(Zwischen)Menschliches
Ein Mann und eine Frau.
Ein Mann und eine Frau sitzen in einem Zimmer. Das Zimmer ist dunkel, denn der Tag neigt sich dem Abend. Als Beide sich zusammensetzten, schien draußen noch die Sonne.
Inzwischen ist diese aber untergegangen und keiner der Beiden hatte sich die Mühe gemacht aufzustehen, und den Lichtschalter zu betätigen.
Die Zwei sitzen sich also in einem dunklen – vormals sonnendurchfluteten – Zimmer gegenüber und schweigen.
Sie sitzen sich gegenüber. Zwei Fronten. Zwei Parteien. An der Art wie sich dort auf ihren Stühlen sitzen, erkennt man ihre Versuche, jeweils ein kleines Territorium für sich zu besetzen, zu verteidigen. Man kann dies daran erkennen, WIE sie sich gegenüber sitzen. Der Mann streckt die Beine aus, die Füße überkreuzt, die Arme verstränkt. Diese Geste soll betont lässig erscheinen, doch versucht er nur, der Frau ihre Grenze aufzuzeigen. Bis hier, und nicht weiter. Der Rest ist alles meins! Die Verschränkten Arme sind seine Barriere. Die Frau hat die Beine nicht überschlagen, was sonst immer ihre Art ist. Sie sitzt kerzengrade auf ihrem Stuhl. Beide Füße fest auf dem Boden. Die Hände liegen auf ihren Oberschenkeln auf. Wie zum Gebet ineinander verschlungen. Sie schafft mit ihrer abweisenden Haltung Distanz, denn diese Distanz zu erzeugen und zu betonen ist Beiden sehr wichtig. Als sie an diesem Tag den Raum betraten, war dem noch nicht so.
Sie schweigen. Sie schweigen sich noch nicht einmal an. Sie schweigen einfach. Jeder für sich. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Gedanken, die nicht im Entferntesten mit dem jeweils anderen zu tun haben. Nicht mehr. Sie denken über ihre Arbeit nach, ihre Wohnung, ihre Eltern. Sie denken über Gott und die Welt nach, nur nicht über den anderen. Der Mann überlegt, ob er am nächsten Morgen um Zehn oder um Elf im Büro sein muss. Die Frau denkt daran, dass sie noch ihre E-Mails checken muss, bevor sie zu Bett geht. Jeder hängt seinen Gedanken nach.
Die Beiden kommen noch nicht einmal in die Verlegenheit dem Blick des Anderen ausweichen zu müssen, da keiner der Beiden auch nur in die Richtung seines Gegenübers schaut. Wie ein blinder Fleck auf der Pupille, haben sie den jeweils Anderen ausgeblendet. Ausgeblendet aus ihrer Sicht. Aus ihren Gedanken. Aus ihrem Leben. Auch das wäre zu Beginn des Tages für den Mann, als auch für die Frau, ziemlich undenkbar gewesen.
Zurück auf Anfang.
Martin - der Mann - ist für drei Uhr nachmittags mit seiner Freundin Henrike – die Frau - verabredet. Beide wollen gemeinsam eine Wohnung besichtigen. Nachdem sie nun schon seit fast zwei Jahren ein Paar sind, haben sie beschlossen zusammen zu ziehen.
Sie erachten das als eine gute Idee, schon allein vom finanziellen Aspekt aus betrachtet.
Beide sind jung, dynamisch, und beruflich voll eingebunden.
Kennen gelernt haben sie sich, wie sollte es anders sein, durch einen gemeinsamen Freund. Heiner. Dieser veranstaltete anlässlich seines bevorstehenden einjährigen Auslandsaufenthaltes eine Abschiedsfeier. Zu der waren auch Martin und Henrike eingeladen. Beide kannten sich vorher nicht. Zumindest nicht bewusst. Im Laufe des Abends, Heiner war schon ziemlich betüddelt, kam er mit Martin im Schlepptau zu Henrike.
„Ach Henri, meine Süße, du kennst doch noch Martin, oder?“ fragte er, leicht lallend.
„Tut mir leid, aber der ist mir unbekannt“ gab Henrike lächelnd zurück.
„Ach WAS! Aber ihr habt doch wild rumgeknutscht auf der letzten Halloween-Party!“ empörte sich Heiner.
