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Über Gott und die Welt
oder ein Rendezvous mit Stefanie und der Kugel
Kugel, der geometrische Ort für alle Punkte, die von einem gegebenen Punkt den gleichen, festen Abstand haben. Dies ist die Geschichte von Stefanie, und die Gedanken über ein fiktives Gebilde, Kugel genannt.
Stefanie sei das, was man als ein durchschnittliches Mädchen bezeichnet. Sie gehe in die neunte Klasse Realschule und interessiere sich für das, wofür sich gewöhnliche Mädchen ihres Alters interessieren. Sie existiert natürlich nicht wirklich, aber sie könnte existieren. Stefanie lebt nur in dem Moment, in dem Sie diese Geschichte lesen. So gesehen ist sie unsterblich. Dieses Faktum unterscheidet sie also ganz gehörig von den anderen durchschnittlichen Mädchen, die in die neunte Klasse der Realschule gehen und sich für gewöhniche Dinge interessieren, doch dies ist ihr nicht bewusst. Ihr ist auch nicht bewusst, dass sie nie älter werden, heiraten oder Kinder bekommen wird, es bleibt auch unklar, ob sie sich ihrer Existenz überhaupt bewusst ist, oder ob nur Sie, lieber Leser, wissen, dass sie existiert. Die Kugel ihrerseits geht überhaupt nicht zur Schule. Sie hat auch kein Geschlecht und kein Alter. Sie besteht nicht aus Materie, sondern aus Punkten, mathematischen, gedachten Punkten wohlgemerkt, physikalisch nicht erfassbar, wohl aber mathematisch berechenbar. Diese Kugel hat sogar noch eine Besonderheit. Sie ist keine bestimmte, sondern eine allgemeine Kugel. Radius r. Mittelpunkt M. Basta.
Obwohl ich für Stefanie bereits einige Faktoren festgelegt habe, könnte ich sie wohl immer noch als eine allgemeine Stefanie bezeichnen. Noch hat sie kein genaues Alter, keine Haarfarbe, keinen bestimmten Charakter, keine Persönlichkeit. Kurzum, nichts, was einen Menschen als Individuum auszeichnen würde. Es gibt sicher einige tausend real existierende durchschnittliche Stefanies, die die neunte Klasse Realschule besuchen, aber es gibt unendlich viele Möglichkeiten, meine fiktive Stefanie zu gestalten. Bei der allgemeinen Kugel bin ich da eher eingeschränkt: Radius größer Null, Mittelpunkt beliebig im Koordinatensystem. Wenn Sie wollen sogar n-dimensional. Stefanie könnte ich beliebig phantasievoll verändern. Ich könnte ihr beispielsweise zwei Quadratmeter große Füße wachsen lassen. Dies ließe sie zwar unrealistisch werden, aber sie wäre immer noch Stefanie. Meiner Kugel könnte ich keine Füße verpassen, auch keine großen. Eine allgemeine Kugel mit zwei Quadratmeter großen Füßen ist keine Kugel mehr, und schon gar keine allgemeine. Also ist meine Kugel (ohne Füße) allgemeiner als Stefanie. Stefanie hat natürlich Augen, Ohren, Nase, Mund, Hände, Füße (ich lasse sie lieber auf Schuhgröße 38 schrumpfen) und alles was dazu gehört. Meine Kugel hat neben r und M noch einen Krümmungsradius, einen Rauminhalt, einen Durchmesser, kurz alles was eine Kugel so zum Existieren braucht. Apropos Existenz, ich habe ja am Anfang erwähnt, dass Stefanie nicht wirklich existiert. Sie ist eine rein erdachte Figur, aber wie ist das mit der Kugel? Ausdenken, beschreiben, berechnen lässt sie sich problemlos, ob sie existiert ist eine andere Frage. Ich persönlich habe noch keine allgemeine Kugel gesehen und ich bezweifle stark, dass ein klar denkender, zivilisierter Mitteleuropäer dies von sich behaupten kann. Es ist übrigens auch gar nicht leicht, um nicht zu sagen vollkommen unmöglich, sich ein solches mathematisch-abstraktes Gebilde auch nur vorzustellen. Allein die Größe. Unendlich! Ja, da haben wirs ja schon. Andererseits könnte der Radius (der ja die Größe bestimmt) auch unendlich klein sein, oder natürlich alles dazwischen. Schlicht und ergreifend r. Nicht festgelegt. Man versuche sich einen nicht festgelegten Radius vorzustellen. Geht nicht. Gar nicht, denn sobald man sich etwas vorstellt, ist es festgelegt. Also nicht mehr allgemein. Bei Stefanie ist das Problem, das übrigens erst zu einem wird wenn man es als ein solches betrachtet, anders geartet. Stefanie ist nichts Abstraktes, sondern etwas Materielles, wenn auch nur fiktiv. Man könnte ihr beispielsweise auf die wieder auf Normalgröße geschrumpften Füße treten, auch wenn uns das der gute Anstand verböte. Nein, eigentlich kann man das nicht, nicht nur aus Gründen des Anstandes, sondern hauptsächlich deswegen nicht, weil sie nur gedacht ist. Aber man könnte sich zumindest vorstellen ihr auf die Füße zu treten. Das würde ihr zwar höchstwahrscheinlich nicht gefallen, doch wäre damit zumindest einmal sichergestellt, dass sie, obwohl gedacht und nur in Ansätzen beschrieben, nicht abstrakt sondern materiell ist. Materiell aber fiktiv.
