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Über den Dingen
Normalerweise lasse ich mich nicht zu verwegenen Taten hinreißen. Mut ist eine feine Sache, doch grenzt sie mir zu sehr an Dummheit.
Wie eng Mut und Dummheit tatsächlich beieinander liegen, erfahre ich im Augenblick in Form von Wechselbädern aus frieren und schwitzen. Und ich kann mich nicht einmal fragen, weswegen ich mich auf diese Narretei eingelassen habe. Die Antwort flammt dort unten auf ihrem roten Handtuch und starrt zu mir hoch.
Bewundert Sarah jetzt meinen Mut, oder findet sie diese Wette einfach nur albern? Wahrscheinlich durchschaut sie das Ganze als das, was es ist: ein Prahlen und Protzen unter Männern. Unter Jungs, würde sie vermutlich zu ihren Freundinnen sagen und dann würde sie lachen und recht haben.
Moment, wenn sie das durchschaut, dann rümpft sie doch bestimmt die Nase, weil ich mich an diesem Macho-Spielchen beteilige. Würde ich nicht besser dastehen, wenn ich ausschere, nicht mitmache?
Ja, verdammt, damit würde ich ihr sicher imponieren. Dumm nur, dass ich bereits auf der Leiter bin und gerade den Einser passiere. Jetzt umzukehren, das wäre noch leichter zu durchschauen. Da müsste ich nicht mal so zittern, wie ich es augenblicklich tue. Angst ist etwas, das man wirklich riechen kann. Ich zumindest kann das. Allerdings bilde ich mir nur wenig auf dieses Talent ein, denn mit zuverlässiger Regelmäßigkeit nehme ich diesen Duft an mir selbst wahr. Eine Art süßlicher Schweißgeruch.
Pervers eigentlich. Hätte Angst etwas Süßes an sich, wäre ich der süßeste Junge der Schule. Dann müsste ich mich auf Wetten dieser Art nicht einlassen, um ein Mädchen zu beeindrucken.
Frauen sollen viel empfindlichere Sinne als Männer haben. Warum hat Sarah also nicht meine Angst wahrgenommen und irgendwas gesagt, was mich aus dieser Situation gerettet hätte? Sie könnte immer noch was sagen. Tut sie sogar. Allerdings nicht zu mir. Sie spricht mit Dustin, diesem Arsch, der die Wette erst angezettelt hat. Dustin, der keine Gelegenheit verpasst, seinen Waschbrettbauch zu präsentieren. Im Winter zieht er sich im Klassenraum so dramatisch seinen Pullover aus, dass immer das T-Shirt mitgezerrt wird und alle Muckies zum Vorschein kommen. Hat Sarah das auch durchschaut? Zumindest schaut sie hin. Wie jetzt auch. Mit freiem Oberkörper liegt er lässig auf der Seite, einen Ellenbogen ins Gras gestemmt, mit den Händen zerpflückt er Grashalme.
In bester Hollywood-Manier lächelt die Sonne auf diese Szene herab. Bisher war ich nur Kameramann, nun bin ich immerhin schon Stuntman. Und dieser Sprung wird mich aus den Credits in die Handlung katapultieren. In die Hauptrolle an Sarahs Seite.
Was die beiden sagen, kann ich nicht hören, aber Sarahs Lachen perlt zu mir hoch. Ich liebe dieses Lachen. Für dieses Lachen erklimme ich sogar die Sprossen zum Schafott.
Mit jeder weiteren Sprosse, die ich umfasse, werden meine Hände feuchter. Und meine Füße. Ich schwöre, ich kann den Schweißfilm auf meinen Fußsohlen spüren. Und natürlich kann ich den Schweiß riechen, selbst über den penetranten Chlor-Geruch hinweg. Er riecht nach Dummheit und Angst. Wenig Mut. Süß eben. Es kann nicht mehr lange dauern, bis ich auf einer der metallenen Sprossen ausrutsche. Wie das wohl aussehen würde? Plötzlich rutscht der Held ab, noch bevor er den Balkon erreicht hat.
Das Gelächter wäre mir sicher, aber immerhin wäre ich dann fein raus. Hinkend könnte ich unmöglich auf den Zehner. Vielleicht sollte ich absichtlich abrutschen? Ich blicke nach unten. Und erschrecke. Aus dieser Höhe ist schon alles zu spät. Das wären mindestens ein paar gebrochene Knochen.
Wenn ich wüsste, dass Sarah mich jeden Tag im Krankenhaus besuchen, mich gesund pflegen würde, dann nähme ich sogar dieses Opfer auf mich. Aber es ist Klausurenzeit. Selbst wenn sie wollte, könnte sie nicht ständig bei mir sein. Und ich würde meine Klausuren auch verpassen. Also weiter aufwärts.
Ich habe den Dreier erreicht. Das Wasser bewegt sich kaum, ist unnatürlich still. Wie ein Raubtier, das getarnt und bewegungslos auf seine Beute lauert.
Ich habe mal gehört, dass einem Kerl die Wampe geplatzt ist, weil er mit einem Bauchklatscher vom Zehner ins Wasser gekommen ist. Wie Beton soll die Wasseroberfläche sein, wenn man falsch eintaucht.
