage. Ich weiß, dass Sie es nicht sind. Ebenso weiß ich, dass Sie Geld brauchen, Ahern, viel Geld. Aber auch das ist nichts besonderes, das braucht jeder.« Er beugte sich zu mir, in seinen Augen spiegelten sich die Sterne, die er so verabscheute. »Sie brauchen viel mehr, um Ihr Leben in Ordnung zu bringen.«
Mit jedem Wort wurde er mir unsympathischer.
»Was wollen Sie?« Meine schlechte Laune war echter Wut gewichen, die ich jedoch nach Jahre langem Boxen unter Kontrolle zu halten wusste.
»Das was jeder will: Geld. Vielleicht ein wenig Macht.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
Er beugte sich noch weiter vor. »Ich suche jemanden, der für mich Faustkämpfe austrägt.«
Ein einziger, einem Lachen nur entfernt ähnlicher Ausstoß kam über meine Lippen. »Faustkämpfe? Sie spinnen wohl.« Erst jetzt war mir klar, mit wem ich es zu tun hatte: Mit einem Verrückten.
»Kommen Sie!«, rief Harrison als ich aufstand, um den Park zu verlassen. »Als hätten Sie darüber nicht bereits einmal nachgedacht!«
Ich wurde am nächsten Morgen von Sonnenstrahlen, die Schweißperlen auf meine Stirn gezaubert hatten, aus einem todesähnlichen Schlaf geweckt. Meine Fäuste schmerzten, mein Kopf noch mehr und alles, woran ich dachte, war, dass ich meine Seele für ein Glas Whiskey verkauft hätte. Ich stand auf und ging in die Küche, öffnete alle Schränke, durchsuchte sie und fand schließlich das, was ich brauchte: Ich trank Jack Daniels aus der Flasche.
Als meine Lippen sich von ihr trennten, starrte ich leer auf den Boden. Erst nach einer Minute bemerkte ich, dass meine Augen längst nicht mehr leer starrten. Ich bückte mich und hob einen Zettel auf.
Ich zuckte zusammen, durchsuchte die Küche mit meinen Augen. Jetzt nahm ich alles wahr: Die heruntergerissene Tapete, die umgeworfenen Stühle, die zerfetzten Fotos.
Mit wenigen Schritten durchsuchte ich die Wohnung, war wahnsinnig in meiner Raserei, schlug Schranktüren auf und zu, riss den Duschvorhang von der Stange.
Suchte nach Eindringlingen.
Nach einer einstündigen Besessenheit und mehreren Schlücken Jim Beam, beruhigte ich mich. Ich duschte mich ohne Vorhang, versuchte etwas zu essen, gab es jedoch gleich wieder auf.
Ich konnte nur an diese Notiz denken: Es war kein Vorschlag. Die letzten Monate waren nicht gut gelaufen. Boxfans hatten mich verfolgt und beschimpft, mir gedroht, damit ich meine Kariere an den Nagel hängen würde.
Hin und wieder ging ich am Fenster vorbei, um einen unauffälligen Blick hinaus zu werfen. Es mochte nur aus meiner Einbildung entstehen, doch zwischen den geschäftigen Leuten sah ich einen großen Mann, der sich so wenig wie ein Felsen vom Platz bewegte. Und in meine Richtung starrte.
Als meine Paranoia mich fast in den Wahnsinn trieb, entschied ich, die Polizei zu rufen. Nur, damit ich sicher sein konnte, dass es tatsächlich nur Wahnsinn war.
Genau in jenem Moment klingelte das Telefon. Ich schreckte zusammen, nahm dann jedoch den Hörer ab.
»Hallo?«
»Ahern?«
»Harrison?«
»Ja, natürlich.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich ihn.
»Wie gesagt: Kämpfen Sie für mich. Ein einziger Faustkampf, das wäre alles.«
»Verfluchte Scheiße«, sagte ich, warf wieder einen Blick aus dem Fenster, ohne jedoch etwas erkennen zu können. »Das ist illegal.«
»Es ist viel Geld. Ich weiß, dass Sie es brauchen.«
»Wie lange beobachten Sie mich bereits?«
»Nicht besonders lange.« Seine Stimme klang fröhlich, als würde er dabei lächeln.
»Waren Sie heute in meiner Wohnung?«
»Nein.«
»Sie verdammtes Arschloch! Ich weiß, dass Sie es waren!« Er ignorierte meine Wut.