„Vielleicht war unser Kostüm so gut, dass wir uns nicht mehr erkennen? Wäre doch irgendwie romantisch.“
Das war das erste was Henrike von Martin hörte. Und das ein Mann, auch wenn es im Kontext ihrer Meinung nach nicht passte, freiwillig das Wort „Romantik“ in den Mund nahm, beeindruckte.
„Ich war auf keiner Halloween-Party, Heiner“ versuchte Henrike es erneut.
Ihr Blick ruhte inzwischen aber auf Martin. Rein optisch war er ihr Typ, obwohl sie sich immer wieder sagte, sie habe keinen „Typ“. Aber das ist nur eine weit verbreitete These, der sich die Leute gerne hingeben.
Auch Martin fand Henrike gleich sympathisch. Sie war groß, schlank, und hatte ein hübsches Gesicht, das ihn im Moment interessiert anschaute. Er gab sich alle Mühe, seinerseits auch reges Interesse zu bekunden. Der besoffene Heiner war doch tatsächlich für etwas gut gewesen, dachte er im Stillen.
„Ach echt nicht?“ meldete sich dieser gerade wieder zu Wort. Er schaute eine Weile irritiert. „Na dann halt nicht.“ Sprachs, und verschwand.
Nachdem Martin und Henrike – kurz Henri – alleine waren, unterhielten sie sich noch den ganzen Abend sehr angeregt. Es knisterte!
Bald verabredeten sie sich. Immer häufiger, immer intimer wurden ihre Begegnungen. Bald waren sie offiziell ein Paar. Alles lief wunderbar. Sie waren sehr verliebt.
Also beschlossen sie – wie schon erwähnt – nach beinahe zwei glücklichen gemeinsamen Jahren, zusammen zu ziehen.
Als sie sich an diesem Tag vor dem Haus trafen, wartete Henri schon ungeduldig auf Martin.
„Wo bleibst du denn? Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich die ganze Wohnung heute gründlich messen will!“ Sie war gereizt.
„Hallo erstmal“ begrüßte Martin sie, und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Tut mir leid, aber wir hatten doch zwei Uhr gesagt“ Er tippte auf seine Uhr, und hielt sie ihr demonstrativ unter die Nase.
Henri rümpfte diese kurz und abfällig. „Du bist immer so pünktlich, dass es fast schon an Unpünktlichkeit grenzt“ fuhr sie ihn an.
Martin wurde langsam ärgerlich. Er mochte es nicht, wenn sie ihre schlechte Laune an ihm ausließ. Und das tat sie eigentlich immer.
Das er umgekehrt, alles auf die leichte Schulter nahm, und sich und andere dadurch schon des Öfteren in unangenehme Situationen gebracht hatte, soll an dieser Stelle auch nicht unerwähnt bleiben.
Henri hatte von der Wohnungs-Agentur den Schlüssel für die Wohnung geliehen. Sie wollte sich in aller Ruhe alles Details einprägen, um eine Entscheidung fällen zu können.
Martin fand das ziemlich umständlich. Ihm hatte die Wohnung auf den ersten Blick gefallen.
Sie war groß, hell, und hatte eine Terrasse. Er sah sich im Sommer schon dort sitzen und grillen!
Beide gingen die Stufen zu der Wohnung hinauf, und Henri schloss auf.
„Ich find sie toll!“ platzte es aus Martin heraus.
„Du bist doch noch gar nicht richtig drin!“
„Ja aber ich kenn’ sie doch schon. Wir haben sie uns doch mit der Maklerin angesehen.“ erinnerte er sie.
„Das weiß ich auch, aber solche Leute beeinflussen immer. Sie setzten unterschwellig unter Druck, weißt du.“ versuchte Henrike zu erklären. Sie sah sich immer in der Notwendigkeit ihr Handeln zu rechtfertigen. Besonders Martin gegenüber, der eher der „spontane Typ“ war.
So definierte er sich. Henrike hingegen nannte das eher unüberlegt und faul. Ihm gegenüber hatte sie schon des Öfteren versucht zu erklären, dass Spontanität nicht immer die angemessenste Art sei auf Dinge zu reagieren. Aber Martin pflegte dann immer auf stur zu schalten.
Sie versuchte diese Gedanken zu verscheuchen und sich auf das „Hier und Jetzt“ zu konzentrieren. Aber tat sie das nicht? hallte es hartnäckig in ihrem Kopf wieder.
