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1. Mai
Wir sitzen auf dieser Anhöhe. Haben einen tollen Blick in das Tal. Dieser Blick gibt uns das Gefühl dieser Unendlichkeit, dieser Unsterblichkeit, als könnte uns keiner etwas. Mein Freund macht die Flasche Weißbier auf, füllt das Weizen-Glas und gibt es an mich weiter. Ich nehm einen Schluck und leg mich auf die Decke zurück. Will einfach nur den beiden Karten spielenden Mädchen zuschauen oder genießen, wie die zwei Jungs sich über das korrekte Entfachen einer Grillglut streiten, während mein dritter Freund die Weizengläser füllt und seine Freundin es mir gleich tut. "Was gibt es schöneres?" geht es mir durch den Kopf. "Eine kleine Wanderung mit Freunden, verbunden mit einer Grillparty in kleinem Kreis." Da stören auch die wenigen Regentropfen nicht. Ich schließe meine Augen und genieße es, hier zu sein. Ein bisschen mit Freunden zu feiern, kein Gelage, sondern nur ein bisschen Spaß haben. Ein Handyklingeln reißt mich aus meinen Gedanken. Es hat diesen bedrohlichen Unterton, dieses Etwas, das uns den Tag zerstören kann.
"Hallo?" meldet sich mein Freund am Handy. "Wann sollen wir ihn besuchen?" Jeder von uns weiß sofort, wer gemeint ist: Ein alter Lehrer, der ins Krankenhaus eingeliefert wurde - Bauchkrebs. Für uns ist er mehr als ein Lehrer. Er ist ein Freund, schon lange duzen wir ihn. Nächtelang haben wir Skat gespielt oder sind seiner Leidenschaft nachgegangen: Irgendwelche 3D-Graphiken für einen Wettbewerb zu modellieren.
"Oh!" sagt mein Freund plötzlich. Er ist gestorben, fährt es mir durch den Kopf. Letzte Nacht. Die erste Chemotherapie hatte nicht angeschlagen, für die zweite war es zu spät gewesen.
"Ich bin ganz zuversichtlich, dass ich bald hier raus bin!" sind seine letzten Worte, die in meinen Ohren nachklingen. Wir hatten ihn besucht, ich hatte ihm den fernseher angeschlossen. Und jetzt lebt er nicht mehr, und dieses Wissen verursacht in mir ein ganz komisches Gefühl. Ich kann es nicht beschreiben. Ich kann es nicht einmal richtig fühlen, denn ich fühle mich schlecht dabei.
Ganz still ist es um uns geworden, als mein Freund uns mitteilt, dass er tot ist. Eine weibliche Stimme sagt: "Oh Nein! Scheiße!" Ich kann nicht unterscheiden, ob es eine der Kartenspielerin oder das dritte Mädchen ist. Unwillkürlich fliegt mein Blick auf die Häuser unter der Anhöhe, auf der wir sitzen. "Schon kurios," breche ich kurz das Schweigen. "Dass wir ausgerechnet heute in die Nähe seines Heimatdorfes wandern." Keiner antwortet. Es bleibt still unter uns. Ich muss meine Augen reiben, fühle, wie müde ich doch eigentlich bin.
Belanglosigkeiten gehen mir durch den Kopf. Hab ich die Hausaufgaben für morgen gemacht? Seit wann kümmern mich Hausaufgaben? "Samstag oder Dienstag ist die Beerdigung!" sagt einer meiner Freunde - der, der telefoniert hatte. "Dienstag wäre scheiße!" antworte ich. "Da haben wir Sport-Abi!" Um mich herum nicken sie bloß.
"Warum trifft es immer die Falschen," frage ich mich mehr als einmal in Gedanken. Kurz nach meiner Grundschulzeit starb unser damaliger Lieblingslehrer. Bald darauf starb unser Kunstlehrer, der sich immer durch sein jugendliches Verhalten auszeichnete und deshalb für uns sympathisch war. Und jetzt unser Mathelehrer, den wir als Freund schätzten. "Trifft es überhaupt mal die Richtigen?" frage ich mich selbst im Gegenzug.
Wir versuchen den Übergang zur Normalität, grillen unsere Würstchen und die Kartoffeln, aber Stimmung will keine mehr aufkommen. Man kann zwar über den einen oder anderen Witz man noch lachen, trotzdem haben wir das Bedürfnis nach Hause zu gehen. Wir machen uns auf den Heimweg. Ich spreche kaum ein Wort mit meiner Nebenfrau. Hey Jude, Wish you were here, Stairway to Heaven - das ist es, was mir durch den Kopf geht. Und immer wieder das Bild von dem Mann, der über seine eigene Krankheit lachen konnte. "Ich werde doch immer weniger", scherzte er, während er Daumen und Zeigefinger um sein Handgelenk legte, um auf seinen Knochenschwund aufmerksam zu machen. Unwillkürlich muss ich lächeln. Es ist zwar nur ein kleines, kaum vernehmbares Lächeln, aber es gibt mir ein Gefühl von Zufriedenheit. Denn er hatt ein Lebensziel erreicht: Den Spaß am Leben bis zu seinem plötzlichen Ende.
Langsam kommen wir zu unserem Treffpunkt zurück. Der Leiterwagen wird leer gemacht und ins Auto gepackt. Wir verabschieden uns, machen uns auf den Weg heimwärts. Würde ich es besser verkraften, wenn ich eine Freundin hätte? Wenn ich jemand hätte, den ich jetzt umarmen könnte, mit dem ich mich austauschen könnte? Gehe nach Hause, morgen nicht in die Schule. Während ich in den BMW meines Vaters steige, bekomme ich Angst - vor morgen.
in memoriam an unseren Hermann!
In der Schule war er unser Lehrer, zu Hause unserer Freund, mit dem wir soviel lachen konnten und der bis zu seinem Tod über sich selbst lachen konnte.
Christoph Kruppa, 2. Mai 2002