»Ganz ruhig.«
»Ich werde Ihnen gleich zeigen, wie ruhig ich bin!«
»Ich hoffe doch, sehr ruhig.« Er seufzte. »Einer meiner Männer steht draußen vor der Wohnung, Ahern. Er kann zwischen zwei Wegen wählen. Entweder er besucht Sie oder Ihre Exfrau. Das hängt von Ihrer Kooperationsbereitschaft ab.«
Ich sah aus dem Fenster, doch ich konnte den großen Mann nirgends erkennen.
»Er steht vorm Eingang, Ahern. Es ist unmöglich, ihn von Ihrer Küche aus zu sehen.«
»Sie können mir nicht einfach so drohen!«, schrie ich und spürte, wie sich meine Finger wie Schraubstöcke um den Hörer spannten.
»Ich drohe Ihnen nicht. Es ist bloß ...«
»Was?«
»Er wartet schon lange. Und manchmal habe ich ihn nicht unter Kontrolle.«
Ich wagte nicht aufzulegen.
»Warum ich?«
»Warum nicht?«, fragte Harrison.
»Antworten Sie mir. Dann werde ich es mir überlegen.«
»Sie verstehen es noch immer nicht. Es ist keine Frage von Wollen oder Nichtwollen. Letzten Endes werden Sie klein bei geben.«
»Ich will es wissen.« Meine Neugierde war größer als die Angst vor dem Schläger.
Ich hörte Harrison erneut seufzen. »Ich vertraue Ihnen.«
»Wieso? Ich ... ich bin nicht besonders gut. Ich bin zu alt und selbst mit Handschuhen schaffe ich es meistens nur in die fünfte Runde.«
»Glauben Sie mir, diese beiden Kämpfe haben nichts gemeinsam.«
Ich wollte auflegen, doch bevor der Hörer auf die Gabel traf, glaubte ich noch einmal Harrisons Stimme hören zu können.
»Und Sie haben niemanden.«
Ich würde es gern behaupten, aber es blieb nicht bei einem einzigen Kampf. Ich verursachte Prellungen, zersplitterte Knochen. Doch keiner meiner Gegner verließ den Ring ohne mir mit einem Handschlag zum Sieg zu gratulieren. Selbst, wenn sie sich nur noch mit fremder Hilfe auf den Beinen halten konnten.
Harrison war bei jedem der Kämpfe anwesend, setzte viel Geld und gewann noch mehr. Und er setzte es auf mich.
Der Mann, der von Harrison geschickt worden war mich abzuholen, bestand in Wirklichkeit aus zwei Männern, Zwillingen, beide einen Kopf größer als ich und so grobschlächtig wie Gorillas. Was ihnen auch diesen Spitznamen einbrachte.
Ich stieg oft in den Ring in diesen Wochen, doch war mir das Geld nicht genug.
Und etwas anderes genauso wenig.
»Wer hat dir davon erzählt?«, fragte mich Harrison
»Ist nicht weiter wichtig.« Der Junge, dessen Nase ich gestern gebrochen hatte, hatte seine Mutter, einer Drecksnutte, wie er sagte, und den Heatup erwähnt. Alles in einem Satz.
»Wenn du wirklich mehr Geld brauchst, Ahern«, er pausierte kurz, »es gibt sie tatsächlich. Aber sie spielen sich unter der Oberfläche ab.«
»Noch tiefer als diese?«, fragte ich und lächelte schief. Mein Kiefer schmerzte und einer meiner Schneidezähne hatte sich gestern von mir verabschiedet.
»Es ist nicht ganz legal.« Er hob eine Hand. »Ja, noch weniger legal als diese.«
»Ich brauche das Geld.«
»Wofür? Du bist ein geschiedener Mann, du hast nur dich selbst.«
Das saß.
»Es sind harte Kämpfe, Ahern.«
»Das sind sie immer.« Ich spielte mit dem Gedanken, Harrison für seine Unnachgiebigkeit zu schlagen. Ich schämte mich dafür.
»Selbst bei den Faustkämpfen gibt es Regeln, Ahern. Der Ringrichter schlägt die Glocke, bevor es ausartet. Keine Schläge in der Leistengegend.«
Harrison atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Hör zu. Ich weiß, weshalb du mehr möchtest, Ahern. Ich mach dir einen Vorschlag: Ich suche dir härtere Gegner. Männer, größer und schwerer als du.«
»Gegen solche habe ich bereits gekämpft.«
Einer der Gorillas fing an, Harrisons Schulter zu massieren.
»Es gibt zwei Glockenschläge und kein Handtuch, Ahern.« Er fegte die Hand von sich. »Die Kämpfer bestimmen Anfang und Ende.«
»Wie lange?«, fragte ich.
»Zehn Minuten. Höchstens.« Er sah in meine Augen. »Doch das passiert nur selten.«
Seine Worte ließen nur geringe Zweifel in mir entstehen.
