Was ist neu

16:45 Uhr

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09.04.2005
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16:45 Uhr

Hastig läuft er die Gänge entlang. Mit ihm eine Hundertschaft weiterer Schlipsträger. Chronische Workaholics mit ihren obligatorischen Aktenkoffern. Das Handy hat er zwischen Ohr und Schulter geklemmt, mit der Kofferhand hält er gleichzeitig seinen elektronischen Organizer und tippt mit dem kleinen Plastikstift wild darauf herum.
‚Scheiß Tourist,’ denkt und weicht einem dicken Hawaiihemdenträger aus.
„Ticket und Pass, bitte,“ begrüßt ihn die junge Frau. Er steckt seinen Organizer weg und legt seinen Koffer neben das Förderband, öffnet ihn und entnimmt Ticket und Pass, „Bitte.“ Während er seinen Koffer schließt und ihn auf das Band legt, konzentriert er sich wieder auf sein Gespräch, „Dann müssen wir den Termin eben verschieben. Entweder es sind alle dabei oder es findet nicht…“
„Vielen Dank, Herr Budeck.“ Er bekommt sein Ticket und den Reisepass wieder und wird von der jungen Frau durch den Metalldetektor gewunken. Er kennt das Spiel, hat seinen Schlüssel zuvor in den Koffer getan und den Gürtel an, bei dem es nicht piepst. Über ihm leuchtet es grün. „Hör mal,“ sagt er als er seinen Koffer aufnimmt und weiterläuft, „wir können die Sache auch verschieben, aber damit verschieben wir die Prioritäten und laufen Gefahr, dass wir den Endtermin nicht mehr halten können. Winter und Co. sind neu und das können wir uns nicht erlauben. Vielleicht sollten wir…“

„Herr Budeck.“ Herr Budeck sieht den Mann an, der neben ihm läuft, ignoriert aber, dass er von ihm angesprochen wurde.
„Würden Sie bitte mitkommen.“ Nun bleibt er stehen, „Ich ruf noch mal an.“ Er legt auf und sieht den Mann an. ‚Was?’ fragt er ihn mit seinem Blick, ‚Was willst Du von mir? Hast Du einen Termin? Hab ich Dich herbestellt? Was willst Du?’
„Würden Sie bitte mitkommen.“
„Ist es wichtig? Mein Flug geht gleich.“
Der Mann sieht ihn mit ernstem Blick an, „Kommen Sie.“ Dann geht er voraus und Herr Budeck folgt ihm.

„Sie können sich setzen.“ Er wurde in einen kleinen Raum gebracht. Eine Tür, keine Fenster. In der Mitte steht ein Tisch mit zwei Stühlen und an der Wand hängt in einer Ecke ein Waschbecken mit einem Spiegel. Der Raum wirkt kühl, aber nicht so kalt, wie die Luft die durch das Gitter in der Decke einströmt. „Danke,“ Seine Manieren vergisst Herr Budeck nie. Er setzt sich, sieht kurz nach oben, dann nach vorne, sieht das Waschbecken mit dem kleinen Schrank darunter an und dann den Herrn, der immer noch da steht. „Mein Name ist Waldner,“ sagt dieser, „Haben Sie eine Ahnung, warum ich Sie hergebracht habe?“
„Möchten Sie, dass ich rate, Herr Waldner? Sagen Sie es mir.“ Herr Budeck wird ernst. Herr Budeck ist ernst.
„Natürlich, nur leider muss ich Sie kurz verlassen, aber ich komme gleich wieder.“ Herr Waldner öffnet die Tür, um zu gehen. Dann dreht er sich noch einmal um, „Würden Sie mir bitte noch Ihren Organizer und Ihr Handy geben. Sie bekommen sie später wieder. Es handelt sich hierbei um eine reine Sicherheitsmaßnahme bis wir ihnen mitgeteilt haben, weshalb sie hier sind.“ Herr Budeck sagt kein Wort. Er streckt ihm die Gegenstände entgegen, innerlich aber zieht er alles an sich. Er hasst es seinen Organizer oder auch nur sein Handy aus der Hand zu geben.

