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Äpfel auf dem Eis
„Lass uns ein Spiel spielen: Äpfel auf dem Eis“, schlug Sebastian seinem jüngeren Bruder vor, als sie am zugefrorenen Ententeich vorbei kamen. Sie hatten beide noch einen Apfel vom Schulfrühstück dabei. „Wessen Apfel weiter rollt, der bekommt einen Punkt.“ „O ja, prima“, sagte Ralfi, „lass uns das spielen!“
Sebastian ließ seinem kleinen Bruder den Vortritt. Ralf war noch ungeübt in solchen Dingen, sein Apfel rollte höchstens zwei Meter weit und blieb dann liegen. Sebastian nahm nun seinen Apfel, und das war schon deutlich weiter, bestimmt vier bis fünf Meter. „Ein Punkt für mich“, sagte Sebastian. „Schade“, entgegnete Ralf traurig. Vorsichtig betraten sie die Eisfläche und holten sich ihre Äpfel zurück.
„So, zweite Runde“, drängte Sebastian, „diesmal fang ich an.“ Es misslang ihm alles, der Apfel rollte schräg zur Seite, noch nicht mal so weit wie Ralfs Apfel beim ersten Mal. Ralf strengte sich mächtig an, und sein Apfel rollte viel weiter als der des großen Bruders. „Gut, eins zu eins.“ Der Kleine strahlte über das ganze Gesicht: „Gut, nicht wahr?“ „Ja, sehr gut! Aber lass uns jetzt weiterspielen, bis zehn!“ „Müssen wir nicht nach Hause? Was wird Mutti sagen, wenn wir nicht kommen?“ „Ach lass nur, es ist ja noch nicht so spät...“ Sie holten ihre Äpfel, es knirschte ein wenig, einen Moment lang verharrten sie und trauten sich nicht weiter, dann, ganz vorsichtig, schoben sie sich Schritt für Schritt an ihre Äpfel heran, griffen sie sich und tasteten sich behutsam zurück ans Ufer.
„Gut, dritter Wurf“, sagte Sebastian. „Du fängst wieder an.“ Der Kleine hatte jetzt schon ein wenig Übung, stellte sich geschickt an, und der Apfel rollte weit und immer weiter. Ehrgeizig holte nun der Große aus. Der Apfel rollte und rollte, fast bis zur Mitte des Teichs, hatte den Apfel des Kleinen um Längen überholt. „Ein Punkt für dich, ganz klar“, stellte Ralf anerkennend fest. „Ja, zwei zu eins. Los, lass uns die Äpfel zurückholen. Aber pass auf, da vorne ist das Eis schon ein bißchen dünn, lass uns ganz langsam zu den Äpfeln hingehen!“ Schritt für Schritt wagten sie sich auf den zugefrorenen Teich hinaus. Das Eis knackte und knirschte, das klang so unheimlich. Ralf blieb plötzlich stehen: „Du, ich trau mich nicht weiter!“ „Ach, du kleiner Angsthase, sei doch nicht so ein Waschlappen, das Eis ist ganz dick!“ „Wenn du meinst...“ erwiderte Ralf, und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort.
Dann ging alles blitzschnell: es knisterte und knackte immer lauter, schlagartig gab das Eis unter ihren Füßen nach, und sie rutschten beide ins eiskalte Wasser, laut aufschreiend. „Halt dich am Rand fest, Ralfi!“ schrie Sebastian, aber da war sein Bruder schon unter der Wasseroberfläche verschwunden! „Ralfi!“ schrie Sebastian, „Ralfi! Hilfe! Hilfe! Hiiiiiilfe!!!“
Ein älteres Ehepaar hatte die Kinder schon beobachtet, als sie mit ihrem Spiel begannen, war weitergegangen, hörte die Hilfeschreie und eilte sofort zurück. Sebastian lag bis zum Bauch im Wasser und mit dem Oberkörper auf dem Eis. Die Frau rief sofort Polizei und Feuerwehr an. Wenig später traf der Rettungswagen ein. Eine junge Sanitäterin begriff sofort den Ernst der Lage und sprang in voller Kleidung ins Wasser. Ralf trieb schon unter dem Eis. Sie zog ihn an die Oberfläche, hielt ihn über Wasser, aber ihre Kräfte ließen nach. Zum Glück kam jetzt die Feuerwehr. Die Feuerwehrleute warfen Sebastian eine Fangleine zu, er griff zu und wurde übers Eis ans rettende Ufer gezogen, war völlig verzweifelt, weinte und weinte und rief auch dann noch flehentlich um Hilfe, als ihn die Retter schon in den Armen hielten. Die Feuerwehrleute zogen ihm die nassen Kleider aus, wickelten ihn in eine Decke und legte ihn in ein beheiztes Auto. Nun galt es, die Sanitäterin und Ralf zu retten. Eine Steckleiter wurde flach aufs Eis gelegt, ein Feuerwehrmann robbte bis zur Eiskante, konnte die Frau greifen, konnte Ralf greifen, brachte sie sicher an Land.
Ralfs Gesicht war blau angelaufen, er atmete nicht mehr, wurde wiederbelebt. Der Rettungswagen raste zur Kinderklinik...