Die Kugel hingegen könnte man, ohne seinen Ruf als Gentleman - sofern vorhanden - zu verlieren, übelst beschimpfen, oder mit roher Gewalt attackieren. Der Kugel würde das nichts ausmachen. Mehr noch, sie würde es nicht einmal merken, denn sie ist ja lediglich eine allgemeine Kugel ohne Sinnesorgane und ohne Verstand. Sie hätte also nicht den Hauch einer Chance, all die an ihr ausgelassenen Bosheiten aufzunehmen oder zu verarbeiten. So sind allgemeine Kugeln nun mal, da kann man nichts machen.
Also, halten wir mal fest: wir haben eine leidlich beschriebene und wohl nicht mehr ganz allgemeine, fiktive Stefanie und eine übel beschimpfte aber nicht nachtragende, vollkommene, allgemeine, fiktive, abstrakte Kugel.
So weit so gut.
Nun, jetzt verspüre ich große Lust, mich selbst in die Szenerie mit einzubeziehen. Ich arrangiere also ein Treffen mit Stefanie und der Kugel in Stefanies natürlicher Umgebung, ich wähle ein kleines gemütliches Café, bestelle mir einen Espresso, Stefanie eine Cola und der Kugel nichts. Sie nimmt mir das nicht krumm, wie sollte sie auch. Mit Stefanie plaudere ich über gewöhnliche Dinge, die Kugel ist einfach nur anwesend. Der Einfachheit halber lasse ich den Ober und die anderen Gäste aus dem Spiel, sie würden sich allzu sehr über die Anwesenheit einer allgemeinen Kugel wundern, wenn sie sie überhaupt sehen könnten. Kann man eine allgemeine Kugel sehen? Prinzipiell spricht ja nichts dagegen. Sehen kann man alles was selbst Licht aussendet, oder dieses reflektiert. Da ein mathematisch-abstrakter Punkt kein Licht aussendet und in keinem Fachbuch zu finden ist, ob er welches reflektieren kann, nehmen wir einfach einmal an, er könnte es, auch wenn es nicht unbedingt der Realität entspricht. Ich sitze also da, warte auf meinen Espresso der nicht kommt - weil ich dummerweise den Ober abgeschafft habe - unterhalte mich mit Stefanie und betrachte die nun sichtbare Kugel. Jetzt kommt es mir fast wie ein Frevel vor, was ich da fabriziert habe. Eine allgemeine Kugel in ein Cafe einzuladen. Unmöglich. Diese Situation kann und will ich nicht lange aufrechterhalten. Kugel weg, Ober und Gäste wieder her, ah, der Espresso! Danke! Unterhaltung mit Stefanie, sie muss jetzt gehen, ihr Bus fährt. Zahlen bitte! Ein Espresso, eine Cola, sechs Mark zwanzig, mach sieben, ist ja nur imaginäres Geld. Dieser Part war einfach, könnte jeder jeden Tag so oder so ähnlich erleben. Nur die Kugel hätte ich nicht mitnehmen sollen. Nicht dass sie uns irgendwie lästig gewesen wäre, aber ihre Anwesenheit wirkte doch höchst befremdlich. Ein Glück, dass das niemand mitbekommen hat. Doch jetzt stellt sich mir ein weiteres Problem. Schon aus reiner Höflichkeit sollte ich einen Gegenbesuch arrangieren, bei der Kugel in ihrer natürlichen Umgebung. Aus Fehlern lernt man. Stefanie bleibt diesmal zu Hause, sie hätte sowieso keine Zeit gehabt, weil sie für die Physikschulaufgabe lernen muss. Mein Besuch bei der Kugel dauerte nicht lange, erstens war die Kugel nicht sehr gesprächig, zweitens nicht sichtbar. Ich habe wieder einen Fehler gemacht. Ich habe mich als ein gedachtes, materielles, humanes Wesen in den mathematisch abstrakten Raum vorgewagt. Sehr unklug. Ich hätte mich vielleicht etwas mehr anpassen sollen. Ich hätte mich beispielsweise in eine allgemeine Gerade verwandeln sollen, dann hätte ich sie wenigstens tangieren oder passieren können, doch dies hätte mir wohl meine sämtlichen menschlichen Fähigkeiten genommen. Also keine Verwandlung, kein weiterer Besuch, keinen weiteren Espresso. Auch keinen mathematisch abstrakten. Schade, dass es den nicht gibt, ich hätte ihn gerne probiert. Ich komme trotzdem nicht umhin, meinen - wenn auch kurzen - Höflichkeitsbesuch bei der Kugel etwas eingehender zu schildern. Ich sah nichts. Kein Wunder, kein Licht. Ich war alleine mit unendlich vielen, unendlich kleinen, undefinierten Punkten mit unendlich viel Nichts drumherum. Keine Zeit. Nur Raum. Zeit spielt dort keine Rolle. Existierte die Kugel also schon, bevor ein denkendes Wesen sie entdeckte? Erschuf er sie? Die Frage, ob es ein Mensch war, soll hier außer Acht gelassen werden. Die Möglichkeit, dass andere Zivilisationen auf ähnliche Gedanken kommen könnten, ist zu hypothetisch. Wird die Kugel weiter existieren, wenn sie aus irgendeinem Grund in Vergessenheit gerät? Oder hat sie schon immer existiert und wird immer existieren? Würde das nicht heißen, dass alles, was potentiell existieren könnte, bereits existiert?
Wie ist das dann bei Stefanie? Gab es sie bevor ich sie beschrieb? Wird es sie noch geben, nachdem Sie diesen Text weggelegt haben? Und wie ist das dann mit Gott? Oder führt Ihnen das jetzt zu weit? Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal eine Kugel berechnen, oder einer fiktiven Romanfigur begegnen.
Denken Sie daran, dass jede Banalität, von einer anderen Seite beleuchtet, unsere Vorstellungskraft sprengt und sagen Sie einmal, wie groß ist eigentlich π?
Ich meine, genau.