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Überleben
Gut versteckt zwischen den Blättern eines Farns, spähte Ngå vorsichtig auf eine Lichtung unterhalb der Felsen hinab. Die grellen Strahlen der tief stehenden Sonne schmerzten in ihren Augen und zwangen sie, zu blinzeln. Geblendet vom Gegenlicht konnte sie nur undeutliche Schemen von Menschen erkennen, die mit dem Zerlegen eines Beutetieres beschäftigt waren. Bei diesem Anblick meldete sich der Hunger zurück, wütete in ihren Eingeweiden und erinnerte sie daran, dass die letzte große Mahlzeit gut vier Tage zurücklag. Lediglich ein paar genießbare, bitter schmeckende grüne Beeren hatte sie seitdem aufstöbern können. Ihr Magen krampfte sich bei dem Gedanken an die herben Säfte, die beim Kauen die Zunge umspülten, kurz zusammen. Jetzt ein Stück Fleisch! Im kalten, verschneiten Norden, von wo aus sie und die anderen sechs Frauen und Mädchen vor einigen Monden aufgebrochen waren, herrschte akuter Mangel an dieser Sorte Nahrung, und dort unten lockte nach soviel Entbehrung das Paradies. Sie meinte, den Geruch bis hier oben wahrnehmen zu können. Für einen kurzen Moment schloss Ngå die Augen, genoss diese Illusion, bis sie von Dornen, die ihre Beine zerkratzten, in die Wirklichkeit zurück geholt wurde. Vor lauter Verzückung war sie zwei Schritte nach rechts in einen kniehohen Busch getaumelt. Innerlich fluchend befreite sie sich aus dem Gestrüpp und kämpfte sich auf Sichtweite zu ihrer Schwester Ôsa vor. Diese nickte ihr aufmunternd lächelnd zu. Auf ein verabredetes Zeichen hin begannen sie und die anderen ihren Abstieg in Richtung Lager. Ihre Suche nach Fleisch hatte ein vorläufiges Ende gefunden.
Das Erscheinen der Sieben löste große Aufregung unter den Bewohnern des Tales aus. Laute Schreie drangen an Ngås Ohren, die mit den fremdartigen, halb verschluckten Lauten nichts anzufangen wusste. Diese Art von Sprache war ihr unbekannt. Sie vertraute auf ihre Intuition, die ihr bislang immer rechtzeitig Spuren von Aggression ihrer Gegenüber signalisiert hatte. Körpersprache verriet sowieso wesentlich mehr als Worte. Augenscheinlich bestand, zumindest momentan, keine Gefahr, und ihre Anspannung wich mit jedem Schritt über das spärlicher werdende Geröll. Aus Erfahrung wusste sie, dass ein Trupp wie ihrer, der nur aus weiblichen Mitgliedern bestand, von gemischten Gruppen schnell integriert wurde. Misstrauisch beäugt von den Frauen, begehrlich taxiert von den Männern, erreichten sie die Lichtung.
Kaum dort angekommen, schloss sich ein Ring aus Neugierigen um die Hungrigen, die scheu den Blick abwandten. Stocksteif standen sie da, ließen sich betasten, auf Läuse und andere Parasiten untersuchen - eine Prozedur, die sie bereits kannten. Manche der Berührungen galten dabei wie selbstverständlich den primären Geschlechtsteilen. Nachdem die Begutachtung zur Zufriedenheit der Sesshaften ausfiel, wurden sie aufgefordert, sich in die Runde um den gehäuteten, grob geteilten Bären zu setzen. Eine nach der anderen ließ sich auf der Erde nieder, wohl wissend um ihre Reize. Die Nomadinnen unterschieden sich grundlegend von den Bewohnerinnen des Südens. Wo auch immer sie gesichtet wurden, brachten ihre helle, seidenweiche Körperbehaarung und die geschmeidigen Leiber Männerblut in Wallung. Starker Körpergeruch, der Pheromone im Überfluss verströmte, tat sein Übriges. Diese verlockende Mischung benebelte den Verstand aller Kerle, die erfahrungsgemäß nie auf Distanz gehalten werden konnten, bis endlich die beständig gesteigerten Triebe befriedigt worden waren. Auf beiden Seiten. Denn nur eine der neu Angekommenen trug eine wachsende Leibesfrucht in sich, die restlichen fühlten, verstärkt durch die anfängliche Beschau, auf- und abschwellende Wogen von Erregung. Besonders Ngå konnte aufgrund bevorstehender Empfänglichkeit ihre Lust kaum zügeln - ihr Hunger betraf nicht nur die Befriedigung verdauungsbedingter Gier.
Einer der Männer reichte Ngå ein Stück Bärenfuß zum Verzehr hin. Blut lief von dem Stück Fleisch über seinen Arm, tropfte neben ihr zu Boden, wo es sich in klebrigen Pfützen sammelte. Sie reagierte widerwillig auf dieses Zeichen der Gastfreundschaft, da ihr der eigentümlich strenge Geschmack des Raubtieres bekannt war. Trotzdem nahm sie die wertvolle Gabe an und riss mit ihrem wolfsähnlichen Gebiss einen beeindruckenden Anteil vom Knochen, bevor sie den Rest der Rangnächsten ihrer Sippe weiter gab. Bärenfleisch mochte hier als Delikatesse gelten, doch die grobe Faserung, die auch kräftigen Zähnen Schwierigkeiten bereitete, gehörte wahrlich nicht zu ihren Favoriten. Bald waren die Mägen gefüllt und Müdigkeit ergriff von den endlich Gesättigten Besitz. Ôsa stand auf, steuerte auf einen dichten Busch zu und legte sich, wie sie es gewohnt war, hinter diesem auf die nackte Erde, um zu schlafen. Noch bevor sie es sich gemütlich gemacht hatte, wurde sie am Arm gepackt und auf die Beine gezogen. Zwei Jäger deuteten mit ihren Händen in Richtung Fels. Bei genauem Hinsehen konnte man eine natürliche Aussparung an der glatten Wand entdecken, eine Öffnung ins Innere des Berges. Wie auf ein geheimes Kommando hin, erhoben sich die Männer und strömten, die Nomadinnen in ihrer Mitte, darauf zu.