Nachdem die Tür leise hinter Herrn Waldner ins Schloss gefallen ist, steht Herr Budeck auf und geht ans Waschbecken. Er wäscht sich die Hände und schüttelt sie trocken, da es kein Handtuch gibt. Dann geht er zu Tür und prüft ob sie sich öffnen lässt. Geht nicht. In seinem Kopf flucht Herr Budeck über diesen Waldner. Äußerlich bleibt er ruhig und setzt sich wieder hinter den Tisch.
Es vergehen zehn Minuten, in denen Herr Budeck wieder aufsteht, im Kreis läuft, in den leeren Schrank unter dem Waschbecken sieht, feststellt, dass die Schublade darüber verschlossen ist, sich wieder setzt und dann doch wieder aufsteht und sich wieder setzt als Herr Waldner den Raum betritt, „Warum zum Teufel bin ich hier?,“ wird Herr Budeck nun lauter, „Nennen Sie mir den Grund, weshalb Sie mich hier festhalten oder lassen Sie mich gehen. Ich bin spät dran und muss meinen Flieger bekommen. Anderenfalls verpasse ich einen wichtigen Termin.“
„Herr Budeck,“ beginnt Herr Waldner ruhig, „Sie haben ständig wichtige Termine. Jeder Termin, den Sie verpassen könnten, ist wichtig.“ Die beiden sehen sich an, dann fährt er unvermittelt fort, „Wir sehen in die Zukunft. Wir können mit immer größerer Genauigkeit bestimmen, was in der Zukunft passieren wird.“
„Was?!“ Herr Budeck wird sichtlich aufgeregter, „Haben Sie mich deshalb hergebracht? Um rum zu spinnen? Um mir Geschichten zu erzählen? Wer sind Sie?“
„Wir sind ein Konsortium aus Forschungszentren und Unternehmen der Technologiebranche. Unser Auftraggeber ist ein kleines Privatunternehmen, das keinerlei offizielle Verbindung zum Staat hat – ich denke, Sie verstehen. Unsere Verfahrensweise beruht auf einer hoch entwickelten Szenariotechnik. Vereinfacht gesagt, findet durch eine oder mehrere Kameras eine Beobachtung statt, deren Bilder dann von einem Computer ausgewertet werden. Schließlich gibt dieser an, was als nächstes passieren wird. Bei der Beobachtung eines einzelnen Individuums können wir eine Vorhersage über die nächsten zwanzig Minuten mit einer Genauigkeit von 98,5% treffen. Danach nimmt die Genauigkeit stetig ab.“
Herr Budeck sieht Herrn Waldner mit künstlich aufgerissenen Augen an, ‚Oh, Ihr seid wohl Magier,’ denkt er, ‚kleine Schamanen, die mich beeindrucken wollen. Ganz toll, das hat mir zu meinem Tag noch gefehlt.’ Er sieht auf die Uhr, „Täglich kommen Leute auf mich zu, die meinen sie hätten das Rad neu erfunden. Eine ganz große Innovation. Eine Erfindung, mit der sie das Informationszeitalter neu einläuten wollen. Aber ich sage Ihnen etwas, Herr Waldner: Das geht nicht, hinter einer großen Innovation stehen Jahre intensiver Forschung. Es ist jetzt 16:20 Uhr, Sie meinen also mir sagen zu können, was ich um 16:45 Uhr mache? Das ist doch lächerlich.“
„Erstens nicht UM 16:45 Uhr, sondern innerhalb des gesamten Zeitraumes bis 16:45, und zweitens kann ich es Ihnen nicht sagen. Sagte ich es ihnen, so würden Sie Sich einfach anders verhalten, das ist doch selbstverständlich.“ Herr Waldner geht an die Schublade unter dem Waschbecken. Sie lässt sich von ihm öffnen. Er entnimmt ihr zwei Briefumschläge und einen von diesen Kugelschreibern aus Edelstahl, der auf der anderen Seite ein Brieföffner ist. Den ersten Brief legt er vor Herrn Budeck auf den Tisch, den Öffner legt er darauf. Den zweiten Brief legt er an das Waschbecken. Dann öffnet er die Tür, um den Raum zu verlassen, „Herr Timme,“ sagt er, als er sich noch einmal umdreht, „hat das mit Ihrem Flug geregelt. Der nächste geht um 17:35 Uhr. Sie werden entsprechend später erwartet.“ Dann schließt er die Tür hinter sich. Herr Timme ist der Assistent von Herrn Budeck. Die Büros der drei Bereichsvorstände der Sparte ‚Infrastructure’ sind im Nebengebäude C der Konzernzentrale in Frankfurt in einem Halbkreis angeordnet. Herr Budeck sitzt links, direkt davor ist der Schreibtisch von Herrn Timme.
„Scheiße,“ schlägt Herr Budeck seine Faust auf den Tisch. Er steht auf und zieht sein Sakko aus um es über den Stuhl zu hängen. Dann fährt er sich mit der Hand durch die Haare. Er wirkt nervös, sein Kopf arbeitet auf Hochtouren. Er versucht dahinter zu kommen, was hier los ist, versucht zu herauszubekommen, wie das Puzzle zu lösen ist. Er überlegt wer dieser Mann ist, wie viele weitere wohl da sind, warum er von ihnen festgehalten wird und ob auch etwas Wahrheit in dem steckt, was ihm Herr Waldner gesagt hat. ‚Wer,’ überlegt er, ‚hat wohl einen Nutzen davon, mich hier festzuhalten? Was wollen die?’ Er schlendert durch den kleinen Raum und sieht auf die Briefumschläge. Schließlich setzt sich Herr Budeck wieder auf seinen Platz. Er nimmt den Briefumschlag vom Tisch und dreht ihn in seinen Händen.

