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Überleben
Überleben
Dunkle Augen verfolgten die weiße Frau, die wie ein Trampeltier durch das Unterholz strauchelte. N´samir war vorsichtig. Seine dunkle Gestalt war kaum zu sehen, da seine Umrisse im Halbdunkel des Urwaldes zerflossen.
In Kürze würde die Nacht hereinbrechen und damit auch das Schicksal der Frau besiegelt sein. Ein mächtiges Tier könnte ihm die Beute noch streitig machen. Für die Frau machte es keinen Unterschied. Aber N´samirs Familie brauchte Nahrung. Er dachte kurz an das Neugeborene, das an den leeren Brüsten seiner Mutter saugte. P`katko hatte schon lange nicht mehr genug Milch für die jüngsten Kinder. Der Urwald war geschrumpft, und sein Stamm stritt sich um das Wenige. Die Not verlangte oft, das schwächste Kind zu töten und zu essen.
Langsam zog Rabea ihren Dolch aus der Scheide. Die Luft dampfte und das Blätterdach bog sich unter seiner Regenlast. Durch das Grün drang kein Sonnenstrahl hindurch. Am Tag herrschte daher eine grüne Dämmerung vor, die das Dickicht noch undurchdringlicher machte.
Schon seit Stunden irrte sie durch diese Hölle. Ihre Kräfte verließen sie und der Wunsch, sich einfach fallen zu lassen, wurde übermächtig. Ihre Beine waren im Laufe des Tages schwer geworden. Und doch schleppte sich Rabea weiter durch das Unterholz. Auch wenn sie nichts sah, wusste sie, sie war nicht alleine. Sie blieb stehen und horchte, hörte aber nur ihren eigenen angestrengten Atem.
Plötzlich hörte sie etwas schnell trippeln. Eine Vogelspinne. Rabea hatte gelernt, keine Gelegenheit auszulassen, wenn es um den Sieg ging. Ein achtbeiniges Ekelvieh niederzustrecken, brachte Punkte. Es zu essen noch einen Bonus.
Beherzt stach Rabea ihren Dolch in den fetten Leib der Spinne. Die Klinge zerfaserte das Tier zu einer grüngelben Masse. Rabea wischte den Dolch an einem Blatt ab.
Rabea spuckte aus. Der Hunger rumorte im Magen, aber der Widerwille war noch größer. Den Dolch in der Hand stolperte sie weiter durch den Dschungel.
Rabea wusste nicht, ob es die Luft war oder ihr Schweiß, der auf ihrer Haut klebte. Den Moskitos schien es gleichgültig zu sein. Das Ungeziefer stach und biss sie durch den Stoff ihres Anzuges.
Unermüdlich klatschte sie mit der Hand auf die Plagegeister ein. Schnöde Wut half ihr, nicht durchzudrehen.
Sie hatte schon Schlimmeres überlebt, wenn sie an die Castings zurückdachte. Außerdem: die anderen Mücken waren es wert, Unannehmlichkeiten auszuhalten. Rabea biss auf ihre Lippen. Sie spürte keinen Schmerz, als sie an Geldgewinn dachte.
N´samir sah, wie die Frau mühelos den Überfall der Insekten abwehrte. Er wusste, die Kerbtiere waren mächtig in ihrer Vielzahl. Sollte diese Frau ein Himmelsriese sein? Er hatte schon andere Weiße, Goldsucher, gesehen.
Sein Volk hatte sie verspeist, aber, die Kopfjagd auf die Bleichgesichter hatte schreckliche Folgen. Bis auf einige Wenige erlag sein Stamm den fremden Geistern. Fieber hatte sie geschüttelt. Ihre Haut war übersät mit stinkenden Geschwüren, die zerplatzt waren, wie reife Früchte durch Regen verdarben. Auch die Nahrungspflanzen vergingen. Nach und nach war alles Irdische verfault.
