Über das Altwerden
Eines Morgens war ich unterwegs wegen einer Reportage, in der ich mir schon vorher im Klaren war, dass sie mich nicht besonders beflügelte. Ich sollte einen Artikel schreiben über das Altwerden.
Aus diesem Grunde fuhr ich diese alte Route Nationale in Richtung „Vieillemaison“, so hieß nämlich das Altenwohnheim. Als ich mich endlich aus den Fängen des Direktors befreien konnte, schritt ich in den Innenhof von diesem alten barocken Gemäuer. Die Infrastruktur passte eher zu einem Kloster, als zu einem Altersheim. Der Innenhof verbarg zwischen den wild wachsenden Sträuchern einen alten kreisrunden Springbrunnen. Obwohl die Fontäne nicht mehr sprudelte, war das Becken mit klarem Regenwasser gefüllt. Rund um den Innenhof schlängelte sich ein Kreuzgang. Einige verwitterte Steinbänke wurzelten in gleichen Abständen im offenen Bogengang. Ich setzte mich auf eine dieser Sitzbänke, zog meinen Notizblock hervor und wollte erste Impressionen niederschreiben.
Viele der Bewohner hielten sich um diese Zeit noch im Mutterhaus auf. Nur Vereinzelte latschten ziellos im Hof umher. Einige starrten vor sich hin, und manchmal entstellte sich ihre ungelenkte Mimik, wenn sie etwas sagten. Aber dann redeten sie meistens mit sich selbst. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass Altwerden etwas sehr Stilles und Einsames sein muss.
Ich blickte auf die kleine Wasseroase inmitten des Hofes, als eine Taube zum Tränken anflog. Diese unerwartete Szenerie passte genau zu meiner literarischen Denkvorstellung. Die Taube trippelte auf dem schmalen Rand des Beckens, als ein Bewohner in gekrümmter Haltung sich langsam dem Tier näherte. Ich dachte, dass die Taube ein gerngesehener Gast sein muss und sich nicht zu fürchten brauchte, denn sie ließ den alten Herrn sehr nahe an sich ran. Doch dann, blitzschnell zuckte dieser einen Stock hervor, auf dem er sich kurz zuvor schmerzlich herbeigeschleppt hatte. Die Taube hatte keine Chance. Der Schlag traf sie gezielt und mit voller Wucht. Das arme Federvieh lag nun mausetot, die beiden Flügel ausgestreckt auf dem schmalen Sims der Fontäne. Als der Jäger nach seiner Beute griff, pirschte eine korpulente Schwester drohend herbei.
„Monsieur Legrand, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollten die Vögel in Ruhe lassen!“
Aber dieser zog sich einfach zurück, als wäre nichts geschehen. Die Schwester schüttelte den Kopf, hob das tote Tier auf und verschwand. Meine zuvor euphorische und poetische Ader war am Boden zerstört und diese stille Idylle bekam schlagartig einen bitteren Nachgeschmack. Ich sass eine ganze Weile still und grübelnd auf der Bank, konnte mir keinen Reim daraus machen. Mit einigen Stichwörtern notierte ich den Vorfall in mein Notizbuch, als ich einen spindeldünnen Mann sah, der das Kiesbett in Richtung Brunnen abschritt. Er ging ziemlich zügig für sein Alter, so, als wolle er den Zug oder den Bus noch rechtzeitig erwischen. Doch dann vor dem Wasserbecken hielt er jäh an. Er spreizte die Beine, fummelte an seiner Hose rum – und Sekundenspäter pinkelte er in das klare Wasser.
Auch ihm drohte von der robusten Schwester eine Schelte, denn sie war durch das Gelächter der anderen Mitbewohner auf die Szenerie aufmerksam geworden.
Der Urheber wandte sich respektlos von ihr ab, während einige Mitbewohner ihm Beifall spendeten. Diese beiden Vorfälle hatten mich gänzlich vom eigentlichen Thema abgeleitet. Ich dachte spontan an das Sprichwort: Müßiggang ist aller Laster Anfang – sollte dieses skurrile Benehmen eine Folge des Nichtstuns sein?
Doch dann wurde ich durch billigen, aufdringlichen Tabakgeruch auf einen Greis aufmerksam, der leise auf der Steinbank neben mir Platz genommen hatte. Er zog an einer weißen Tonpfeife und starrte vor sich hin. Ich trat an ihn heran und hoffte in ihm endlich einen guten Gesprächspartner gefunden zu haben. Er sagte mir, dass er der älteste Bewohner des Heims wäre. Ich glaubte ihm, denn noch nie hatte ich ein solch versteinertes Gesicht gesehen.
