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»Was du dir immer zusammenreimst«
Sie war zeitlebens eine schöne Frau. Ihre Haut war die zarteste, die ich jemals sah oder fühlte; man mochte meinen, Seide sei noch zu rau für sie. Sich jeden Tag einzucremen war sie nie zu träge.
Selbst im Sterbebett war ihre abgemagerte, beinahe fleischlose Hand immer noch von dieser feinen Haut umhüllt.
Sie war so verletzlich, dass niemand es wagte, sie zu berühren. Nur manchmal ätzten einige Tränen die Haut, wenn sie von ihrer Tochter eine geschrieene Standpredigt gehalten bekam, weil sie an sich selbst sparte. Aber Oma verzieh sehr schnell und betrachtete es später mit Humor, wie man sich wegen so unwichtiger Dinge derart aufregen konnte. Später zeigte sie mir einmal, dass sie das teure Vileda-Fenstertuch, das ihre Tochter für lebensnotwendig hielt, gekauft hat und zum Herzeigen aufbewahrte; aber die Fenster putzte sie immer noch mit Zeitungspapier.
Den Sinn des Lebens in ihrer Arbeit suchend, wurde sie fündig. Wenn sie nach dem Unterricht komponierte, vertonte sie ihre Gefühle, die sie nie ausgesprochen hatte; die nie jemand sah, der nicht danach suchte; sie galt ja als eisern. So wurde sie mir als Kind auch vorgestellt; ich kannte sie damals nur als die »Eisen-Oma«. Aber das hatte einzig mit ihrem Wohnort zu tun…
Wenn ich als Kind – viel zu selten, ich glaube, es waren drei Mal – für ein paar Tage alleine zu ihr geschickt wurde, lernte ich sie als hinter der Fassade herzlichen Menschen kennen. Sogar mit ihrer pedanten Ordnungsliebe konnte ich mich arrangieren. Ich legte ihre Teppichfransen gerade, weil sie sich darüber immer so gefreut hat, und danach durfte ich auf ihrem Klavier klimpern, obwohl sie darauf so heikel war, oder wir gingen in die Konditorei, um uns eine Torte zu genehmigen. Oft gingen wir schwimmen; sie schwamm immer so gern. Und irgendwie schaffte sie es jedesmal, sich von mir ungesehen umzuziehen.
Mit zwölf fragte ich sie: »Oma, warum suchst du dir eigentlich nicht wieder einen Mann?«
Sie sah mich an, als wollte sie nichts mehr, als mir eine Antwort geben, verbot es sich aber im selben Moment selbst, und ich glaube, sie hielt sich ein paar Tränen zurück, indem sie dem Thema auswich.
Spätabends, ich hatte schon geschlafen, war aber wieder aufgewacht und hatte Durst, traf ich Oma am Weg in die Küche; sie wollte gerade ins Bett gehen. Als sie mich bemerkte, erschrak sie und wusste nicht, wohin mit ihrer Verlegenheit. Erstaunt fragte ich: »Was hast du denn, Oma?« Und dann erklärte sie mir, dass sie Brustkrebs gehabt hatte. Es war ihr unangenehm, dass ich sie im Nachthemd sah, in dem sie ihre Prothese nicht getragen hat.
Ich konnte daraufhin lange nicht schlafen. Immer klarer wurde mir, dass dies die Antwort auf meine Frage war. Und nicht nur auf diese.
Mit den Jahren reimte ich mir mehr und mehr zusammen, wie sehr sie sich hinter ihrer vielen Arbeit versteckte. Sie vermied jegliche Gelegenheit, sich neuerlich zu verlieben. Hätte es einen Mann gegeben, dem das Fehlen einer Brust egal gewesen wäre? Einen, vor dem sie sich nicht hätte schämen müssen, wenn sie es ihm sagte? Wieviel Angst musste sie vor der Antwort haben, um jede Möglichkeit so großräumig zu umgehen?
Welches Gewicht es für meine Oma wohl haben musste, als ich sie kurz vor ihrem Tod umarmte, statt immer nur ihre Hand zu halten. Sie sah mich glücklich und erleichtert an und, obwohl sie kaum mehr reden, nur mehr mühsam flüstern konnte, formte sie ein sauberes »Danke«.
Während ihrer letzten Stunden waren die beiden Töchter bei meiner Oma.
Sie erzählten dann beim Leichenschmaus von der großen ungelösten Frage: »Ich hatte meine Hand unter ihrer liegen, und plötzlich nahm sie sie, hob sie ein wenig und legte sie ein Stück weiter. Keine Ahnung, was sie da wollte«, sagte die eine, bewegte währenddessen ihre Hand Richtung Schulter, und die andere Tochter ergänzte: »Sie wollte scheinbar auch etwas sagen, behielt es aber doch für sich.« Sogleich fuhr wieder die eine fort: »Dann hob sie ihren Arm, so …«, dabei hielt sie den Arm waagrecht in Schulterhöhe, und rechtwinkelig abgebogen. Die andere ergänzte wieder: »Wir sind nicht dahinter gekommen, was sie uns damit deuten wollte.« Und wieder die eine: »Das hat sie als Geheimnis mit in den Tod genommen. Wir werden da nicht mehr draufkommen.«
»Sie wollte, dass du sie umarmst«, sagte ich. Vorsichtig. Leise. Sah direkt vor mir, wie passend die Armstellung für Schultern darunter war.
Ein verständnisloser Blick. »Warum sollte sie gemeint haben, dass sie umarmt werden will? Das hätte sie doch sagen können.«
»Wenn sie es aber doch nicht konnte?«
»So ein Blödsinn. Also weißt du, was du dir immer zusammenreimst …«
Naja. Ich geh jetzt schwimmen. Vielleicht treffe ich dort Oma auf ein tröstendes, gemeinsames Lachen.