Anfangs hatte ich dem Namen Heatup keine Bedeutung beigemessen. Doch als ich Harrison über die lange Treppe folgte, durch eine Tür, unter die selbst ich mich hindurch bücken musste, wurde mir der Name klar.
Augenblicklich bedeckte eine Patina aus Schweiß meinen Körper und trotzdem hatte ich das Gefühl, meinen Atem in frostigen Nebelschwaden auszustoßen. Flammen, schwimmend in Ölbecken, leckten an den Wänden und der Decke. Das Öl, das in schmalen Rinnsalen von den Behältern lief, brannte.
Zwei weitere Türen führten aus dem Kampfraum hinaus. Vor einer stand jemand, bewegte sich nur in einem Spiel aus Licht und Schatten, verursacht durch das schwache Glimmen einer Zigarette. In der Mitte des Raumes war der Ring aufgebaut. Größer als das Standardyard. Um einiges größer.
Als Harrison eine Hand hob, versiegte das Flimmern im Gesicht des Menschen; er ließ eine Zigarette fallen und trat nun in den Lichtpegel der Ölflammen.
Der Mann war der Ringrichter, das war offensichtlich. Jegliches Minenspiel war entweder nicht vorhanden oder konnte nicht gedeutet werden. Bedeckt mit einer schwarz-weißen Tätowierung wirkte er wie ein organisches Schachbrett.
»Ihr seid früh dran«, sagte er, während er seine Fingerknöchel knacken ließ. »Noch keiner da.« Selbst seine Zähne waren schwarzweiß bemalt, sahen aus wie Klaviertasten.
»Einführung«, sagte Harrison.
»Dann lasst ihn duschen.« Damit verabschiedete er sich und ging zurück ins Halbfinster.
Ich folgte Harrison zur anderen Tür und ließ den Ring für kurze Zeit hinter mir.
»Zieh dich aus«, forderte er mich auf.
Die wichtigsten Regeln hatte er mir bereits am Vorabend mitgeteilt. Nummer eins: Stell keine Fragen. Nummer zwei: Egal, wie merkwürdig es dir erscheint, stell keine Fragen. Deshalb zog ich mich, verwundert aber stillschweigend, aus. Einer der Gorillas ging zu der Dusche und stellte sie an. Das Wasser musste heiß sein, ein Teil davon verdampfte bereits, bevor es im Abfluss versickerte.
»Geh schon.« Harrison sah nicht mich, sondern die geschlossene Tür hinter mir an. Als ich mich nicht bewegte, jedoch auch nichts sagte, fuhr er fort. »Draußen ist es verdammt heiß, gewöhn deinen Körper lieber gleich daran.«
Mit diesen Worten trat ich unter den Strahl und als das beinah siedende Wasser meine Haut berührte, schrie ich. Jeder einzelne Tropfen bohrte sich wie ein Reisnagel in meine Haut, und selbst als das Wasser nach schier unendlich langer Zeit abgestellt wurde, verharrten diese Nägel. Manchmal glaube ich, sie selbst heute noch spüren zu können. Mittlerweile sind sie rostig.
»Es wird wahrscheinlich, nun ja, hart werden, Ahern«, sagte Harrison, während ich mit einer Turnhose meine Scham bedeckte und versuchte, meinen Orientierungssinn wieder zu gewinnen.
»Manche verlassen den Ring nicht mehr auf eigenen Beinen. Können es nicht.« Abwesend stierte er auf die Tür und ignorierte meinen Versuch, Blickkontakt herzustellen.
»Das hast du mir bereits erzählt«, sagte ich.
»Es kann dich auch erwischen. Heute noch nicht. Der erste Kontrahent ist der Honig, mit dem sie den Bären in die Falle locken.«
»Wie heißt er?«
»Wer?«
»Mein Gegner.«
»Machen Namen einen Unterschied? Fühlt es sich besser an, wenn man den Namen desjenigen kennt, dessen Nase man zermalmt?«
Ich überlegte. Noch immer wich Harrison meinen Blicken aus. Seine Stimme hob sich. »Ist es dann gerechtfertigt? Kannst du mit einem Namen den Charakter eines Menschen deuten, ihn somit in eine Schublade stecken?«
»Hey, was ist los mit dir?« Für einen kurzen Augenblick dachte ich, Harrison würde auf mich losgehen. Kleine Hitzeflecken hatten sich auf seinen Wangen gebildet und in den Manteltaschen ballten sich seine Hände zu Fäusten.
Er atmete ein paar Mal tief durch, massierte sich dann stöhnend die Hüfte.
