1958
Wäre sein Leben anders verlaufen, wenn er sie früher kennen gelernt hätte?
Er konnte fließend fünf Sprachen sprechen. Erfolgreich Verhandlungen zu führen war für ihn ein Kinderspiel. Er kannte alle Funktionen seines Blackberrys, ohne jemals die Gebrauchsanweisung gelesen zu haben. Seinen Mercedes polierte er jeden Samstag persönlich und in Sachen Management und Führung konnte ihm keiner etwas vormachen. Erfolg zeigte sich für ihn im stetig wachsenden Jahresgehalt, ohne Zweifel in sechsstelliger Höhe. Doch damals war sie ihm noch nicht begegnet.
Schon am frühen Morgen beherrschte sie seine Gedanken. Noch immer hatte er ihren Duft in der Nase, sobald er erwachte. Während er die Zähne putzte, sah er ihr Gesicht im Spiegel. Hartnäckig drängte sie sich immer wieder in seinen Kopf und ins Herz, ihr Lachen, ihre souveräne und doch romantische Art.
Seine Tätigkeit sah heute anders aus als früher, längst schien er nicht mehr so gehetzt und nervös. Bei der Arbeit blieb viel Zeit, um an sie zu denken. Wenn er mit den Männern mittags seine Mahlzeit einnahm, fragte er sich, mit wem sie wohl gerade am Tisch saß. Immer wieder fielen ihm Kosenamen ein, die sie erfunden hatte. Mit ihr hatte Lebenszeit eine andere Qualität bekommen. Wenn er jetzt alleine seine Runden drehte, wünschte er sich, sie im Arm zu halten, auf Waldwegen zu spazieren und romantische Vollmondnächte zu genießen. Dieses Bedürfnis hatte er vorher noch nie bei einer Frau verspürt.
Täglich machte er Liegestützen, trainierte seinen Körper diszipliniert mit akkuraten Übungen, auch wenn sie noch so langweilig waren. Jetzt hatte er genügend Zeit und in seinem Alter musste man etwas tun, die Muskeln bauten zu schnell ab. Früher fand er nur selten Zeit für Sport, höchstens ab und an für eine Partie Golf oder eine Tour mit seinem Boot. Damals war er stolz auf seine Segelyacht, schließlich machte sie bei hübschen Frauen einen guten Eindruck.
Er bedauerte inzwischen, dass ihm die Aktienkurse, der tolle Dienstwagen und eine schicke Wohnung in der Nobelgegend wichtiger gewesen waren als seine Persönlichkeit. Heute benötigte er kein Auto mehr. Aus der großen Wohnung war er ausgezogen und lebte nun auf engerem Raum.
Warum war ihm früher nie aufgefallen, dass er keine echten Freunde hatte. Ein großes Netzwerk, keine Frage, wichtige Geschäftsessen, unzählbare Termine in vierundzwanzig Stunden, das Handy ständig am Ohr. Nun hatte er viel Zeit, aber niemanden, der ihn besuchte. Auch Anrufe gab es schon lange nicht mehr.
Er wartete auf sie. Tag für Tag aufs Neue. Vergebens. Einfach zu ihr fahren, das wollte er oft. Doch es war unmöglich.
So malte er sich seine Träume an die grauen Wände der Gefängniszelle 1958, wo er seit zwei Jahren wegen Steuerhinterziehung einsaß.