Endlich schaut Sarah wieder zu mir hoch. Obwohl Dustin weiterhin auf sie einquatscht, was mich diebisch freut. Ich grinse und beinahe hätte ich gewunken. Aber wie peinlich sieht das denn aus?
Eigentlich auch egal, die ganze Aktion ist peinlich. Aber immerhin, das rechne ich mir hoch an, versuchte ich der größten Peinlichkeit zu entkommen, indem ich nicht nach Dustin springe. Wahrscheinlich macht der vom Zehner auch noch einen Salto oder sowas. Danach mit einer Arschbombe zu imponieren, ist schwer. Also bin ich zuerst zum Turm. Mittlerweile frage ich mich, ob das eine gute Idee gewesen ist. Vielleicht hätte Dustin ja einen Rückzieher gemacht, oder er wäre abgerutscht - und ich hätte mich gar nicht erst beweisen müssen?
»Hätte-hätte, liegt im Bette«, sagt meine Mutter immer, also klettere ich weiter, passiere den Fünfer.
Was würde ich dafür geben, jetzt in meinem Bett zu liegen. Die Probe hinter mir zu haben, Sarah für mich gewonnen. »Mein Held«, würde sie sagen, neckend. Und dann würde sie mich küssen. Mit diesen unglaublich sinnlichen Lippen würde sie mich küssen. Und ihr Duft, reiner süßer Duft, der keinen Hauch von Angst in sich trägt, würde meine eigene Furcht zerstäuben.
Wie oft ich mich mit diesem Bild in den Schlaf gerubbelt habe. Und wie stets bei diesem Bild, bekomme ich einen Ständer. Nehmen die Peinlichkeiten denn gar kein Ende? Ich habe schon eine extra Badehose unter meiner Shorts, dennoch beult es sich im Schritt verdächtig aus.
Ich packe die Griffe fester und verdopple mein Tempo. Das verdoppelt auch die Angst und Angst ist immer ein treuer Gehilfe bei einer unerwünschten Erektion.
Von unten jubelt es, ich kann deutlich Sarahs anfeuernde Rufe vernehmen und Dustins pflichtschuldiges Mitgrölen - und für einen Moment ist alles ganz einfach. Ich atme die frische Luft ein, mein Herz schlägt kräftig, durchflutet mich mit Adrenalin.
Als ich die Plattform vom Zehner betrete, wird mein Körper schlagartig zu Gummi. Die Luft schmeckt nicht mehr frisch, sondern eisig, lähmt meine Lungen. Ich keuche. Und was ist das plötzlich für ein Wind? Es fühlt sich an, als schlage er mit Fäusten nach mir, als wolle er mich packen und über das Geländer schleudern.
Mit einem Mal wird mir das Ausmaß meiner Torheit klar und mir ist kotzübel. Habe ich das alles nur auf mich genommen, um mich jetzt hier oben zu übergeben? Eine erniedrigende Vorstellung. Oder könnte ich es noch so lange zurückhalten, bis ich sprang? Würde ich im Flug kotzen? Würde ich meine Kotze überholen? Wie war das noch mal mit der Masse und so? Scheiß-Physik, wahrscheinlich würde ich nach oben kotzen, während ich fiel. Wow, was für ein Abgang.
Das Bild bringt mich zum Kichern. Ein schrilles Kichern. Vielleicht ein Anflug von Wahnsinn. Ist in dieser Situation vermutlich das Beste. Das vergleiche ich jetzt mal mit einem Berserker: Irgendein Schalter im Gehirn wird umgelegt, übermenschliche Kräfte werden für die Schlacht freigesetzt und erst lange danach spürt man die Erschöpfung und den Schmerz. Einmal »Geronimo!« brüllen und springen!
Mit seltsam tauben Gliedern mache ich einen Schritt nach vorn. Und noch einen. Bis ich am Rand stehe.
Von hier oben sieht alles erschreckend klein aus. Selbst das Becken unter mir wirkt winzig. Ich würde mich sehr anstrengen müssen, um nicht daneben zu springen, um nicht auf dem Beton zu zerschmettern, um nicht meine Gedärme wie Spaghetti zu verspritzen ...
Sarahs Handtuch sticht wie ein Blutfleck aus dem Grün der Wiese. Ist das ein Omen?
Für einen Moment verschwimmt mein Blick und ich muss die Augen zusammenkneifen, um das Schwimmbad wieder scharf zu bekommen. Ich atme gezwungen tief ein und wieder aus. Ein und wieder aus. Und dann überkommt mich die Erkenntnis: Nicht die Dinge erscheinen so klein, sondern ich erfahre augenblicklich meine wahre Größe. Ja, genau so ist es, anscheinend habe ich diesen Perspektivenwechsel gebraucht, um zu erkennen, dass ich über den Dingen stehe. Über dieser armseligen Wette. Über das-mich-beweisen-müssen. Über Dustin. Danke für diese Lektion. Einmal verbeugen und rückwärts die Leiter runterklettern ...
Nur - warum zittern mir bei dieser Erkenntnis so sehr die Knie?
Sarah ist aufgestanden und winkt mit beiden Armen, feuert mich an.
Stehe ich auch über Sarah?
Sie winkt mich zu sich, in ihre Arme, eindeutig.
Ich springe.