»Nichts. Erinnerungen lassen mich manchmal wütend werden.« Harrison drehte sich um und stand nun vor einer nackten Wand. »Und hier weckt alles Erinnerungen«, sagte er und beendete somit das Gespräch.
Als ich eine Stunde später nach draußen trat, war ich vollkommen ruhig. Diese Gelassenheit schwand mit dem ersten Blick auf das Publikum.
Ungefähr zwanzig fettleibige Männer und Frauen saßen mit gesenktem Kopf zur rechten Seite des Rings, ihre Arme über dem Wanst gefaltet. Das Ölfeuer tauchte den Raum in grelles Licht und ich konnte sehen, wie sich an einigen Stellen der nackten Leiber verbrannte Haut abschälte. Doppelkinne und Hängebacken zauberten einen gequälten Ausdruck auf ihre Gesichter. Und sie hatten alle nur ein einziges Auge. Die Farben variierten, bildeten einen grauenvollen Regenbogen.
Zuerst wollte ich verschwinden. Ein Faustkampf in einer Halle voller Einäugigen war mehr, als ich an einem Abend vertragen konnte. Harrison hatte mich darauf vorbereitet, mich gewarnt vor Dingen, die meine Weltanschauung in ihren Grundfesten erschüttern würden. Aber das hier war schlimmer als alles, was ich mir auch nur hätte erträumen können.
Oft hatte ich mich gefragt, wie schnell ein Mensch mit einer für ihn undenkbaren Situation fertig werden konnte. Ob er beim Anblick des Unmöglichen tatsächlich den Verstand verlieren würde.
Ich kann nur für mich selbst sprechen: Nein, den Verstand verlor ich nicht und ich bekam die Situation schnell unter Kontrolle. Weil mir keine andere Wahl blieb.
Die Knie zitterten mir, meine Zähne klapperten. Es war nicht Angst, sondern die Verschiebung der Grenzen der mir bekannten Realität, die mich für kurze Zeit in ein jammerndes Baby verwandelte.
Die Gorillas zeigten kein Erbarmen und trugen mich, die Finger in meine Oberarme und -schenkel gekrallt, zum Ring. Wie einen Wäschesack warfen sie mich auf das Holz, welches sich durch die Hitze bereits wie unter Schmerzen nach oben gebäumt hatte.
Ich blieb liegen und schloss die Augen, um diese Wesen aus Vince Welt zu verbannen. Wie damals, als Jason Tanner Vince nach dem Unterricht verprügelt hatte. Vince hatte die Demütigung ertragen und nur mit diesem Ausschluss der Welt reagiert. Tanner hatte Vince das Schlüsselbein gebrochen und, als hätte das nicht genügt, die Hoden gequetscht.
Diese schmerzhafte Erinnerung ließ mich aufstehen.
Um nicht die Einäugigen ansehen zu müssen, suchte ich nach Harrison. Er stand unter der Tür, wich noch immer meinen Blicken aus.
Er spuckte auf den Boden.
Ich hatte fest damit gerechnet, gegen einen von ihnen kämpfen zu müssen, gegen ein Monster. Stattdessen stieg jedoch ein Junge in den Ring, er konnte höchstens zwanzig sein. Und er hatte zwei Augen..
Das erste Klingeln löste einen konditionierten Reflex in mir aus. Ich versuchte den Fausthieben auszuweichen. Die Knöchel des Jungen trafen mich an den Schultern und im Magen. Doch das Kämpfen ohne Handschuhe hatte mich abgehärtet und nachdem seine Faust einmal hart auf meine Wange traf, schlug ich ihn zu Boden.
Ein Grölen untermalte meine Hiebe. Mein anfängliches Entsetzen war Euphorie gewichen und selbst als mein Kontrahent wimmernd um Gnade flehte, konnte ich nicht aufhören, motorisch auf ihn einzuschlagen. Das zweite Klingeln unterbrach meine Raserei.
Die Menschen riefen meinen Namen, die Nackten schwiegen, starrten mich lüstern an. Der Ringrichter kam zu mir und half mir über die Seile hinweg. Er führte mich in das Zimmer, in dem Harrison bereits auf mich wartete. Ich hatte ein triumphierendes Lächeln auf seinen Lippen erwartet, doch stattdessen hieß mich eine tiefe Abscheu in seinen Augen willkommen.
Früher hatte ich einen Ring für das Schlachtfeld der Träume gehalten. Doch im Gegensatz zum Heatup wirkte ein normaler Boxkampf wie eine Sommerwiese.
