Was ist neu

09:13

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25.08.2007
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Es ist schief gegangen: Ich weiß es, als ich zu mir komme. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte mir meine 357er Magnum den Schädel zerrissen, nachdem ich im Büro allen gezeigt hätte, was wirklich präzises Arbeiten bedeutet: Schuss für Schuss, ganz wie ich es jahrelang auf dem Schießstand trainiert hatte. Keiner hätte mehr Witze über meine Arbeit gemacht; nicht mit einem faustgroßen Loch in der Brust. Langsam öffne ich meine Augen und starre in das grelle Licht, das von der Decke zu kommen scheint und kreisrund den dunklen Fußboden begrenzt. Auf der anderen Seite des Lichts ist alles Schwarz; so finster, dass ich nicht erkennen kann, ob es da Wände oder Decke gibt, oder ob außerhalb des Lichtkreises überhaupt etwas existiert.

Hermine Zellner erwachte am Boden liegend und mit Schmerzen, die sich wie wütende Bohrer durch ihren Kopf fraßen. Stöhnend griff sie sich an die Stirn und versuchte mit der Hand das helle Licht abzuschirmen, das wie Feuer in ihren Augen brannte. Ihre letzte Erinnerung war, dass sie Bohne, ihrem Hund, etwas zu fressen geben wollte. Das Aufstehen fiel ihr nicht leicht, und sie musste ihren kleinen, aber massigen Körper regelrecht hochwuchten. Die Anstrengung machte die Bohrer noch wütender, und für einen Moment glaubte Hermine, sie müsse sich übergeben. Sie kämpfte das Gefühl herunter und blickte sich um: Das war nicht ihre Küche; nicht einmal ihre Wohnung, und auch Bohne war nicht da. Hermine stand mitten in einem Kreis aus Licht, der in tiefschwarzem Nichts zu schweben schien. Was ging hier vor?

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin, meine Uhr ist stehen geblieben: 09:13 Uhr. Ich rufe und schreie, ohne Erfolg. Ich starre in die Finsternis und versuche irgendeine Form zu erkennen. Auf allen Vieren krieche ich bis zum Rand des Kreises, taste vorsichtig nach draußen: Der Boden scheint sich in die Dunkelheit fortzusetzen, auch wenn man ihn nicht sehen kann. Doch wohin soll ich gehen?

Alles rufen und schreien hatte nichts gebracht, außer das Hermine zusätzlich zu ihren Kopfschmerzen auch noch heißer war. Weder war Bohne erschienen, noch hatte sich jemand anders gezeigt. Doch Hermine war nicht der Typ der aufgibt: Sie hatte die Trennung von ihrem Mann überstanden, sie würde auch diese Situation meistern. Entschlossen reckte sie ihr Kinn vor, blickte nach links und rechts und begann loszulaufen. Der Lichtkreis folgte ihr.
Heute Morgen war noch alles klar: Ich verließ das Haus, unter der linken Achsel die 357er im Holster, der jetzt leer ist. In der Hand den Abschiedsbrief an meine Eltern. Ich erinnere mich, den Brief eingeworfen zu haben, aber ich erinnere mich nicht an das Büro, und wo die Waffe geblieben ist, weiß ich auch nicht. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist dieses Licht und die vollkommene Dunkelheit dahinter. Ich komme mir vor wie unter einem Mikroskop. Als wäre ich eine Amöbe, die in einem Wassertropfen ihr Leben aushaucht, während ein Wissenschaftler kalt und gefühllos jede Regung notiert und bewertet.

Hermine wusste nicht mehr, ob sie wirklich lief, oder ob sie nur auf der Stelle trat: Immer noch war außerhalb des Lichts nichts zu sehen, und auch der Boden, der im Kreis zu sehen war, sah nicht anders aus als vorher. Dummerweise war ihre Uhr stehen geblieben, genau um 9:13 Uhr. Sie zählte ihre Schritte, um nach Hundert eine kleine Drehung nach Links zu machen, nicht viel, nur ein Stückchen. In einem Buch hatte sie mal gelesen, dass man als Rechtshänder dazu neigt, nach rechts herum im Kreis zu gehen, und im Kreis gehen war das Letzte, was Hermine wollte.

Ich glaube, meine Augen spielen mir einen Streich: Ist das dort in der Ferne ein Lichtpunkt? Ja, das ist einer, und je länger ich hinaus in die Finsternis starre, desto größer wird er. Schon kann ich einen Klecks Licht ausmachen, ganz genau wie der, in dem ich mich befinde. Und in dem Klecks ist eine Gestalt zu erkennen: Jemand kommt auf mich zu!

