22.34 Uhr
Herr Paul öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und lockerte den Knoten der Krawatte. Sie war blau, mit kleinen Möwen, die ihren Flug über seinen Bauch zum Kragen hinauf fortsetzten. Wo er sie gekauft hatte, wusste er nicht mehr, es war wohl irgendeines dieser namenlosen Geschäfte in der Innenstadt gewesen, die Herr Paul nur betrat, wenn es gewisse Umstände erforderten, die sich nicht vermeiden ließen. Nicht, dass er einen besonders großen Bauch gehabt hätte, er aß nicht gerne, nicht viel. Ihm war oft nicht danach. Melancholie nannten es die Dichter und ertränkten es in Absinth und Champagner. E.A. Poe war daran gestorben. Nicht, dass Herr Paul ihn gekannt oder je eines seiner Werke gelesen hätte und sich so mit ihm identifizieren konnte.
Er hängte seine Jacke an die Garderobe im Flur, ordentlich, denn er wollte sie am nächsten Tag nicht zerknittert tragen müssen, und bügeln mochte er nicht. Die Wände im Flur waren frisch gestrichen, der Maler hatte zu Farben geraten, Herr Paul wollte lieber Weiß. Er sei noch nie ein bunter Mensch gewesen, hatte er gesagt, und weil das so komisch klang hatte der Maler es für einen Scherz gehalten und gelacht. Herr Paul gab ihm kein Trinkgeld, als er nach nur einem halben Tag fertig war, und der Maler empfahl sich mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck und fluchte im Hinausgehen auf diesen geizigen Mann.
Neben der Garderobe hing ein Spiegel. Herr Paul hatte ihn montiert, er besah gerne morgens sein Hemd, er mochte keine Falten. Was machte das denn für einen Eindruck, dachte er sich. Wie bei den Heiden. Nicht, dass er gewusst hätte, wer die Heiden waren.
Er strich die Jacke noch einmal glatt und zog die Schuhe aus. Braunes Leder, sie waren teuer gewesen, doch er meinte sich als Abteilungsleiter einer Versicherung diesen Luxus erlauben zu können. Er richtete sich wieder auf und verspürte ein leichtes Zwicken in seinem Kreuz, das ihm nicht neu war. Sein Kreuz war nicht mehr das Beste, was er den Akten die er damals als Archivar getragen hatte, zuschrieb. Das Alter wollte er nicht verantwortlich machen. Er sei doch gar nicht alt, sagte er sich immer wieder. So oft, das selbst sein schmerzender Rücken es geglaubt hätte, hätte sein Kreuz eine Persönlichkeit.
Herr Paul drückte auf den Knopf des Anrufbeantworters. Eigentlich mochte er seinen Feierabend, doch er fürchtete sich immer vor dem Moment, in dem er diese kleine Taste betätigen musste, denn ein seltsames Gefühl überkam ihn Tag für Tag, wenn wie gewöhnlich keine Nachrichten aufgesprochen waren. Wenn die kühle Frauenstimme ihm nichts mitzuteilen hatte, wusste der so rationale Herr Paul nie, ob er fröhlich oder traurig sein sollte.
Er ging durch den Flur in die Küche. Alles war genau so, wie er es am Morgen zurück gelassen hatte. Die braunen Kacheln an der Wand erinnerten an vieles, nur nicht an die Gegenwart, und Herr Paul hatte sich einmal überlegt, er würde Gästen, wenn denn einmal welche kämen, ganz einfach sagen alles was früher modern war, komme wieder und deswegen sei er mit dem, was sie für altmodisch hielten, der Zeit schon wieder voraus.
Er mochte diese in seinen Augen verwegene Rechtfertigung für sein fehlendes Engagement in der Gestaltung seiner Wohnung, doch gebraucht wurde sie nie. Es kamen keine Gäste.
Sein Kühlschrank war spärlich gefüllt. Er lebte eher aus dem Tiefkühlfach, frisches Essen nahm er nur im Imbiss, der in der Nähe seines Büros war, zu sich. wenn überhaupt. Er nahm ein Fertiggericht und legte es in seine Mikrowelle, die sofort begann zu rattern und sein Essen zu erwärmen. Schon kurze Zeit später, die Herr Paul mit Blicken in den Innenhof, zu dem das Küchenfenster lag, verbracht hatte, deutete ihm ein helles Klingeln die Bereitschaft des Essens ,verspeist zu werden, an. Er verbrannte sich fast am Teller und nahm ihn, umwickelt von einem Handtuch, mit ins Wohnzimmer.
Es war angenehm kühl hier, Herr Paul konnte den Frühsommer sowieso nicht leiden, er empfand es als Demütigung, wenn alles grünte. Und erst diese Paare überall. Und die Blumen. Er trug das ganze Jahr hindurch dieselbe Kleidung, der Natur zum trotz. Einer der Kämpfe, die Herr Paul führte, unsinnigerweise, und nicht gewinnen konnte. Einer von vielen.