Das Wort »Aufhören« war aus meinen Gedanken getilgt worden. Alles, was geblieben war, war ein Klumpen brodelnder Abfall, der bereit war, etwas Neues aus sich formen zu lassen. Und nach dem ersten Kampf war dieses Etwas »Freiheit«.
Nicht nur aufgrund der Regeln und des Publikums hob sich der Heatup von einem normalen Ring ab.
Nach wenigen Kämpfen wurde ich süchtig. Der Bär war in die Falle gegangen.
Mit jedem Kampf stärkere Gegner. Mit jedem Schlag pralleres Selbstbewusstsein. Mit jedem Sieg zerstörerischere Übermut als zuvor. Und vor jedem Kampf eine Dusche, deren Hitze Schwindelgefühle der Arroganz erzeugte. Ich wusste nicht, von wem das Geld kam, das nach jedem Besuch im Heatup meine Taschen füllte. Es interessierte mich nicht.
Ich wusste nicht, wohin die Verlierer gingen. Es interessierte mich nicht.
Ich wusste nicht, wer oder was diese Monster waren, was sie hier taten, wohin sie gingen. Und es war Vince egal.
Nach ungefähr einer halben Stunde erklärte Harrison die Situation im Ring für ungefährlich, indem er die Tür öffnete und auf die Treppe zuging.
»Ich fühl mich klasse«, sagte ein junger Mann, der heute als Erster dran gewesen war. »Noch nie in meinem ganzen Leben hab ich mich so gut gefühlt.« Sein Gesicht war geschwollen, sein Oberkörper ebenso blau wie blutig, doch das Lächeln in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. Und dieses Lächeln kam mir bekannt vor.
»Mann, so viel Spaß hatte ich noch nie beim Geldverdienen.«
Draußen hörte ich die Geräusche des Rituals, das nach den Kämpfen stattfand, sich jedoch immer meinem Blick entzog. Trampelnde Füße und Gekicher, das zusammen mit dem Summen der Einäugigen eine seltsame Disharmonie bildete.
Harrison kümmerte sich um den Jungen, klebte Pflaster auf Platzwunden, wusch Blut von Kinn und Nase.
»Was geschieht eigentlich da draußen?«, fragte ich zum ersten Mal.
Harrison drehte sich langsam um und starrte mich an. »Du nimmst mich auf den Arm.«
»Was?«
»Es kann doch nicht dein Ernst sein, dass du nicht weißt, was sich da draußen abspielt.«
Anscheinend hielt er jede weitere Erklärung für überflüssig. Er widmete sich wieder dem Jungen, dessen rechtes Auge von einem Veilchen gefärbt wurde.
»Harrison.«
Wieder eine Zeitlupendrehung. »Erinnerst du dich an Harry?«, fragte er.
»Nein.«
»Dein erster Gegner im Heatup.« Es klang beinah verächtlich.
»Du hast mir nie Namen genannt. Ich habe dich darum gebeten«, verteidigte ich mich. »Was ist mit ihm?«
»Du hast ihn getötet. Meine Güte, Ahern, kennst du nicht den Unterschied zwischen normalen Boxkämpfen und dem Heatup?«, schrie er. »Der ganze Ring war voller Blut! Niemand könnte so etwas überleben!«
Harrisons Atmung wurde flacher und einer der Gorillas kam zu ihm, um ihn zu stützen. Doch er schlug die großen Hände beiseite.
»Und selbst wenn er es getan hätte, du hast am Boden das letzte Leben aus ihm herausgeprügelt.«
Ich konnte nicht antworten.
Harrisons Worte waren ein Schock. Niemals hätte ich geglaubt, einen Menschen töten zu können. Doch das war es nicht, was mich bestürzte.
Ich spürte keine Schuld. Wenn ich für meine Freiheit Leben opfern musste, weshalb nicht? Würden sie nicht das gleiche tun? Hätte ich meinen Gegnern eine Chance gegeben, mein Genick zu brechen, jeder einzelne hätte sie ergriffen. Im Heatup ging es ums Überleben, und ich fühlte mich wohl dabei.
Genau das war es, was mich schockierte.
Als wir aus der Dunkelheit auf die von Reklamen hell erleuchtete Straße traten, trennte sich Harrison von mir. Er strafte mich mit Ignoranz.
Es dauerte Wochen bevor ich wieder kämpfte. Gerade standen zwei junge Männer im Ring, beide mit erst wenig Flaum über den Lippen.
Bei dem Gedanken, dass einer von beiden die Nacht nicht mehr überleben würde, wurde mir übel.