Der junge Mann hüpfte aufgeregt auf und ab und schwenkte wild seine Arme. „Hier, hierher!“ schrie er, und Hermine musste grinsen. Erleichtert hatte sie vor ein paar Minuten festgestellt, das in der Richtung, in der sie gelaufen war ein weiteres Licht aufgetaucht war. Endlich ein Ziel vor Augen hatte sie ihre Anstrengung verdoppelt, ihre Bluse klebte schweißnass im Rücken und eigentlich war sie zum Umfallen müde. Aber der Lichtpunkt wurde immer größer und hatte sich schließlich als ein Kreis mit Mensch darin herausgestellt. „Hallo!“ rief sie, „Ich komme!“

Die Frau ruft etwas, das ich nicht verstehe. Sie ist ziemlich klein und auch ziemlich dick. Sie trägt eine blaue Bluse mit auffallend großem Muster und eine schwarze Caprihose, die ihre Fülle noch unterstreicht. Ich bin so glücklich endlich jemand zu sehen, dass mir Tränen herunterlaufen. „Hallo! Hier bin ich!“ schreie ich, obwohl sie mich schon längst gesehen hat. Unsere beiden Lichtkreise kommen immer dichter, bis sie sich beinahe berühren. Die Frau bleibt stehen und starrt mich an. „Wieso hat Ihr Licht eine andere Farbe?“ fragt sie, und ich starre verblüfft zurück.

Die Kreise aus Licht berührten sich fast, und Hermine blieb überrascht stehen. Der bleiche Mann war etwa Ende 20, Anfang 30, schlank und seine muskelbepackten Arme hingen an den Seiten herab. Er schien sich zu freuen, Hermine zu sehen. Doch ihr Blick blieb auf dem Lichtfleck haften, in dem der Mann stand: Ihr Licht hatte einen sanften goldenen Ton, wie die Herbstsonne an einem klaren Tag. Sein Licht dagegen war hart und blauweiß, wie ein Suchscheinwerfer. Hermine fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte.

„Bauer ist mein Name, Mike Bauer.“ stelle ich mich vor, und trete an den Rand meines Kreises. „Wie sind sie hierher gekommen?“
„Hermine Zellner“ antwortet sie und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich trete einen Schritt vor um ihre Hand zu ergreifen, aber plötzlich blitzt mein Licht auf, ein wütendes Summen erklingt, und ich kriege einen elektrischen Schlag, der mich zurückzucken lässt. „Verdammt!“ brülle ich und reibe mir die schmerzende Hand.
„Scheint so, als würde das Licht nicht wollen, dass wir unseren Kreis verlassen.“ sagt die Frau und blickt mich nachdenklich an.

Sie saßen auf dem Boden und erzählten sich Ihr Leben. Zeit schien keine Bedeutung zu haben und sie litten weder Hunger noch Durst. Hermine plauderte über Bohne, ihrem chinesischen Nackthund, redete über ihren Mann, der sie verlassen hatte und schwärmte von China, wohin sie unbedingt einmal reisen wollte. Der junge Mann sprach von seiner Jugend auf dem Lande in Sachsen, von seinen Eltern und von seinem Studium. Wie er in den Westen kam, und wie er bei der Baufirma landete. Auch er konnte sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen war, oder was sie beide hier erwartete.

„Hören Sie das?“ frage ich Hermine. Seit einiger Zeit waren wir still jeder in unserem Flecken Licht gesessen und hatten gegrübelt. Nun höre ich es deutlicher: „Klingt wie Gebell!“ sage ich und stehe auf. Auch Hermine steht auf und blickt sich um. „Das ist Bohne! Ich kenne doch sein Gebell!“ ruft sie und lauter „Bohne! Hier, komm zu Frauchen! Hierher, Bohne!“ Angestrengt versuche ich in der Finsternis etwas zu erkennen, aber die Dunkelheit ist so undurchdringlich wie zuvor. Doch dann fällt mir auf: Hermines Licht hat sich verändert, ihr Kreis wird kleiner! „Hermine!“ brüllte ich und sehe, wie sich ihr Mund bewegt, höre jedoch nichts mehr. Der Lichtkreis, in dem sie steht, wird immer kleiner und das Licht schwächer, bis ich nichts mehr erkennen kann. „Lass mich nicht zurück! Lass mich nicht allein!“ schluchze ich und breche weinend zusammen.

Als die Schwärze sich lichtete, hörte Hermine die Stimme eines Mannes, der sich über sie beugte. Er trug einen weißen Kittel, und hatte ein Stethoskop um den Hals. „Da haben wir noch einmal Glück gehabt, Frau Zellner! Es war wohl nur ein leichter Schlaganfall. Wenn Ihr Hund nicht so laut gebellt hätte, wäre Ihre Nachbarin nicht gekommen, um nachzusehen. Wir bringen sie jetzt ins Krankenhaus.“ Hermine seufzte und atmete den frischen Sauerstoff aus der Maske, die man ihr umgelegt hatte. Sie lag auf einer Trage auf dem Boden ihrer Küche. In ihrer rechten Hand fühlte sie die nasse Zunge von Bohne, der ihre Finger leckte. Im Radio liefen die Nachrichten. Irgendjemand hatte in einem Büro sieben Menschen und dann sich selbst erschossen.

