Zwiegespräch
Zwiegespräch
Was mache ich hier eigentlich? Weshalb stehe ich hier vor einem ausgehobenen Loch, ausgeschlagen mit einer leuchtend grünen Grasmatte?
Es erscheint mir alles so unwirklich. Warum musste das alles geschehen? Warum konnte das Leben nicht so weitergehen wie die ganzen Tage, Wochen und Jahre zuvor? Was habe ich falsch gemacht? Oder konnte ich gar nicht dafür?
Irgendjemand spricht im Hintergrund. Ach ja, der Pfarrer.
„Bernd Braun war immer hilfsbereit und fürsorglich. Kümmerte sich rührend um seine Frau und seine kleinen Kinder. Sie werden ihren Papa sehr vermissen.“
Über wen spricht er da? Über Bernd Braun? Nein, das kann nicht sein. Das ist bestimmt ein Missverständnis. Bernd ist doch erst vor drei Tagen nach Hamburg zu einem Kongress gefahren. Aber warum stehe ich hier auf dem Friedhof? Sollte es doch stimmen, was der Priester da sagt?
„Mitten aus dem Leben gerissen in der Blüte seiner Jahre. Es ist für alle, die ihn kannten, ein schwerer Schock. Keiner kann es so richtig begreifen.“
Da hast du Recht. Begreifen kann ich es immer noch nicht. Sollte das alles gewesen sein? War das nun auch das Ende meines Lebens? Ohne ihn, wie soll es weitergehen? Die Kinder? Wo sind die Kinder? Ach ja, sie stehen neben mir, den Kopf gesenkt. Tränen rollen ihnen über die Wangen. Ob sie begreifen, was geschehen ist?
Die kleine Maja. „Unser Sonnenschein“ hast du sie immer genannt, wenn sie dir abends entgegen geflogen ist, als du abgespannt von der Arbeit nach Hause kamst. Alle Müdigkeit fiel von dir ab. Du fingst die Kleine mit deinen Armen auf und gemeinsam wirbeltet ihr im ganzen Zimmer herum. Maja quietschte jedes Mal ausgelassen und konnte gar nicht genug bekommen.
Sollte das alles nun vorbei sein?
„Am Schlimmsten sind die Kinder betroffen. Sie haben ihren geliebten Papa verloren.“ Da, wieder die Stimme des Pfarrers, die dumpf an mein Ohr dringt.
Aber auch Peter, unser zwölfjähriger Stammhalter. Wie wird er ohne Vater aufwachsen? Braucht ein Junge nicht seinen Vater, besonders in diesem Alter?
‚Warum hast du uns einfach so im Stich gelassen?’, möchte ich hinausschreien. Doch kein Ton kommt über meine Lippen. Stumm starre ich auf das Loch in die gähnende Tiefe, über der der Sarg zu schweben scheint.
Wenn du mir jetzt antworten könntest, was würdest du sagen? Vielleicht, dass ich stark genug sei, um die Situation in den Griff zu bekommen? Oder eher, dass ich mich zusammennehmen und nicht herumjammern soll?
Kenne ich dich so schlecht, dass ich diese Frage nicht beantworten kann?
Vierzehn Jahre haben wir zusammen verbracht. Gute und schlechte Tage, wobei die schlechten in der letzten Zeit überwiegt haben. Aber in welcher Ehe gibt es das nicht?
Oft warst du unterwegs. Für deinen Beruf brauchtest du gerade diese Weiterbildungen, diese Kurse und vieles mehr. Wolltest in anderen Betrieb neue Erfahrungen sammeln. Wieder eine Reise, wieder warst du tagelang unterwegs.
Warum musstest du an diesem besagten Montag wieder verreisen? Ach ja, der verflixte Kongress. Wichtig sei er für dein Weiterkommen in der Firma, ist am Abend vorher deine Ausrede gewesen. Dass du mal von einer Fahrt nicht wieder zurückkommen würdest, das konntest du dir nie vorstellen.
„Bernd Braun lebte seit seiner Kindheit in unserem Ort. Wenn es seine Zeit zuließ, nahm er an regen Ortgeschehen teil. Erst letztes Jahr am Kirchfest organisierte er die Tombola, und zwar mit vollem Erfolg. Es kam ein ganz schönes Sümmchen für unsere Restaurierung der Orgel zusammen.“
Ja, für andere warst du der King. Doch ich habe ständig in der Angst gelebt, dass du eines Tages von einer Reise nicht mehr zurückkommen würdest. Dass einmal die Polizei, wie jetzt doch am Montag, vor unserer Tür stehen würde mit den Worten: „Tut mir Leid, aber ihr Mann ist vor zwei Stunden auf der Autobahn nach Hamburg tödlich verunglückt!“
Am Abend vor deiner Abreise habe ich dich nochmals bekniet, nicht nach Hamburg zu fahren. Peter hatte am nächsten Tag Geburtstag und er wünschte sich nichts sehnlicher, als mit der ganzen Familie in den Spaßpark zu fahren. Doch du warst nicht davon abzuhalten, trotz des wichtigen Tages im Leben deines Sohnes zu verreisen.
Es sei ja nicht zum Vergnügen, sondern aus rein beruflichen Gründen. Wenn du die Chance nicht wahrnehmen würdest, bestünde die Gefahr, dass du den neuen gut bezahlten Job am Jahresende nicht bekommen würdest. Es stehen noch andere Kandidaten auf der Liste um diese Stelle.
„Verdammte Arbeit!“ Habe ich das jetzt laut gesagt? Etwas pikiert schaut meine Schwiegermutter von der Seite zu mir und schüttelt dabei den Kopf.
Reiß dich zusammen. Du bist hier nicht alleine. Die Öffentlichkeit sieht dir zu.
Die Öffentlichkeit. Was habe ich mit der Öffentlichkeit zu tun? Jetzt nichts mehr. Bernd ist tot. Damit ist für mich die Öffentlichkeit auch gestorben. Immer habe ich Rücksicht genommen auf die Nachbarn, die Bekannten und Verwandten. Aber das wird jetzt anders. Bernd ist nicht mehr da. Es gibt also niemanden mehr, für den ich auf die Meinung anderer achten muss. Hätten wir nicht soviel Rücksicht genommen, wärst du vielleicht noch am Leben. Aber du wolltest immer bei den Besten sein, bei denen, die im Ort das meiste Ansehen genießen. Und was ist nun der Dank dafür?
Du liegst hier in diesem Holzkasten und hast von deiner ewigen Rücksichtnahme nichts mehr. Gut, die Persönlichkeiten des Ortes erweisen dir die letzte Ehre. Doch hast du nun noch etwas davon? Nichts, nichts ist dir geblieben von deiner aufopfernden Pflichterfüllung.
Schau sie dir doch an! Sie stehen wie die Ölgötzen um dein Grab herum. Wie lange werden sie noch an dich denken? Vielleicht haben sie inzwischen schon ein neues Opfer gefunden, das sie sich nach ihrem Sinn zurechtbiegen können.
Mich jedenfalls werden sie hier nicht mehr lange zu sehen bekommen. Ich werde Maja und Peter nehmen und den Ort verlassen, den Ort, der dir das Leben genommen hat, der dich auf dem Gewissen hat. Hier hält mich nichts mehr! Das warst immer nur du!
„Und damit geben wir deinen Körper der Erde zurück.“