10 Minuten
Eigentlich mochte Merle doch gar keinen Kaffee. Doch nun wo sie eh nicht wusste wohin mit ihren Händen, schien es fast so, als hielte sie sich an ihm fest. „Kann man sich an Kaffee festhalten? Und wenn ja, woher weiß man, dass er einen nicht fallen lässt?“ dachte sie sich, während sie auf den Boden starrte. Merkwürdig kam ihr das alles vor. Jetzt, wo sie dort saß, auf dieser Bank im nirgendwo, kam ihr das alles so bedeutend vor. All diese Details, in denen man sich verlieren konnte, wenn man nur 1 Minuten Zeit damit vergeudete, sie wahrzunehmen. Da war dieser Fußboden, sie hatte noch nie einen so hässlichen gesehen wie hier und die Tasse Kaffee, die langsam vor sich hin dampfte. Merle hob ihren Kopf und merkte, während sie sich umschaute, dass sie einfach schon viel zu lang hier wartete. Waren es mittlerweile schon Stunden? Ihr kam es immernoch vor, als wäre es erst vor 10 Minuten gewesen, dass sie sich hierhin gesetzt hatte. Beim Blick auf die Uhr fiel ihr ein, dass sie schon vor Tagen die Batterie wechseln wollte. Doch bei all der Aufregung um Tom kam sie einfach nicht dazu. Sie hatte es im ganzen Trubel schlichtweg vergessen. In ihrer ganzen Hektik hatte sie die Uhr einfach wieder umgelegt, obwohl sie still stand. Immerhin war sie ein Geschenk von ihm gewesen, der dafür lange gespart hatte. Zugegeben, teuer konnte sie nicht gewesen sein, dafür war sie zu schlicht. Doch gefreut hatte sie sich damals trotzdem. Ein schwarzes Armband, das mittlerweile ein wenig abgenutzt war, vom vielen tragen. Ein vergoldeter Rand und goldene Zeiger auf einem weißen Grund. Und nun wo sie auf diese Uhr sah, grübelte sie, ob sie sich damals überhaupt angemessen bedankt hatte. Hatte sie ihre Freude überhaupt zum Ausdruck gebracht oder war es für sie einfach nur selbstverständlich gewesen? Damals schon ein Versöhnungsgeschenk für all den Kummer die sie schon mit ihm hatte? Immer wieder zu hören: „ Das wird wieder“, oder „Sei nicht so hart zu ihm!“ Diese Aussagen klangen in ihren Ohren immer so, als wolle man ihn in Schutz nehmen. Als sei sie an all dem Schuld.
Merle stand auf und ging ein paar Schritte zum Fenster. Sie schaute mit leerem Blick auf den Parkplatz. Reihe in Reihe standen dort die Autos, eine Frau kramte in ihrer Tasche, anscheinend suchte sie nach dem Autoschlüssel. „Jaja, Ordnung muss sein.“ Murmelte Merle vor sich hin. Wären doch alle in ihrer Umgebung wenigstens ein bisschen ordentlicher oder würden ihre Aufgaben etwas ernster nehmen, dann wäre es für alle Beteiligten leichter gefallen. Viel Stress wäre dann vermieden worden. Viel Stress den sie sich gemacht hatte, damit alles seine Richtigkeit hatte. Viele ihrer schlaflosen Nächte wären so vermieden worden. Sie ließ ihren Blick über den Parkplatz schweifen, da fiel ihr der schwarze Golf ins Auge. Es war der gleiche, den ihr Tom auch fuhr. Nur mit dem Unterschied, dass seiner verdunkelte Scheiben hatte. Sie konnte von ihrem Platz aus das Nummernschild nicht erkennen. Immer wieder hatte sie ihm gesagt, dass er nicht so schnell fahren sollte. „Es gibt schon genug Spinner auf den Straßen, da musst du nicht auch noch mit so einem Blödsinn anfangen!“ hatte sie ihm immer wieder gepredigt. Dabei kam es ihr stets so vor, dass sie gegen Wände redete. „Wie junge Leute nunmal so sind.“ Hörte sie dann immer wieder von Bekannten. Wieder hörte es sich für sie so an, als wolle man ihn in Schutz nehmen.
Merle drehte sich um und schlenderte über den Flur. Schier endlos kam er ihr vor. Und Dunkel, egal ob das Licht an war oder nicht, einfach Dunkel. An einem Poster an der Wand blieb sie stehen. „Jesus heilt gebrochene Herzen.“ Stand dort in großen Lettern geschrieben. Und auf dem Plakat viele Kinder die eine Nonne umarmten. „Tz, so einfach ist das also.“ Murrte sie. „Wenn das alles so einfach wäre, einfach nur Jesus zu fragen und sein gebrochenes Herz heilen zu lassen, warum passiert dann dieser ganze Mist?“ Merle holte ein Taschentuch hervor und wischte sich eine Träne weg. „Wenn alles doch so einfach ist, bin ich dann nicht vielleicht doch schuld? War ich vielleicht doch zu hart?“ Merle spürte nun einen dicken Kloß in ihrem Hals. „Hätte ich vielleicht nachsichtiger sein sollen? Mehr mit ihm reden? Ist das alles wirklich so einfach?“
Merle konnte sich noch genau an Toms Blick erinnern, als sie ihn vor die Tür gesetzt hatte, weil er sie bestohlen hatte. 50 Euro hatten gefehlt und sie wusste sofort wen sie danach fragen musste. Völlig entgeistert angestarrt hatte er sie und geschrien: „Ach du hast doch nen Schaden!“ Dann hatte sie ihn vor die Tür gesetzt und ihm nachgerufen er solle sich hier nicht mehr blicken lassen. Zum ersten Mal kam sie sich dabei stark vor. Stark und souverän. Nach 1-2 Stunden käme er doch sowieso wieder angekrochen und dann wäre alles gut gewesen und sie hätte recht gehabt. Das kam ihr auf einmal alles so albern und dumm vor. Auf einmal war alles so unbedeutend, das Geld, der Streit, ihr gutes Gefühl. Alles war egal geworden und sie fand sich einfach nur idiotisch dabei, wie sie reagiert hatte. Doch spielte das jetzt noch eine Rolle? Würde sie ihn gleich wiedersehen, ihn umarmen und ihm sagen, dass sie das alles nicht so gemeint hatte und dass er wiederkommen sollte. Das sie unrecht hatte und überreagiert? Genau das würde sie ihm gleich sagen, sie übte im Kopf die Worte immer wieder. „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid!“
In dem Augenblick, als sie ihre Kaffeetasse wegstellen wollte, öffnete sich die Tür zum OP-Saal und heraus kam ein in blau gekleideter, Mann. Er hatte eine Halbglatze und eine dicke Hornbrille auf der Nase. Mit versteinerter Miene ging er auf Merle zu und sprach sie an: „Frau Winter, Es tut mir leid ihnen sagen zu müssen das ihr Sohn gerade eben während der OP verstorben ist. Die inneren Blutungen, die durch den Unfall verursacht wurden, waren einfach zu stark. Es tut mir leid!“ Merle schaute den Mann völlig entsetzt an. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Während sie die Tasse fallen ließ murmelte sie völlig abwesend: „Es tut mir leid.“