»Nimms dir nicht zu Herzen«, sagte der Junge, der plötzlich neben mir stand. Sein Gesicht war inzwischen abgeschwollen, doch dieses mir bekannte Grinsen war dasselbe. »Ich helfe dir wohl nicht, wenn ich sage, dass sich Menschen seit Anbeginn der Zeit eigentlich immer nur umbringen. Und wir haben mit Sicherheit triftigere Gründe als die.«
Ich musste lächeln.
»Der Stärkere überlebt. Wenn es dir dann besser geht, red dir einfach ein, du würdest hiermit gut machen, was unsere Vorfahren verbrochen haben.« Er räusperte sich. »Ach ja«, sagte er, »ich bin Norman.«
Da wusste ich, wer er war.
Norman Kingstons bereits mehrmals gebrochene Nase war nur noch Brei und seine Tiefenwahrnehmung musste schlecht sein; er wich keinem meiner Schläge mehr aus.
Ohne Hilfe konnte er nicht stehen, ich hielt ihn mit einer Hand am Nacken, um ungehindert auf ihn einschlagen zu können.
Ich wollte es mir nicht eingestehen, doch dieses Mal würde Kingston es nicht überleben, und ich würde sein Mörder sein. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht mehr aufhören können, es war so gut wie vorbei. Ein lautes Knacken bestätigte meine Befürchtung.
Ich ließ ihn fallen und er schlug mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf. Blut bildete einen Reif um seinen Schädel und die Glocke ertönte. Ich hoffte, dass Entsetzen der einzige Ausdruck in meinem Gesicht war.
Wäre es nicht Kingston, der dort leblos auf dem Holz lag, wäre ich zurück in das kleine Zimmer gegangen und hätte gewartet, bis Harrison die Entwarnung gegeben hätte. Hätte ich den Mann vor mir nicht namentlich gekannt, ihn nicht für seinen Sieg bei meinem letzten legalen Kampf gehasst, mir damals nicht seinen Tod gewünscht, wäre ich kein Mörder gewesen. Zumindest nicht in meinen Augen.
Zweimal hörte ich Harrison meinen Namen rufen und beide Male ignorierte ich es. Einer der Boxer zog mich aus dem Ring. Ich stolperte, fing an, mich zu wehren, um mich zu schlagen, bis er mich los ließ.
Wie in die Enge getriebene Hühner stoben die Menschen aus dem Saal, gefolgt von ihrem unerträglichen Gegacker. Und dann wurde ich Zeuge des Rituals, welches ich nur vom Hören her kannte.
Der Ringrichter stand unter der Tür und beobachtete das Schauspiel mit demselben gleichgültigen Gesichtsausdruck, wie zuvor den Faustkampf.
Kingstons Leichnam wurde von den Brettern gezerrt und hinterließ eine rote Spur seines Blutes. Ungefähr zwanzig Einäugige stürmten auf die Leiche wie Autogrammjäger zu. Ihre Körpermassen mussten eine ungeheure Last für sie sein, doch man konnte ihnen keine Behinderung anmerken.
Zuerst glaubte ich, eines der männlichen Wesen würde Kingston küssen, doch als er seinen Kopf wieder hob, hing Kingstons Unterlippe wie ein Regenwurm aus seinem Mund.
Ich bereute es, nicht auf Harrisons Rufe gehört zu haben und war froh, als die Fettmassen mir den Blick auf Kingston verdeckten.
Plötzlich hörte ich ein gutturales Glucksen neben mir und als ich mich umdrehte, stand eine Einäugige nur noch wenige Meter von mir entfernt. Ihre mächtigen Brüste bedeckten fast den kompletten Bauch. Ihr Lachen löste mich aus meiner Starre und ich sprintete auf die Tür zu.
Beinah zu spät fiel mir ein, dass Harrison das Zimmer immer abschloss und anstatt in die Rettung zu laufen, würde ich mich den Monstern direkt ausliefern. Ich lief zur Treppe und streifte dabei die Nackte, was mir eine Gänsehaut bescherte.
Ich konnte es nicht glauben, als ich mich an die geschlossene Tür lehnte, während die Hitze durch das Holz in meinen Rücken drang und die Kälte des Treppenhauses mein Gesicht kitzelte.
Zwei geschlagene Wochen schaffte ich es erneut, dem Heatup fern zu bleiben. Doch meine Träume von Freiheit zogen mich zurück.
»Vergiss nicht, du hast deine Gegner getötet. Nicht ich«, sagte Harrison, als sich meine Finger in sein Hemd krallten. »Ich habe dich gewarnt.«
»Hättest du mir von Tod und Kannibalismus erzählt, wäre ich nie hierher gekommen!«
»Nekrophagie. Sie essen alle nur bestimmte Körperteile. Das weibliche Ding mit dem purpurnen Auge verzehrt ausschließlich Geschlechtsorgane.«
»Leck mich doch mit deinen dämlichen Belehrungen! Am Liebsten würde ich dich sehen, wie du in den Ring steigst und sie dein Gesicht neu anordnen!«
Die Gorillas zerrten mich von Harrison fort.