Martin seufzte. Er hatte schon an ihrem Blick gemerkt, dass sie nicht in bester Laune war. Wahrscheinlich Stress auf der Arbeit. Leider brachte sie den viel zu oft – wie er fand – mit nach Hause. Obwohl das, dem Stereotyp entsprechend, ja eher seine Aufgabe gewesen wäre. Sogar in ihr erstes gemeinsames Zuhause, hatte sie diese schlechte Angewohnheit schon mitgebracht. Ihn verärgerte ihre mangelnde Distanz zu solchen Dingen. Sie nahm immer alles so schrecklich persönlich. Und sie analysierte alles zu Tode! Seiner Meinung nach, musste man nicht immer über alles reden. Viele Dinge wurden zu wichtig, zu groß, wenn man zu lange über sie redete oder nachdachte.
Henrike hatte inzwischen Stift und Papier aus ihrer Tasche geholt. In der anderen Hand hielt sie einen Zollstock.
„Willst du messen oder schreiben?“
Martin rollte mit den Augen.
„Sooo viele Möbel haben wir auch nicht, dass du dir Sorgen machen musst ob aller rein geht“
„Das kann täuschen. Leere Räume wirken immer um mindestens zehn Prozent größer als sie es eigentlich sind. Das ist genau das gleich, wie auf Fotos. Das wirkt man ja auch immer zehn Kilo dicker“ verbesserte Henrike ihn.
Martin hasste das! Sie hatte auf alles eine Antwort, und zu dieser auch gleich noch eine Begründung, Untermauerung, oder sonst irgendetwas!
Plötzlich merkte er, dass Henrike ihn ansah.
„Du bist sauer“ stellte sie tonlos fest.
„Natürlich bin ich sauer. Du maulst ja auch nur an mir rum! Seit ich PÜNKTLICH, wie ich noch mal betonen will, hier angekommen bin!“ Er schrie. Das hatte er gar nicht beabsichtigt. Das war einfach so passiert.
Henrike sah ihn mit der Bestürzung an, die auch er empfand.
„Schrei mich nicht an!“ zischte sie. Sie hatte sich schnell wieder gefasst. Dass Martin so explodiert war, hatte sie überrascht.
Martin, der sich eigentlich entschuldigen wollte, überlegte es sich anders. Nein, diesmal würde er nicht, nur um des lieben Frieden willens, einfach klein bei geben. Er war im Recht. Sie war abfällig und gemein zu ihm gewesen, während er nett und zuvorkommend gewesen war. Ja sogar nachsichtig! Zu Anfang wenigstens.
„Tja, es kann ja nicht jeder dein Talent haben. Du kannst auch ohne laut zu werden schreien, Henri“ blaffte er sie an.
„Was? Erklär mir, wie du das meinst“ sie funkelte ihn an.
„Du weißt doch sonst immer alles. Das wird dir auch noch einfallen“
„Du kannst nicht A sagen, und dann bei B den Schwanz einziehen! Aber das Prinzip „Schwanz einziehen“ hast du ja perfektioniert!“
Das war ein Tiefschlag. Völlig unbegründet und aus der Luft gegriffen. Doch der Streit, den das war es inzwischen, hatte eine Grenze überschritten. Ab jetzt wurde es hässlich!
Martin ging zwei schnelle Schritte auf Henrike zu. Dann blieb er dicht vor ihr stehen, das Gesicht rot vor Zorn.
„Bei deiner Sauertöpfischen Art ist das ja auch kein Wunder!“
Gleichstand! Beide konnten noch die Kurve kriegen. Versuchen, die Sache mit Humor zu beenden. (Humor ist, wenn man trotzdem lacht!) Dem ganzen die Spitze nehmen, indem sie aus den Bösartigkeiten die sie sich an den Kopf geworfen hatten, einfach eine Nichtigkeit waren. Es unter den Teppich kehrten. Doch weder Henri noch Martin waren dazu bereit. Die Sache ging hier und jetzt bis aufs Blut!
Das Beide als getrennte Leute diese Wohnung verlassen würden, war zu diesem Zeitpunkt schon beschlossene Sache. Zu viele aufgestaute Aggressionen, zu viele Missverständnisse, nicht angesprochene Wichtigkeiten, zu lange diskutierte Nichtigkeiten, forderten jetzt ihren Tribut. Kleine Eigenheiten und Fehler des anderen, konnte man auf einmal nicht mehr ignorieren. Dinge die man früher am anderen geschätzt, ja sogar geliebt hatte, waren jetzt auf einmal zu unüberbrückbaren Differenzen geworden. Sie differenzierten! Sie schufen eine Differenz zwischen Beiden, die nicht mehr wettgemacht werden konnte.