Schon lange schürfte niemand mehr nach Gold und doch waren sie plötzlich wieder hier: Die Bleichgesichter.
War das ein Zeichen der Urväter?
N´samirs zitterte. Er hatte eine Vision. Sah wie er einen Speer warf, den Himmelsriesen tötete und zerstückelte. Sah seine Frau und seine Kinder, die sich am Festmahl labten. Das Fleisch war bekömmlich, sein roter Lebenssaft spendete Kraft und der Geist erschuf neue Pflanzen, die künftig den Hunger stillen sollten.
Sein Dorf war nur noch ein paar Schritte entfernt. Der Zeitpunkt, die weiße Riesin zu töten, war gekommen.
Rabea spürte nun deutlich: Sie war nicht allein. Sie war es gewohnt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So setzte sie sich in Positur, warf ihre schönen, wenn auch strähnigen Haare, mit einer Kopfbewegung zurück, streckte ihre Brüste vor. Wartete.
Hielt sich kerzengerade für die Kamera. Vergaß, dass ihr Gesicht zerstochen und geschwollen war, träumte von einer Kariere als Popstar.
Sie lächelte, als sich der grüne Vorhang vor ihr teilte, setzte an, ihr Lied zu singen.
Die weiße Frau schrie. Ein hoher Ton, von dem N´samir glaubte, er könnte sein Blut zum Kochen bringen. Sein Speer verfehlte das Ziel. Der Himmelsriese hatte mit übermächtigem Zauber die Flugbahn abgelenkt. Angstwürmer durchkrochen N´samirs Eingeweide. Ihm war, als ob sich seine Haut von den Knochen schälte. Er sank nieder, bot seine Kehle dar, um seine Demut zu beweisen.
Als Rabea den kleinwüchsigen nackten Mann erspähte, erschrak sie. Sie hatte damit gerechnet, dass die Moderatoren Roy und Melissa auftauchten und ihr zum Tagesgewinn gratulierten. Stattdessen grinste sie ein weißer Totenschädel an. Was es auch immer war, es lag nun zu ihren Füßen. Die weißbemalte Fratze jaulte auf. Rabea hielt immer noch den Dolch in der Hand. Sie sah die pulsierende, verwundbare Stelle, die das Wesen ihr hinhielt und stach zu. Blut quoll heraus und sofort umschwärmten die Fliegen den Körper.
N´samir fiel mit dem Gesicht auf die nasse Erde. Er fühlte, wie sein Herz mit jedem Schlag das Blut aus seinem Körper pumpte. Er sah für einen Moment noch seinen Sohn, aber dessen Geist blieb für ihn unerreichbar. Er spürte wie der Seine entwich, umherirrte, um überzutreten.
Ein heller Schimmer trat aus dem Kadaver. Er umstrich Rabea. Sie erstarrte zur Salzsäule, als das silbrige Licht in sie eintauchte. Es berührte ihre Seele. Rabeas Haut prickelte. Sie spürte Verlangen. Unmerklich öffneten sich die Poren ihrer Haut.
Schöpfung. Ein Gebirge bricht auf, teilt das Land in zwei Hälften. Die Erde zittert. Im Innern gebären Feuer und Stein neues Leben. Himmelsriesen schleudern Sternenstaub. Er fällt herab. Wasser löscht die Glut. Gold. Ein Fluch.
Die Nacht fiel wie ein schwarzer Theatervorhang herab. Und obwohl weder Mond noch Sterne die Finsternis erhellten, konnte Rabea alles sehen. Sie sah das Dorf. Eine Mutter, die ihren Säugling aufspießte und über einem Feuer briet. Der Anblick weckte Wehmut in ihr. Sie sah ihre eigenen Spuren. Eine leuchtende Fährte in der Dunkelheit, die einen Kreis bildete. Sie hörte, von weit her, Stimmen. Das Camp.
Sie machte sich auf, dorthin zurückzukehren. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an ihre Mitstreiter dachte.