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„Vielleicht Esther“ – Gewinnerin des Bachmannpreises 2013
Die Leichtigkeit des Grauens
Der Bachmannpreis ist gerettet, die Siegerin gekürt: Katja Petrowskaja hat ihn für die Lesung von „Vielleicht Esther“ bekommen.
Mehrere Handlungs- und Reflexionsstränge durchziehen die Erzählung.
Wissen und Nichtwissen
Die Babuschka, Urgroßmutter der Erzählerin, formuliert einen „antiken Aphorismus“: „Lasse der Herrgott Dich so viel wissen, wie ich nicht weiß.“
Auf die Fragen ihres belesenen Enkels, des Vaters der Erzählerin, weiß sie meist keine Antwort. Ob sie sich selbst trösten oder die Vorwitzigkeit des Enkels tadeln möchte, bleibt unklar. Das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ steht im Hintergrund.
Die Babuschka
Die gehbehinderte Babuschka, die „Vielleicht Esther“ oder auch nicht so heißt, schleppt sich zur Zeit der deutschen Besatzung Kiews mühsam die Treppen zur Straße hinab, meldet sich bei zwei deutschen Soldaten, um die Aufforderung, alle Juden hätten sich „einzufinden“, zu erfüllen, und wird erschossen.
In der Stadt herrscht kriegerisches Chaos, aber „Vielleicht Esther“ weiß davon „anscheinend nichts“. Trotz der Warnungen von Nachbarn, sich zu melden, unterwirft sich die Babuschka gerne dem deutschen Ordnungssinn. „All diese exakten Anweisungen.“
Berichten über deutsche Gräueltaten in Polen und der Ukraine glaubt sie nicht. Sie erwartet von den Deutschen, die 1918 in Kiew Ordnung geschaffen hatten, vielleicht erneut die Ordnung der Stadt.
Aber: „Die Deutschen, die sich erst fast friedlich in der Stadt niedergelassen hatten“, geraten wegen der Aktivitäten von Partisanen in Panik. Deshalb erlassen sie den Befehl, „Alle Juden der Stadt Kiew müssen sich pünktlich einfinden“, „am Montag den 29. September um 8 Uhr morgens an der Ecke Melnikova und Dokhturovska“. Diesem Befehl gehorcht „Vielleicht Esther“ und geht zu den beiden Soldaten, die sie (vielleicht) erschießen.
Der Fikus:
Im August 1941 fliehen viele Einwohner Kiews vor den Deutschen. Der Vater der Erzählerin entkommt, weil sein Vater einen Fikus vom Transportwagen genommen hat, um für den Sohn Platz zu schaffen.
Die Erzählerin erinnert sich, dass der Vater diese Geschichte mit dem Fikus erzählt hat. Der Vater erinnert sich nicht daran. Diesem Fikus verdanke sie ihr Leben. Die Unsicherheit über die Existenz dieser „Hauptfigur“ in ihrem Leben, den Fikus, lässt die Erzählerin zum Mittel der Literarisierung greifen. „Gab es den Fikus, oder ist er eine Fiktion? Wurde die Fiktion aus dem Fikus geboren – oder umgekehrt?“ Die Verwirrung wird noch größer, denn der Vater erinnert sich nun plötzlich doch, dass es einen Fikus gegeben habe. Nur: „Ich glaube, ich erinnere mich an einen Fikus. Vielleicht. Oder habe ich den Fikus jetzt von dir?“
Achilles
Als weitere Figur wird Achilles in zwei Zusammenhängen eingeführt.
Der Gang der Urgroßmutter zu ihren Henkern vergleicht die Erzählerin mit dem Wettlauf von Achilles mit der Schildkröte. In Zeitlupe der Schildkröte geht sie in den Tod, erinnert sich an den Stolz „auf ihr Deutsch“ und die Verehrung der deutschen Kultur.
Die Mutter der Erzählerin hat dieser häufig die Geschichte erzählt, weshalb Achilles an seiner Ferse verletzbar ist. In dieser verletzlichen Ferse entdeckt sie ihre eigene Verwundbarkeit und schließt daraus, dass dies „der einzige Beweis der Unsterblichkeit [ist], eigentlich“.
Die Erzählerin
Die Erzählerin will wissen, wie ihre Urgroßmutter gestorben ist: Alle Beobachter dieser Szene sind nicht erreichbar. Sie sucht nach Beweisen und findet sie in einer Fotografie und einer Geschichte. Ein Luftbild, das im Text zu sehen ist, zeigt zerstörte Häuser. Einzelheiten sind nicht zu erkennen. Die Erzählerin meint, dass „man dieses Bett sehen [kann], auf dem sich mein neunjähriger Vater noch im ersten Kriegssommer gesonnt hatte“.