Henrike verlor sich in alten Geschichten. Tischte Martin Kleinigkeiten – ihrer Ansicht nach Fehler – auf, an dessen Begleitumstände der sich gar nicht mehr erinnern konnte. Das wiederum wertete Henrike als Ignoranz und Uneinsichtigkeit. Die Spirale nahm ihren Anfang.
Martin sah sich mit Vorwürfen konfrontiert, die ihn in ihrer Ausführlichkeit, und Masse wie ein Vorschlaghammer trafen. Es war unmöglich Henrikes Angriff Abzuwehren.
Martin triezte sie, mit ihren Eigenschaften. Ihren Macken, wie er es nannte. Er kritisierte all die Dinge, die sie als Person kennzeichneten. Wie sie sich immer gewissenhaft auf alles vorbereitete. Oder dass sie einen Hang zur Kleinlichkeit hatte, den er zu Anfang liebevoll als „ausgeprägten Gerechtigkeits-Sinn“ bezeichnet hatte.
Henrike sah sich in ihre Vergangenheit zurückversetzt. Endlose Diskussionen mit ihrer Mutter, der sie einfach zu ähnlich war, und das nicht akzeptieren wollte. Nicht akzeptieren KONNTE! Konflikte mit Ex-Freunden, die ihr die gleichen Vorhaltungen machten. Im Stillen fraßen die alten Zweifel sie auf: Wenn zwei das selbe sagen, muss was dran sein.
Ihre Verzweiflung wuchs, und die schlug sich in Aggressivität gegenüber Martin nieder. Sie kämpfte mit noch härteren Bandagen. Tränen gehörten allerdings nicht zu ihrem Repertoire!
Martin stellte sich seine Zukunft mit dieser Frau, in dieser Wohnung, vor. Die Vorstellung ängstigte ihn. Er bekam Platzangst, ja sogar Panikattacken wenn er sich ausmalte, wie er mit Henrike auf engstem Raum zusammen lebte. Ihr nicht mehr entgehen konnte. In allem kritisiert und verbessert wurde. Sie würde ihm von morgens bis abends Vorschriften machen. Er sah seine Individualität, seine Freiheit gefährdet! In ihm reifte, noch unbewusst, der Entschluss Henrike loszuwerden. Er würde sich von ihr trennen!
Zwischenspiel.
Was genau Beide sagten, ist im Grunde gar nicht wichtig. Die Gemeinheiten die sie sich an den Kopf warfen, sind nur leere Worthülsen. Dinge die jeder von uns im Zorn schon einmal gesagt hat. Wie Phrasen, die im Streit immer wieder hervorgeholt werden, nur um sie bei dem einen oder anderen in veränderter Form vorzubringen. Als ob sie schon bei der Geburt mitgeliefert wurden. Bitte sehr, das ist bei der Grundausstattung inklusive! Vorgetragen mit einem Lächeln.
Wenn es hart auf hart kommt, wissen wir auf welche Knöpfe wir drücken müssen, um die Foltermaschine zu starten. Um den anderen zu verletzen. Das wir uns damit ins eigene Fleisch schneiden, ist uns bewusst! Nur leider immer erst hinterher. Und das jedes Mal aufs Neue.
Auch wenn wir sonst gelernt haben, unsere Fehler zu analysieren, sodass wir sie in Zukunft vermeiden, greift dieses Prinzip beim erbitterten Kampf Mensch gegen Mensch nicht. Auf Zwischenmenschlicher Ebene meucheln wir einander immer noch, wie es die alten Griechen schon vor Jahrhunderten auf dem Schlachtfeld taten.
Jede Schwachstelle wird ausgenutzt, das Messer in der Wunde noch einmal gedreht, nur im dann anschließend Salz hinein zu streuen. Im Streit, Disput, Zank, der Diskussion, der „freundschaftlichen“ Kritik, dem klärenden Gespräch reduzieren wir Uns, und unser Ich auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner.
Zurück zum Schluss.
Martin war froh, sich gelöst zu haben. Er konnte wieder frei atmen. Das es im Zimmer dunkel geworden war, nahm er nur am Rande war.
Henrike saß im Dunkeln und musste an einen Satz aus dem letzten Film denken, den sie im Kino gesehen hatte.
„Ich liebe dich nicht mehr“ hatte die Hauptdarstellerin da gesagt.
„Seit wann?“ war die Frage ihres Geliebten gewesen.
„Seit jetzt!“
Genau so war es hier auch.