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Zwischen Leben und Tod
Es war endlich soweit! Die Wehen setzten ein! Ich hatte den Notfallplan für diese Situation tausendfach, bis ins kleinste Detail ausgetüftelt und sie solange geübt, bis ich ihn so gut beherrschte, wie ein Jimi Hendrix seine Gitarre. Eine Minute, keine Sekunde länger brauchte ich, wenn ich gut in Form war, um meine Frau in die stabile Seitenlage zu bringen, zum Telefon zu hechten, die 112 in die Tasten zu hämmern und wieder bei meiner Frau zu sein. Ich hatte es bereits hundertmal geübt, weshalb meine Frau mich hasste und mich bereits die halbe Feuerwehrwache mit Namen und Adresse kannte. Abgesehen von den Bußgeldern wegen Missbrauch des Notrufs brachte das nur Vorteile. So wusste man wenigstens wer ich war und worum es ging.
4:43 Uhr: Meine Frau schrie auf. Ich rollte sie noch im Halbschlaf James-Bond-mäßig auf die Seite, zog geübt ihren Arm unter ihrem Körper hindurch und bekam eine kräftige Ohrfeige mit der noch freien Hand. Aber das brachte mich nicht aus der Fassung. Aus dem Bett gesprungen... Telefon... 112... „Hallo, ich bin’s wieder! Ernst Meyer aus der Gärtnerstr. 13! Achtung! Keine Übung! Ich wiederhole: Keine Übung! Meine Frau hat ihre Wehen!“, ich sprang zurück zum Bett, wo sich meine Frau gerade versuchte aus der stabilen Seitenlage zu befreien und drückte sie bestimmt in die Kissen. „Herr Meyer! Ich zeige Sie an! Sie sind ja nicht bei Trost. Genau das gleiche sagten Sie schon letztes mal, nur um uns, als wir mit dem Krankenwagen vor ihrer Tür standen, vorzuwerfen, dass wir vierzehn Minuten und fünfunddreißig Sekunden gebraucht hätten!“, erschall die Stimme eines Kindermörders in spe aus der Leitung. „Nein, ich werde Sie verklagen, wenn Sie nicht sofort ausrücken und zwar zack, zack! Es geht wirklich los!“, meine Stimme überschlug sich fast. Mein wasserdichter Notfallplan bekam Risse und die ersten Tropfen rannen heraus. Ich legte auf, um nicht wegen rassistischer, menschenverachtender, erniedrigender Beleidigung eingebuchtet zu werden. Meine Frau schrie und hatte sich mittlerweile wieder in eine aufrechte Position gebracht.
4:45 Uhr: Ich lag deutlich über der Zeit! Mir rannen Schweißperlen über das Gesicht. Nicht nur renitente Sanitäter, sondern auch noch eine renitente Frau - ich konnte es nicht fassen! „Zurück in die Seitenlage!“, schrie ich sie an. Meine Frau tippte sich unter Schmerzen an die Stirn. „Man, du Spinner! Denkst du etwa, dass ich unserem Kind später mal erzählen möchte, dass es in der stabilen Seitenlage zur Welt gekommen ist, weil sein Vater ein Vollidiot ist, den es nie kenngelernt hat, weil ich mich scheiden lasse!“. „Du meinst wohl du weißt was gut für dich ist!“, gab ich hilflos zurück, „Wer hat den all die Bücher übers Kinderkriegen gelesen?!“. Meine Frau tippte sich schon wieder an die Stirn. Ich fragte mich, ob sie schon an Wahnvorstellungen litt, das hatte ich auch mal in einem Buch gelesen, dass das möglich sei bei überhöhtem Schmerzempfinden. Hatte sogar ein Soldat geschrieben und das hieß ja mal was! Ich schaute zur Uhr.
4:48Uhr: Die Bombe in Form meines Kindes tickte. Ich ging ans Fenster und sah auf die Straße. Ich hatte extra das Schlafzimmer ins Erdgeschoss verlegt und das Fenster vergrößern lassen, damit meine Frau zur Not über das Fenster direkt in den Krankenwagen verfrachtet werden konnte. Die Rhododendren hatte ich dafür zwar absägen müssen, aber was sein muss muss sein. Ich spähte wie ein Adler aus dem Fenster. Kein Krankenwagen, keine Sirene, kein Lichtschein auf der Straße. Ich spürte, wie in mir eine Hitze aufkochte, die langsam in meinen Kopf stieg. „Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden, du Trottel!“, sagte ich mir. „Deine Frau braucht dich!“, obwohl sie mich leicht lächelnd ansah. Leicht lächelnd? „Oh Gott! Sie hat die Pforte zum Wahnsinn durchschritten.“, dachte ich sofort. Oder hatte sie schon gelaicht- mir fielen die Fachtermini nicht mehr ein... „Was ist los?“, meine Stimme zitterte vor Besorgnis. „Die Wehen haben gerade wieder aufgehört. Kannst dich wieder beruhigen.“. „WAS?!“, mein Herz setzte bedrohlich lange aus. „Wieso hört so was wieder auf? Überlegt sich der Kleine das jetzt doch wieder anders oder was?“. Mir wurde schwarz vor Augen.
Der Kranken wagen kam gemächlich die Straße hochgefahren. 4:50 Uhr: Die Sanitäter reanimierten mich ein, keine Sekunde zu spät!