Der Großvater habe die Geschichte vom Hausmeister: „Es scheint mir, dass an diesem 29. September 1941 jemand am Fenster gestanden hat. Vielleicht.“
So schließt das Kapitel mit der „Zeugenaussage“ des Hausmeisters, der die Ermordung vielleicht aus dem Fenster gesehen hat.
So weit der Versuch einer Strukturierung dieses Siegertextes.
Zorn
Mag sein, dass die Autorin „Zorn und Zeit“ von Peter Sloterdijk rezipiert hat. Dort stellt er fest, dass das erste Wort der europäischen Literatur das Wort Zorn ist. „Den Zorn, besinge, Göttin, des Achilles …“
Die Mutter, die die Geschichte erzählt, „stieß das Wort Zorn mehrmals aus.“ Welche Funktion dieser Ausflug in die Antike hat, bleibt unklar. Ist es nur Bildungsballast? Immerhin erkennt die Erzählerin in dieser Geschichte ihre Unsterblichkeit, aber nur „eigentlich“.
Vielleicht
Das Wörtchen „vielleicht“ kommt eine entscheidende Rolle zu. Nach dem Duden-Wörterbuch relativiert „vielleicht“ „die Gewissheit einer Aussage, gibt an, dass etw. ungewiss ist; es ist denkbar, möglicherweise, unter Umständen.“
Das bedeutet, dass alle wichtigen Aussagen in dem Text im Raum der Möglichkeiten, nicht der Wirklichkeit zu suchen sind. Mag dies, vorausgesetzt, dass der Leser der Geschichte Wirklichkeitsanspruch zuschreibt und historisch gewappnet ist, ein Spiel mit der (Neu)Erfindung der Vergangenheit sein, mag sein, dass es ein Glasperlenspiel mit Erinnerungsfetzen ist, so scheint der Stoff für solche Spiel nicht geeignet. Die Einstellung, alles ist vielleicht, relativiert die Verbrechen der Nazis. Leser, die dem rechten Spektrum der Gesellschaft angehören, können sehr „leicht“ dieses „Vielleicht“ ummünzen in Erfindung und Lüge. Wer so vage dies erzählt, rüttelt an der Glaubwürdigkeit der historischen Überlieferung. Diesen Eindruck könnten Leser mitnehmen. Die Erzählerin fantasiert sich in das Geschehen, wie die Urgroßmutter sich bei den Deutschen meldet, hinein und versucht die Gesichter der Soldaten, die die Babuschka erschießen, zu sehen. „Ich sehe die Gesichter nicht. Verstehe nicht, und die Historiker schweigen.“ Dass Historiker die Gesichter der verbrecherischen Besatzungsmitglieder nicht zeigen, ist spätestens seit der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ falsch. Ganz im Gegenteil, gerade die Historiker der jüngeren Generation schauen genau hin und schweigen nicht.
Es mag für eine feinsinnige Urenkelin nicht nur ein intellektuelles Spiel, sondern auch ein Ringen um die Erinnerung sein, für andere Leser lässt sich die Unbestimmtheit der ganzen Erzählung schwer ertragen, denn mit dieser Darstellung löst sich alles in Unverbindlichkeit und in „Vielleichts“ auf; auch das Dritte Reich.
Esther im Alten Testament
Eine Intrige von Hamam, dem zweiten Mann im Reich, veranlasst den König (Artaxerxes), ein Dekret herauszugeben, das die Ausrottung von Juden erlaubt. Esther, eine Jüdin, geht zum König und bittet ihn, das Dekret zurückzunehmen. Dies gelingt ihr. Ihr Vater Mordechai übernimmt die Stelle von Hamam und erwirbt ein Dekret, das es Juden erlaubt, sich gegen ihre Feinde zu wehren. Es kommt zu einem blutigen Widerstand der Juden gegen ihre Verfolger.
„Vielleicht Esther“ mag meinen, dies bei den deutschen Soldaten wiederholen zu können. Vielleicht weist die Namensgebung darauf hin. Vielleicht ist sie der Ausdruck einer Hoffnung, den die Urgroßmutter hatte. Vielleicht. Das kommt viel zu wenig heraus, dass hier der Widerstand gegen die deutschen Kriegsverbrecher gemeint sein könnte. Zu vage ist die Andeutung.
In der Diskussion der Kritiker wurde immer wieder die Leichtigkeit des Textes bewundert. Dies muss eine Leichtigkeit sein, die willkommen ist, um von der bedrückenden Last des Dritten Reichs zu befreien. Dieser Generation (geboren 1979) sind nur noch Erinnerungsfetzen und Vermutungen zugänglich. Das ist das Traurige an der Geschichte: Die Vorfahren und ihr Leid und ihre Verbrechen verschwinden im Nebel des „Vielleicht“.