»Glaubst du wirklich, das war ich noch nie?« Jetzt war es Harrison, der schrie. »Ich habe öfter gekämpft als du, ich habe mehr Menschen getötet! Glaub nicht, ich weiß nichts von der Sucht! Meine Hüfte besteht nur noch aus Stahl. Jeden Tag sitzt der Schmerz in meinem Körper, seit ich hier und nicht mehr in der Lage bin zu kämpfen.«
Wieder vollkommen ruhig strich er sein Hemd glatt. »Ich habe dich gewarnt, erinnerst du dich?«
Ich nickte. Die Gorillas ließen mich los.
»Ich habe dir besorgt, was du wolltest. Geh jetzt raus und hol dir deine Belohnung, Boxer.«
***
Die Haut meines Gesichtes platzte wie der Gummi eines Luftballons. Ich spürte, wie mein Kiefer brach und einige meiner Zähne lose in dem Meer aus Blut schwammen, das sich in meinem Mund gebildet hatte. Man hätte meinen Schädel als Rassel benutzen können.
Es dauerte bereits über zehn Minuten. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten, während Chamberlad noch immer äußerst standhaft wirkte.
Tiefdunkle Hämatome zogen sich über seinen Schädel. Er grinste und sein Gesicht verzog sich dabei zu einer vertrockneten Pflaume. Wie gerne hätte ich sie zerquetscht.
Doch bevor ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, traf mich seine Faust und für einige Momente war alles, was ich sah und woran ich dachte, Schwärze.
Nachdem ich wieder etwas erkennen konnte, beobachtete ich durch einen Vorhang aus meinem eigenen Blut Harrison, wie er gleichgültig mein Ende mit ansah.
Wie ein Stier stand Chamberlad mitten im Ring und trampelte mit einem Fuß ein kopfgroßes Loch in den Boden. Rauch stieg daraus auf und der Geruch von Schwefel ließ meine Augen tränen. Ich wünschte mir, es würde bald vorbei sein. Selbst wenn das meinen Tod bedeutet hätte.
Ich wich aus, als er auf mich zu rannte und wäre dabei beinah in das Loch gefallen. Breitbeinig stand ich darüber, spürte die Hitze, wie sie meine Hoden kokeln ließ. Vorsichtig trat ich zurück, ließ Chamberlad jedoch nicht eine Sekunde aus den Augen. Jeden Moment musste sein Angriff kommen.
Wie auf Befehl stürzte sich der Einäugige auf mich, doch bevor er mir seinen Ellbogen in die Rippen rammen konnte, konterte ich mit einem Kinnhaken und traf ihn am Wangenknochen. Meine Faust versank in dem schwammigen, zersetzten Fleisch. Zwischen meinen Fingern quetschte sich eine lebendige Masse hindurch, die wie Maden meine Haut kitzelte.
Ich spürte, wie seine Hitze meine Haut versengte und als ich sie zurückziehen wollte, wurde sie kurz von Chamberlads Gesicht aufgehalten. Sie steckte in seiner Wange.
Mit einem saugenden Laut löste sie sich und ich konnte verbrannte Haut erkennen; teilweise die meines Gegners, teilweise meine eigene.
Das Lächeln in Chamberlads Gesicht verbreiterte sich um eine Wange, jetzt grinste er mit Dreiviertel seines Gebisses. Schwarzer Rauch drang vom Fleisch auf und sein Auge änderte die Farbe, wurde dunkler.
Dieser höhnische Farbwechsel ließ etwas in mir zerspringen. Ich warf mich gegen den schwammigen Körper und lag auf ihm auf den Boden. Mit beiden Fäusten schlug ich auf Chamberlad ein, der einen seltsamen kreischenden Klagelaut von sich gab. Der Schrei schallte aus seinem Auge.
Ich dachte, dass das Schmerzgeschrei durch meine Fäuste hervorgerufen wurde, doch Chamberlads Schädel hing in dem Loch im Boden und sein Hinterkopf brannte.
Erst als ein zischender Laut ertönte, Chamberlads Auge wie ein geplatzter Reifen in sich zusammen schrumpfte und die Glocke ein letztes Mal schrillte, beendete ich meine Schläge und stand auf. Doch das Klingeln konnte die Raserei in mir dieses Mal nicht stoppen.