Ngå näherte sich in geduckter Haltung der Höhle, die restlichen Frauen schlichen vorsichtig hinter ihr her. Am Eingang verharrte sie, um mit ihrer Nase eifrig schnüffelnd, den vor ihr liegenden Bereich zu erkunden. Sie flehmte. Der Gestank, der ihr entgegenwehte, verursachte kurzfristige Übelkeit. Ausdünstungen jedweder Art, scharfer Uringeruch, sowie Exkremente und verdorbene Essensreste bildeten das Hauptaroma, ein ihr unbekannter Botenstoff kitzelte herausfordernd ihre Nase. Was konnte das sein?
Nach kurzem Blickkontakt mit den restlichen Frauen, gebot sie ihnen, ihr zu folgen. Sich gegenseitig nicht aus den Augen lassend, schlichen sie hintereinander durch den Eingang der Höhle. Ganz wohl war den Frauen dabei nicht, zumal sie enge Durchlässe, die keine Fluchtmöglichkeiten erkennen ließen, normalerweise mieden. Ôsa stolperte beinahe über die eigenen Füße, als sie gebannt den Geräuschen lauschte, die von dem riesigen Gewölbe über ihnen um ein Vielfaches verstärkt zurück geworfen wurden. Es gab an diversen Stellen Öffnungen im Gestein, durch das schwindendes Tageslicht für einen Rest Helligkeit und tanzende Schatten an den Wänden sorgte. Ein beständiger, sanfter Luftzug ließ sie frösteln. Fasziniert ging sie, vorbei an blank genagten Knochen, aufgeschichteten Haufen von getrocknetem Gras und gegerbten Fellen, immer weiter hinein in diese, ihr bislang unbekannte Welt.
Ngå stieß im hinteren Teil als erste auf die Schlafstätten der Siedler, die in ungewöhnlicher Form alle in einem Kreis angeordnet waren. In der Mitte des Kreises befand sich ein Loch, in dem graue Asche zu finden war. Beim Näherkommen spürte sie die wohlige Wärme, die von der kürzlich erloschenen Feuerstelle ausging. Gebannt starrten die Weiber auf verkohlte Zweige und registrierten nicht, wie sich ihnen beinahe lautlos einige männliche Wilde näherten. Durch den intensiven Duft, den Ngå und ihre Begleiterinnen verströmten, wurden sie zunehmend unruhig. Nervös belauerten sich die Geschlechter, wobei die allgemeine Spannung von Sekunde zu Sekunde zunahm. Grob betrachtet ähnelte sich das Erscheinungsbild der beiden Stämme, die sich hier zum ersten Mal begegneten. Alle hatten starke Augenwülste, breite Wangenknochen und tiefliegende, kleine Augen, die immer wachsam blieben. Ihre kurzen Finger waren stumpf, die Nägel meist eingerissen, die Fußsohlen mit dicken Hornhäuten überzogen.
Einige der Männer umstanden Ngå und rückten bedrohlich nahe, da keinem ihre Hitze verborgen blieb. Die so Bedrängte verharrte regungslos und starrte auf den Anführer der Jäger, der ihr das Fleisch gegeben hatte. Er trat dichter zu Ngå heran und begann, die anderen zurückzudrängen, die immer zudringlicher wurden. Als er dabei mit den Händen gegen die anderen gestikulierte, durchfuhr Ngå die Erkenntnis so stark und bewusst wie niemals zuvor in ihrem Leben:
Dieser Mann mit den dunkel verfärbten Fingern, den die Mitglieder des Stammes "Ogda" nannten, war ein Hüter und Meister des Feuers für seinen Clan und kannte das Geheimnis, wie man kalte Winter überstehen konnte, wie sich erbeutetes Fleisch haltbar machen ließ, und er war der Schlüssel zu einem Wissen, das ihr Stamm seit Generationen zu entdecken suchte. Dieser Fremde war ein Schwarzfinger.
Nach heftigem Geschrei und Gemurre akzeptierten die übrigen Jäger grollend Ogdas Autorität und Vorrecht auf das Weib. Der Schwarzfinger bedeutete Ngå, mit ihm tiefer in die Höhle zu kommen. Sein Lendenschurz verriet schon deutlich genug, worüber er und die anderen sich gestritten hatten. Ngå betrachtete versonnen Ogdas kräftige Statur, seine von Narben übersäte Haut, die von einer dünnen Schweißschicht überzogen war. Das Spiel seiner Muskeln zog sie magisch an. Sie brannte darauf, von ihm genommen zu werden. Voller Vorfreude leckte sie sich die Lippen und ließ sich von ihm bereitwillig durch die Gasse führen, die von den gierigen Männern gebildet worden war.
Als sie sich dabei an ihrer Schwester Ôsa vorbei schob, flüsterte sie kaum hörbar: “Der hier wird erst gegessen, wenn wir wissen, wie man schwarze Finger bekommt.“
Dies ist eine Zusammenarbeit von Antonia, Kranich auf dem Felsen und mir (Morpheus)