Ich liege in diesem kalten Licht mitten im schwarzen Nichts. Ich denke an Hermine, an den Glanz der Hoffnung in ihren azurblauen Augen, als sie das Gebell hörte. Irgendwo in der Welt der Lebenden werden ein paar Menschen weinen. Nicht um mich. Ich liege in diesem kalten Licht mitten im schwarzen Nichts. Es ist 9:13 Uhr. Für immer.

 

Hallo

Es ist schief gegangen: Ich weiß es, als ich zu mir komme.
Es ist schief gegangen (gut): Ich weiß es (gut), als ich zu mir komme (hm, nicht so der Bringer).
Also für einen ersten Satz. Man kommt zu sich, im Sinne von „man gewinnt das Bewusstsein wieder“ ist ein wenig undramatisch und behäbig für einen so guten ersten Satz. Ich würde mir da was spritzigeres einfallen lassen.

Schuss für Schuss, ganz wie ich es jahrelang auf dem Schießstand trainiert
hatte.
Der Einschub mit dem Schießstand bremst den Text stark ab.

Keiner hätte mehr Witze über meine Arbeit gemacht; nicht mit einem faustgroßen Loch in der Brust.
Wieder sehr gut.

die sich wie wütende Bohrer durch ihren Kopf fraßen.
Was für Bohrer? Mechanische? Organische? Zahnarztbohrer, Bohrmaschinen oder Raketenwürmer?

Sie kämpfte das Gefühl herunter
Da gibt es sicher auch lebendigere Möglichkeiten dafür, das zu schildern.

Alles rufen und schreien hatte nichts gebracht, außer das Hermine zusätzlich zu ihren Kopfschmerzen auch noch heißer war.
Heiser ist sie, diese „außer das“-Konstruktion ist nicht sehr schön.

Doch Hermine war nicht der Typ der aufgibt
, der aufgibt.

Der Lichtkreis folgte ihr.
Heute Morgen war noch alles klar:
Fehlt eine Leerzeile bei Perspektivwechsel.

Sie zählte ihre Schritte, um nach Hundert eine kleine Drehung nach Links zu machen, nicht viel, nur ein Stückchen. In einem Buch hatte sie mal gelesen, dass man als Rechtshänder dazu neigt, nach rechts herum im Kreis zu gehen, und im Kreis gehen war das Letzte, was Hermine wollte.
Das gefällt mir. Durch solche Details gewinnt die absurde Situation an Plastizität.

„Wieso hat Ihr Licht eine andere Farbe?“ fragt sie, und ich starre verblüfft zurück.
Schöne Stelle. Ehm, zur wörtlichen Rede gibt es bestimmten Zeichensetzungsregeln. Hier fehtt ein Komma vor „fragt“, das zieht sich so ziemich durch den Text. Mit den Regeln muss man sich halt mal vertraut machen.

Bauer ist mein Name, Mike Bauer.
Maik müsste der eigentlich heißen. Die ostdeutsche Version von Michael, wenn man so will. ;) Also, ernsthaft, irgendwie stört der Name.

Ich trete einen Schritt vor um ihre Hand zu ergreifen,
Wird oft falsch gemacht. Um … zu und ohne … zu müssen weiter mit einem Komma abgetrennt werden. Nur die erweiterten Infintivsätze nicht (nur mit zu).

Wie er in den Westen kam, und wie er bei der Baufirma landete.
Muss noch eine Zeitstufe zurück: gekommen war, gelandet war.

Ja, das Thema gefällt mir (hab mich auch ein paar mal dran versucht), die Umsetzung eigentlich auch. Es ist dann nur relativ schnell klar, auf was das Ganze hinausläuft, als die beiden sich da mit den Privat-Kreisen begegnenen, will man eigentlich nur noch wissen, wie es ausgeht. Als es hieß: Die Kreise hätten andere Farben, dachte ich es läuft auf ein „Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töppfchen“ (oder andersherum) hinaus, also schon auf ein differenziertes Jenseits, Seelen-Recylcing nach Farbabstufungen, oder so.
Du löst es dann anders und relativ harmlos auf, ohne die Idee noch mal aufzugreifen. Wobei es dadurch auch unglaubwürdig wird, denn wenn sie nur einen „leichten Schlaganfall“ hat, dann reicht das ja eigentlich noch nicht für so eine Nahtod-Nummer, da müsste sie schon klinisch tot sein, oder ähnliches.
Die Schlußpointe mit dem Jenseits, der Hölle, als Stillstand fand ich aber wieder gelungen (hab ich auch mal verwendet, glaube ich).

Aber okay, ein solider Einstand, mit Luft nach oben, finde ich. Hab die Geschichte gerne gelesen.

Gruß
Quinn

 

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