Das Sofa im Wohnzimmer war alt und abgesessen, er hatte es von seiner Mutter übernommen als sie verstorben war, denn er sagte sich solange sie nicht darauf verstorben war, gäbe es nichts daran auszusetzen. Er war kein Mensch, der sehr um Ästhetik bemüht war. Er setzte sich auf das Sofa, das einmal braun gewesen war, und aß. Das Essen schmeckte fade, er hatte es nicht anders erwartet und doch frustrierte es ihn. Er überlegte kurz, auswärts zu essen, stellte den Gedanken aber auch schnell wieder ein. Er verließ doch nie das Haus nach Feierabend, sagte er sich, warum dann heute?
Herr Paul schaltete den Fernseher ein, es lief eine Sendung namens „Nur die Liebe zählt“.
Eigentlich hatte er nicht viel übrig für emotionalen Schnickschnack, wie er es nannte, doch er sah sie sich trotzdem an, kurz. Ein Afrikaner wurde zu seiner deutschen Freundin geholt, Herr Paul murmelte nur „Noch einer mehr.“ Dann wechselte er den Kanal. Löwen in der Savanne, Rudel die starken Zusammenhalt symbolisieren. Er betätigte die Fernbedienung erneut.
„Kämpfe“ sagte eine Stimme aus dem Off in das Bild des ihm neuen Senders „ für deine Träume“. Er wollte wieder umschalten, doch es ging nicht. Wieder. „Kämpfe für deine Träume“. Was soll das, dachte Herr Paul, bedeuten? Er steckte den Fernseher aus. Träume, pah. Wir leben für etwas anderes. Geld, meinte Herr Paul, ist wichtig für jeden. Er hatte Karriere gemacht, schnell, und mittlerweile verdiente er mehr Geld, als er benötigte. Das einzige, was er durch das Geld hatte erfüllen können, waren Wünsche. Warum er das als Verlust empfand, wusste er nicht. Oder verdrängte es.
Die Wohnung kam ihm auf einmal sehr eng vor. Es war ja nur Fernsehen, doch so oft er sich das sagte, ihm ging dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf. Träume. Liebe. Geld. Er wollte die Wohnung doch noch einmal verlassen, spazieren gehen. Sich treiben lassen.
Er stieß die Tür hinter sich zu, seine Jacke ließ er hängen. Die Stadt empfing ihn wie jeden anderen, der sie besucht. Freundlich, vielfältig und doch kalt und vergänglich. Er trat in die Fußgängerzone, er betrachtete Gesichter in der Abendsonne. Er wollte in ein Café, doch er merkte recht schnell, dass er sein Geld vergessen hatte. Und so schwamm er weiter, er floss durch die Strassen, merkte sich Augenpaare und vergaß sie wieder. Hautfarben, ein Malkasten an Schattierungen, verliehen ihm für kurze Zeit ein anderes Aussehen, doch er blieb, waren sie verschwunden, ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte kein Gesicht, und niemand blickte auf, um Herrn Paul anzusehen, niemand kümmerte sich, schenkte ihm ein Lächeln. Zum ersten Mal merkte er das.
Der Stadtpark lag still in der Dämmerung, keine Vögel waren mehr zu hören. Er drückte gegen eines der Tore, es ließ sich knarrend öffnen, seine Schritte schallten über den Kies. Kirschen und Ahornbäume säumten den Weg, er hatte kein Interesse daran. Es begann zu donnern, zu regnen in Strömen. Er war nass, so nass wie schon lange nicht mehr, und er ließ sich nicht mehr treiben. Er irrte. Er setzte sich auf eine Bank, der ordentliche Herr Paul, mit verdreckten Hosenbeinen und Falten überall. Und er weinte, hemmungslos wie noch nie zuvor.
Nicht, dass das jemanden interessiert hätte.
Er nahm die U-Bahn zurück in sein Viertel. Optisch war er wohl kaum zu unterscheiden von jemand, der kein zuhause hat. Hatte er denn eins? Er verspürte Gram, Gram und Hass. Und Trauer. Und stechende Schmerzen in der Brust. Er stöhnte. Die U-Bahn hatte keine Mühe, das Geräusch zu verdrängen. Es war 22:34, als Herr Paul, der seit langem keine persönlichen Kontakte mehr pflegte, den Kopf nach vorne sacken ließ. Speichel tropfte von seinem Kinn hinunter, lief über die blauen Möwen auf der Krawatte. Dann wurden seine Hände kraftlos. Langsam, wie in Zeitlupe, hob er einen Finger. Alles verschwamm vor seinen Augen. Dann wurde es dunkel.
Die U-Bahn setzte, wie das in großen Städten üblich ist, ihren Weg ohne eine nächtliche Pause fort. Es wurde gegen Morgen geschäftiger nachdem in der Nacht nur vereinzelte Jugendliche dieses Mittel des Transports benutzt hatten. Geschäftsmänner stiegen ein, die Aktenkoffer gefüllt mit Papier und oft auch flüssiger, geistiger Nahrung. Keiner nahm Anstoß an dem unordentlichen Mann, der allein auf seinem Sitz saß. Man setzte sich neben ihn, ließ ihn ruhen, seinen Rausch, wie man mutmaßte, müsse er ausschlafen. Nach sechs Stunden fragte ihn ein korpulenter Herr in typischer Uniform nach seiner Fahrkarte, stupste ihn an. Mehrmals. Dann merkte er, dass sich keine Regung zeigte. Abends erzählte er Kollegen von dem Toten in der U-Bahn. Interessant, sagten sie, und lächelten.
Nicht, dass sie ihm geglaubt hätten.