Etwa zehn Minuten lang macht er das. Er sieht auf die Uhr, 16:41 Uhr. Er wirft den Umschlag auf den Tisch und springt mit dem Brieföffner in der Hand auf, nimmt den anderen Umschlag vom Waschbecken und reißt ihn auf. Er nimmt das Papier heraus und liest. ‚16:42 Uhr,’ steht da. Darunter: ‚Öffnen Sie nun den anderen Umschlag.’ Herr Budeck schaut auf. Er will lachen, aber irgendwie kann er nicht, zu viele Gedanken. Das ‚Warum?’ will nicht aus seinem Kopf, jetzt ist da auch noch ein ‚Wie?’. Er steht immer noch vor dem Waschbecken und sieht auf das weiße Porzellan herunter, „16:42 Uhr,“ sagt er leise, „Es war aber 16:41 Uhr.“
„Dann,“ Herr Waldner betritt den Raum, „sollten Sie Ihre Uhr prüfen lassen. Setzen Sie sich wieder.“ Herr Budeck dreht sich langsam um, geht um den Tisch und setzt sich. „Erzählen Sie mir, was Sie machen,“ sagt er. „Welches Interesse hat der Staat an Ihrer Spielerei?“
„Was ich Ihnen hier im Kleinen demonstriert habe, können wir auch im Großen. Wir werten Satellitenbilder aus und untersuchen sie auf Veränderungen. Durch unsere Verfahrensweise und die gigantische Menge an bereits ausgewerteten Informationen können wir mit enormer Genauigkeit vorhersagen, wie sich ein Land entwickeln wird. Über die Veränderung der Verkehrswege können wir besser vorhersagen, wie sich die Gesetzeslage in einem Land verändern wird als wenn wir den Staatschef rund um die Uhr abhören würden. Die Veränderung von Dörfern und Vororten gibt uns Aufschluss darüber, wie hoch die Aidsrate in fünf Jahren ist. Wir schätzen solche Fakten nicht mehr, wir prognostizieren sie nicht, wir sagen sie vorher. Das ist das Interesse des Staates.“
„Und darin Sind Sie so gut, dass der Staat Sie trägt?“
„Nein,“ sieht Herr Waldner Herrn Budeck ernst an, „noch nicht. Noch leben wir von einem anderen Bereich. Wir beobachten Unternehmen für andere Unternehmen und sagen diesen das Handeln der anderen vorher. Unser Auftraggeber könnte beispielsweise ein Kunde von Ihnen sein. Ein bedeutender Kunde, mit einem bedeutenden Projekt. Wann immer Sie Kontakt hätten, wären wir dabei. Wir würden alles aufzeichnen und auswerten. Briefe, Telefonate, persönliche Gespräche. Hinzu kommen die Zeiten zwischen den Gesprächen, Daten darüber, wer Gespräche initiiert, ob sie oder der Kunden den Informationsfluss fördern. All das würden wir auswerten und dem Kunden am Ende ein Zukunftsprotokoll überreichen. Dieses sagt über den vertraglich vereinbarten Zeitraum aus, was von Seiten Ihres Unternehmens aus passieren wird. Was schief laufen wird, wer die Schuld daran trägt. Dieses Protokoll sagt aus, ob Sie das Projekt zum Erfolg führen werden oder ob Sie es in die Scheiße reiten – Es sagt aus, dass Sie das Projekt in die Scheiße reiten.“
Das kam plötzlich. Herr Budeck sieht zu Herrn Waldner hoch und schluckt. In seinem Kopf hat er das letzte Puzzleteil zusammengesetzt. Diese kalte Luft, das ist dieselbe Luft wie bei Broadspread, Inc. Das ist Luft aus einem Serverraum. Für eine solche Vorhersage braucht man riesige Computeranlagen, große Mengen an Daten müssen schnell… Und die Kameras, er sieht sich um. Natürlich, der Spiegel, er sieht nach oben und entdeckt die Kamera in der Lüftung. Bei Broadspread gab es zahlreiche Möglichkeiten, überlegt er, der Beamer war nie an, die Videokonferenzanlage – offensichtlicher geht es nicht, die Glaswand. All das, langsam beruhigen sich seine Gedanken wieder. Er selbst wird ruhiger, aber sein Blick wird leer.