Ich wollte zu Harrison, ehe er in dem Zimmer verschwinden konnte. Mit einem Satz sprang ich über die roten Seile und sprintete auf ihn zu. Meine Fäuste trafen sein Gesicht, bevor ich daran dachte. Knie landeten in seinem Unterleib.
Ich hörte mich sprechen, »du hast alle auf dem Gewissen«, doch nur am Rande. »und du hast mein Leben zerstört!«
Harrison wehrte sich nicht, ließ die Schläge und Beschimpfungen einfach über sich ergehen. Es war kein bisschen befriedigend. Einer der Gorillas versuchte mich von ihm wegzuzerren, doch als mein Fingernagel sich in die Haut unter seinem Auge bohrte, ließ er von mir ab.
Ich schleifte Harrison zu den Einäugigen, die Menschen strömten bereits aus dem Saal. Sein Körper fiel zu Boden, doch er war nicht ohnmächtig.
Es dauerte nicht lange, bis die Fetten von Chamberlad abließen und gierig Blut von Harrisons Gesicht leckten.
»Es war kein Vorschlag«, las ich von seinen schäumenden Lippen. Seine Stimme konnte ich nicht hören, denn die Einäugigen übertönten jedes andere Geräusch.
Ich wusste, wenn ich noch länger blieb, würde auch ich Opfer des Rituals werden. Ein weibliches Monster, dessen Stirn von einem purpurnen Auge gespalten wurde, starrte mich an und ich erinnerte mich an Harrisons Worte.
Ich wollte auf den Ausgang zulaufen, doch ich stürzte in meiner Euphorie und eines der Monster zerrte an meinem linken Bein. Zähne rissen Fleischstückchen heraus, die sofort in gierige Gaumen fielen. Ein zweiter Fetter kam hinzu und nagte an meinem Fuß; die Schmerzen raubten mir fast den Verstand. Mit voller Kraft trat ich in eines der Augen, dann in das nächste. Als ich mich aufrappelte wäre ich beinah erneut auf den Boden geknallt, das glitschige Gelee ihrer Augäpfel klebte an meinen Sohlen. Finger streiften meinen Rücken, Zungen leckten nach meinem Blut. Doch das Vibrieren in der Luft trieb mich an und ich stolperte auf die Tür zu.
Zwischen den letzten Nachzüglern der Menschen humpelte ich hindurch, die Treppe hinauf und nach Draußen, in die Kälte des Sommers.
Nein, es war kein Vorschlag gewesen. Sondern eine Befreiung. Zumindest eine Zeit lang.
***
Ein Klopfen riss Vince aus seinen Erinnerungen. Alles war jetzt bereits vier Monate her. Sechzehn Wochen voller Angst vor die Tür zu gehen, voller Paranoia, ausgelöst durch jeden Mann, der den Gorillas auch nur im Entferntesten ähnlich sah.
Der Heizkörper machte sein glucksendes Geräusch. Vince hatte gehofft, es irgendwann zu überhören, doch stattdessen wurde es immer lauter.
»Lecken Sie mich!«, schrie er. Der Besucher ließ sich nicht vertreiben. Das Klopfen wiederholte sich.
Zittern stand Vince auf und ging auf die Tür zu. Die Prothese polterte auf dem Boden. Die Ärzte hatten sein Bein amputiert, die Vergiftung hätte sich sonst weiter ausgebreitet.
Er sah durch den Spion und war nicht überrascht, die beiden Gorillas davor erkennen zu können. Ihm war bewusst, dass ein Holzbrett sie nicht aufhalten konnte und er öffnete ihnen.
Beinah feierlich betraten sie den Raum, schlossen die Tür wieder hinter sich.
»Los, tötet mich«, bot Vince ihnen an und hob auffordernd die Arme. »Ich warte seit vier Monaten darauf.«
Er hatte niemals Sinn für Dramatik besessen, doch in den letzten Wochen hatte er seine Persönlichkeit Stück für Stück verloren und würde sie womöglich nie mehr wieder finden.
»Du hast Harrison getötet, Ahern«, sagte der linke. Unter seinem rechten Auge befand sich eine rosa Narbe.
»Wir brauchen dich. Harrison brachte die Kämpfer, gute Kämpfer, und jetzt haben wir niemanden mehr.«
Vince wusste, was sie von ihm verlangten.
»Ich will nicht.«
»Ich fürchte, Ahern«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, »du hast keine andere Wahl.«
Nach vier Monaten der Abstinenz betrat Vince wieder den Heatup. Die Hitze war im Gegensatz zu seinem ersten Besuch nur noch ein angenehmes Kitzeln.
ENDE
© Tamira Samir