„Wissen Sie, ich war schon als Soldat hier einquartiert“, begann er zu erzählen „aber damals war dies ein Hospiz, schwer verwundete Soldaten brachte man hierher. Ich war einer von ihnen, mich erwischte eine Kugel genau zwischen Herz und Schulter. Ha, ha! Dieser Preuße hatte sein Ziel verfehlt“, sagte er lachend, und nahm zum ersten Mal seine Tonpfeife aus dem Mund.
„Hören Sie Monsieur, Sie sind leicht verwirrt“, sagte ich „hier liegt eine Verwechslung vor, Sie sprechen von einem Krieg, der längst vergangen ist.“
„Junger Mann, ich habe mit Napoleon Bonaparte in Wagram und in Waterloo gekämpft. Leider verloren wir in Waterloo wegen des Wetters. “
„Des Wetters?“
„Ja!, wir Franzosen hatten strapazierfähige Uniformen an, aber die Österreicher und die Preußen hatten billige Monturen. Wenn es geregnet hätte, dann hätten die sich regelrecht aufgelöst, und wer kämpft schon nackt auf dem Schlachtfeld.“
Ich schluckte so schwer, als hätte ich soeben eine dicke Pille hinunter gewürgt. Ich wollte weg, schnell weg und lief dem alten Mann förmlich davon. Doch zwei Männer, die mich schon lange von drüben beäugelt hatten, hielten mich bei meiner Flucht auf.
„He! Sie sind doch dieser Zeitungsfritze, was möchten Sie von uns erfahren?“
Ich ließ mich mit ihnen in ein kurzes Gespräch ein, denn ich wollte nicht wieder wirres Zeug hören. Doch dieses Mal schienen meine Gesprächspartner achtbare Bewohner des Heims zu sein.
„Sie haben mit Rochefort gesprochen, der ist leider ein Spinner, er glaubt ein Grenadier des Kaisers zu sein, aber sonst ist er ganz harmlos.“
„Wissen Sie Monsieur, das Leben hinter diesen Gemäuern ist recht langweilig, nichts passiert. Manchmal besuchen uns sehr wichtige Leute, dann müssen wir uns sauber anziehen, freundlich und korrekt benehmen.“
„Was sind das für Menschen?“
„Ich glaub vom Verwaltungsrat“, antwortete der Jüngere der Beiden.
„Manchmal hören sie uns auch zu.“
„Ja, aber nur manchmal“, fügte der Ältere murrend hinzu.
„Ja, ja - dein Anliegen letztes Mal war nicht gerade angebracht.“
„Was war denn letztes Mal“, wollte ich wissen.
„Frauen Monsieur; bei ihm dreht sich alles um Frauen. Naja, ich muss neidisch gestehen, dass bei mir leider die Feder schon lange schlapp macht.“
„Die Feder macht schlapp?“
„Na ja, Sie wissen doch, was ich meine?“
Ich nickte schnell mit dem Kopf und wollte nicht, dass er mir Details schildern sollte und sagte daraufhin:.
„Aber dies ist doch ein Heim ausschließlich für Senioren.“
„Leider und darum werde ich auch weiter wichsen müssen“, knurrte der Ältere leise, aber ziemlich verständlich.
Ich war nicht schockiert, aber leider musste ich eingestehen, dass meine Reportage unter den gegebenen Umständen nie die Druckpresse erreichen würde. Zurück in der Zeitung, marschierte ich schnurstracks zum Redakteur hin und erklärte ihm, dass ich den Artikel nicht schreiben würde. Dieser sah mich verwundert an und wollte wissen, warum ich mich dagegen streben würde.
„Altwerden ist schrecklich, das Nichtstun ist fruchtbares Ackerland für das Heranreifen von Bosheiten und Unanständigkeiten.“ Nach diesen Worten verließ ich das Büro.
Der Redakteur sah verdutzt seine Sekretärin an und meinte nachdenklich:
„Irgendetwas stimmt mit dem Jungen nicht, schon die letzte Reportage war für ihn nervenzerreibend.“
„Was war denn die letzte Reportage?“
„Er sollte über die Zunft der Leichenbestatter schreiben.“
Die Sekretärin blickte daraufhin verständnisvoll zur Tür hin und seufzte: „Der Ärmste!“