Er atmet tief durch und überlegt, ob er eine andere Wahl hat. Auf der letzten Hauptversammlung noch hatte er gesagt, „Es gibt immer eine Alternative.“ Dabei ging es um den Verkauf einer Tochtergesellschaft und jede Zeitung hatte ihn zitiert. Und nun sitzt er hier und überlegt, ob er die Wahl hat. Er nimmt den verbleibenden Briefumschlag und öffnet ihn. Den Öffner dreht er um, um den Kugelschreiber zu benutzen. Er entnimmt dem Umschlag ein weißes Blatt Papier und einen leeren Umschlag, dessen Adressat der Vorstand der Konzernmutter ist. Er sieht Herrn Waldner an. ‚Muss ich?’ denkt er, ‚Muss ich wirklich?’
„Schauen Sie, Herr Budeck,“ Herr Waldner nimmt ein gefaltetes Papier aus seiner Innentasche, „ich habe schon alles vorbereitet. Wenn Sie möchten, können Sie einfach hier unterschreiben.“ Er legt ihm das Kündigungsschreiben hin, „Mir war nicht klar, ob Sie sich der Klausel noch bewusst sind. Deshalb habe ich Ihnen den auch mitgebracht. Er liegt in der Schublade. Genau genommen, können Sie sich glücklich schätzen. So ist es mit Sicherheit angenehmer. Noch ist nichts passiert“

Herr Budeck sieht gebrochen aus. Er fühlt sich erwischt. Ohne das etwas passiert ist. Er sitzt fast fünfzehn Minuten einfach nur da. Dann unterschreibt er und steht auf. Herr Waldner nimmt das Schriftstück an sich und steckt es weg.

„Bei Ihrem bisherigen Einkommen können wir leider nicht mithalten,“ sagt er als Herr Budeck schon fast zur Tür raus ist, „Da war ich froh, dass ich richtig lag. Diese Klausel gibt es tatsächlich. Auf die Fachpresse ist eben doch Verlass. Da nun neu verhandelt werden kann, möchte ich der erste sein, der Sie fragt: Brauchen sie einen Job?“
Jetzt wird es Herrn Budeck klar. Das Puzzle hat eine Rückseite. Die Veränderung der Verkehrswege. Die Infrastruktur. Sie kommen nicht weiter. Sie brauchen Hilfe in ihrem Kerngeschäft, um es rentabel zu machen.

‚Sie haben sich auf meinen Boden begeben,’ denkt Herr Budeck, ‚und nun brauchen sie mich, damit ich ihnen den Weg zeige.’

 

Hallo zusammen,

ich bin noch ganz neu hier und habe mit "16:45 Uhr" meine erste Geschichte "online gestellt". Viel Spaß beim Lesen.

Ich freue mich auf Eure Kritiken,
Gunnar

 

Hallo quanem und willkommen bei kurzgeschichten.de!

Eine weitere Geschichte des Typs "Big Brother´s watching you"...

Na ja, so richtig begeistern konnte mich die Geschichte nicht. Irgendwie hat mir eine überraschende Pointe am Ende gefehlt.
Ich habe doch gehofft, dass das ganze Vorhersagertheather sich als riesiger Schwindel entlarvt und dass ´Herr Budeck dann ziemlich dumm aus der Wäsche glotzt, nachdem er die Jündigung unterschrieben hatte.
Ist aber nur meine persönliche Meinung, sonst habe ich nichts an der Geschichte auszusetzen. :)

Tschüß
Roland

 

Hallo Roland,

schade, dass Dich die Geschichte nicht mitreißen konnte.
Das Ende ist natürlich ganz bewusst so gewählt. Herr Budeck ist gut im Geschäft, er ist im Bereichsvorstand eines großen Konzerns und wird dennoch von jemand schwächerem überlistet. Jemand der sogar seine Hilfe benötigt.

Ich habe doch gehofft, dass das ganze Vorhersagertheather sich als riesiger Schwindel entlarvt
Wenn man bedenkt, dass die Szenariotechnik eine angesehene wissenschaftliche Disziplin ist um Prognosen zu erstellen und die Leistung der Rechner, mit denen solche Prognosen erstellt werden, immer größer wird, dann ist doch auch durchaus denkbar, dass es irgendwann möglich sein wird auf diese Weise zumindest bestimmte Aussagen über zukünftige Ereignisse zu treffen.

Naja, ich fand die Idee ganz nett und zugleich erschreckend. Daher dachte ich mir, sie sei eine Geschichte wert.

Gruß,
Gunnar

 

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