1791
Wenn diese Zeilen die Augen eines anderen erreichen, dann habe ich mein Ziel erreicht. Ich bitte dich, lieber Leser: Wirf diese Papiere nicht weg, sondern nimm dir bitte die Zeit das hier zu lesen, denn dies hier ist meine Geschichte.
Und auch wenn du meinen Worten keinen Glauben schenkst, so bitte denke daran dass ich alles hier im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte niedergeschrieben habe. Alles hier habe ich erlebt. Doch leider kannst du nicht durch meine Augen sehen und ich kann dir nicht beweisen das dies hier die Wahrheit ist. Aus meinem Grab jedoch, sei dir sicher, wirkt mein Ehrenwort weiter dass meine Geschichte auf Tatsachen beruht.
Aber ich möchte dich nicht verwirren und werde nun einfach mit meiner Geschichte anfangen. Ich beginne einige Tage vor meinem 23. Geburtstag. Die Jahre davor sind mehr oder weniger die eines jeden Jugendlichen in unserer Zeit und bedürfen keiner großen Erzählung.
Ich war mit Freunden in Amsterdam. Wir hatten Glück bei der Wahl unseres Hotels gehabt und fanden uns in einer uralten, aber schön eingerichteten Herberge wieder. Das meiste der Einrichtung war aus der Zeit, die man als die Blütezeit dieser Hafenstadt beschreiben könnte. An den Wänden befand sich Teppich und als ich das Hotel betrat stieg mir ein Geruch in die Nase, der einiger Erklärung bedarf.
Er war schwer, etwas süß und als ich ihn einsog kam mir der Gedanke von Zuhause. Das Erstaunliche daran war, dass ich Zuhause keinen Teppich habe. Es war kein normaler Teppichgeruch – falls es so etwas wie „Teppichgeruch“ überhaupt gibt. Aber von diesem alten Geruch wusste ich, dass er von dem Teppich kam.
Ich dachte mir nichts weiter dabei, aber es machte mich stutzig dass mir dieser Duft so bekannt vorkam, hatte ich ihn doch niemals zuvor irgendwo anders bemerkt.
Ich sah mir mit meinen Freunden die Stadt an, irgendwann gingen wir dann schlafen.
Ich träumte. Es war eigentlich nur ein Bild, dass ich ständig vor Augen hatte. Eine ältere Frau, etwa um die Mitte vierzig, in einem Schaukelstuhl. Sie strickte. Der Raum war erhellt durch ein Feuer im Kamin und als ich mich umsah erkannte ich einen Teppich an der Wand. Wieder hatte ich dieses Gefühl von zuhausesein. Mir fiel aber noch etwas auf: Die Kleidung der Frau war nicht aus dieser Zeit. Sie trug ein wallendes Kleid, fein, grün und aus Seide, mit Spitzen die aus den Ärmeln hinausspähten.
Ich sah an mir hinab und erkannte dass ich ebenfalls seltsame Kleidung trug. Es war ein Gehrock, aus feinster Seide. Die Hose reichte bis unterhalb des Knies und von dort aus trug ich Strümpfe und seltsame Schuhe.
Was ist das hier? dachte ich mir voller Schrecken. Ich bin angezogen wie Goethe!
Und durch diesen Schreck erwachte ich.
Den ganzen nächsten Tag dachte ich über diesen seltsamen Traum nach und warum mir das alles so bekannt vorgekommen war.
Ich streifte durch die Straßen und ließ den Tag an mir vorüberziehen. Als ich in das Hotel zurückkehrte stieg mir wieder dieser Geruch in die Nase aber ich wollte nicht mehr darüber nachdenken und legte mich schlafen.
Wieder befand ich mich in diesem Raum. Die alte Frau im Schaukelstuhl war wieder da und diesmal sprach sie zu mir:
„Du wirst sie nicht bekommen. Ich schicke sie fort.“
„Warum?“ hörte ich mich sagen, auch wenn ich nicht verstand was wir da redeten.
In nächsten Moment betrat sie das Zimmer. So ein schönes Mädchen hatte ich vorher noch nie gesehen, aber sie kam mir so vertraut vor und ich wusste dass ich sie liebte.
In ihren Augen sah ich dass sie die Liebe erwiderte. Die alte Frau betrachtete uns argwöhnisch und sagte:
„Madeleine, Morgen geht dein Schiff in die Neue Welt.“ Das Mädchen erschrak.
“Mutter! Was redest du da?“
Und mir kam es so vor... Nein, ich wusste das ich diesen Moment schon einmal erlebt hatte. Plötzlich fiel mir alles ein. Madeleine war die Frau meines Lebens und ich wollte sie heiraten. Wir waren zusammen aufgewachsen. Sie war ein Jahr jünger als ich... ich war 1791 geboren worden. Und hier – in den Straßen von Amsterdam hatten wir zusammen gespielt, in den letzten Jahren dann immer mehr miteinander ernste Gespräche geführt. Und vor einer Woche hatte ich um ihre Hand angehalten. Madeleine hatte geweint vor Glück. Dann hatte ich ihre Mutter um ihren Segen gefragt. Sie hatte nicht geantwortet.
Und das war nun ihre Antwort. Sie schickte sie ins unerreichbare Amerika und wusste, dass ich die Überfahrt nicht bezahlen konnte.
„Du kannst mich nicht fortschicken! Ich will nicht! Ich will hierbleiben!“
„Rede nicht in diesem Ton mit mir! Du fährst weg und das ist mein letztes Wort!“
Madeleines letzte Wörter waren auf eine Serviette gekritzelt.
“Ich liebe dich“ stand am Ende ihres Abschiedsbriefs. Sie nahm sich das Leben, in derselben Nacht.
Und ich wurde mein ganzes Leben nicht mehr glücklich.
„Eines Tages werden wir im Tode wieder zueinander finden, mein Geliebter. Wenn nicht nach diesem Leben dann nach dem Nächsten.“ hatte sie noch geschrieben.
Schweißgebadet wachte ich auf. Um mich herum standen meine Freunde und der Hotelchef. Sie sahen mich seltsam an.
„Was ist los?“ fragte ich sie.
„Du hast unverständliches Zeug geredet, aber es klang wie holländisch. Also haben wir den Hotelchef geholt und er hat es uns bestätigt. Seit wann kannst du das?“
Ich konnte kein holländisch. Zumindest nicht in meinem jetzigen Leben.
Meine Freunde fanden das amüsant. Sie wissen ja nicht, welch unglaubliche Tragweite das Ganze für mich hatte.
Drei Monate sind seitdem vergangen. Drei Monate in denen ich verzweifelt nach einer Antwort gesucht habe. In dem ich nach einem Sinn für mein Leben gesucht habe. Nichts bereitet mir mehr freude, weil ich weiß dass sie nicht hier ist. Ich liebe sie. So sehr, dass meine Liebe sogar über den Tod dauert. Und ich hoffe dass ich Madeleine im Tod finden werde.
Drum lieber Leser, liebe Freunde – freut euch eures Lebens aber behaltet immer im Gedächtnis: Der Tod ist nur ein Weg den man entlangschreitet. Die Liebe ist ewig.