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Dylan hörte seinen Bruder lautstark die Verandatür öffnen und hereinpoltern. Widerwillig riss er seinen Blick vom Fernsehbildschirm. Unglaublich, dachte er, wie kann er mich jetzt nur stören?!
„Was machst du denn da?“, fragte Dylan seinen Bruder in gehetztem Tonfall. Er war wahnsinnig nervös und wollte unter keinen Umständen auch nur eine Sekunde verpassen. Sein Herz raste, prügelte von innen gegen die Rippen. Es war kaum auszuhalten.
Heath durchschritt das Wohnzimmer in Richtung Treppe zum ersten Stock. In der Hand hielt er zwei weiße zusammengeklappte Campingstühle vom Pool draußen.
„Ich mach’s mir auf der Terrasse gemütlich!“, gab er zurück und verschwand nach oben. Dylan hörte seine Schritte noch kurz, dann galt seine gesamte Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher.
Es war alles so unwirklich. Klar, man hatte davon gewusst, es wurden Messungen gemacht, Expeditionen unternommen um herauszufinden, wann es geschah. Aber warum hatten sie nur ihre Zeit damit verschwendet, herauszufinden was wann irgendwie geschah, anstatt es zu verhindern? Dylan war wütend, auch wenn er nicht wusste auf wen.
„Hörst du nicht, ich hab gefragt, wo wir denn ein Verlängerungskabel haben?“
Dylan war gar nicht aufgefallen, dass sein Bruder hinter ihm stand, doch die Banalität seiner Frage warf ihn jetzt doch aus der Bahn.
„Bitte was?“ Er hatte absolut kein Verständnis für die derzeitigen Interessen seines Bruders und hasste ihn sogar ein Stück dafür. „Weiß ich doch nicht… hier unter dem Fernseher, da!“ Er reichte ihm die Mehrfachsteckdose mit Verlängerungskabel über die Schulter, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
„Besten Dank“ Heath war schon wieder halb die Treppe hoch gepoltert – „Ach!“ –, als seine Schritte wieder ins Wohnzimmer zurückführten. Er kramte in den Schubladen.
„Wo haben wir’s denn, wo haben wir’s denn…“, murmelte er vor sich hin.
Dylan störte das ziemlich, er fand es unverschämt und einfach nur unerklärlich. Vor dem Fernseher zu sitzen kam ihm da viel sinnvoller vor, das machten doch alle jetzt. Alle warteten. Gleich würde das Programm unterbrochen werden und sie würden bekannt geben, dass man alles unter Kontrolle hatte. Die Situation war entschärft, wir die Regierung haben euch gerettet. Irgendetwas in der Art würde gleich kommen…
„Ah, und jetzt noch der Wein…“
Dylan hörte nur am Rande, wie sein Bruder den Kühlschrank öffnete, kurz darauf klirrten Gläser und dann war da wieder das dumpfe Knarren der Stufen. Nach einer Weile begann es oben wieder laut zu poltern.
Als der vorberechnete Zeitpunkt eingetroffen war, schien ein tiefes Raunen über den Erdball zu fluten. Dylan wagte es erst nicht den Blick abzuwenden, ja nicht einmal zu atmen.
Als nach gefühlten Stunden noch immer keine Entwarnung gekommen war sah er sich langsam um in der Erwartung, irgendetwas müsste passieren. Aber außer einem kurzem leichten Vibrieren, welches die Gläser und Figuren in den Schränken und Vitrinen leise singen ließ geschah nichts.
Dylan stieg auf die Terrasse im ersten Stock raus.
Heath saß auf einem der Stühle, hatte den Wein und die Gläser zusammen mit einer Kerze auf den Tisch neben sich gestellt und goss gerade ein. Hinter ihm stand die große Stehlampe aus dem Schlafzimmer. Dylan wäre beinah über die Schnur gestolpert.
„Ich hatte schon befürchtet, du kommst nicht – Cheers!“ Heath hob ein halbvolles Glas und nippte daran.
„Der Countdown ist abgelaufen“, sagte Dylan mit schwerer Stimme. Ihm war das alles zuviel, er konnte es nicht so leicht hinnehmen, wie sein Bruder, der nur nickte.
„Dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit.“
Alles war vorbei. So vieles hätte man noch mit seinem Leben anstellen können, Bungeejumping, Fallschirmspringen, Cavediving, Rafting, Essen bis zum Todumfallen oder ach, sonst was. Carpe diem! Wer hatte sich daran gehalten? Alle waren nur den Nachrichten gefolgt, die immer weniger wurden und hatten auf Besserung gehofft. Kaum jemand hatte wirklich gelebt. Die Tatsachen, dass bald alles vorbei sein sollte und er niemals mehr die Möglichkeit dazu bekommen sollte, etwas davon zu tun raubte ihm die Kraft. Er stütze sich auf Geländer, rutschte daran hinunter und begann bitterlich zu weinen.
„Das große Luftholen“, sagte Heath.
Durch die Geländerstäbe und einen Tränenschleier sah Dylan auf die Welt hinab. Die Einfamilienhäuser lagen ruhig im strahlensten Sonnenschein. Die im Wind raschelnden Baumwipfel glänzten. Es war genau das richtige Bild zum Einprägen, dachte Dylan. So ist unsere Welt und so möchte ich sie für immer haben…
Eine riesige Feuerwolke erhob sich über die Dächer etwas weiter im Stadtinneren, dann eine zweite und eine dritte. Ihr dumpfes Grollen fegte über die beiden Brüder hinweg, riss Blätter und Staub mit sich.
„Und irgendwann muss man auch wieder mal ausatmen…“, flüsterte Heath kaum hörbar.
Autoalarmanlagen sprangen an. Aus einer wurden viele und aus denen Millionen. Sie schwangen sich zu einem gewaltigen Orchester hinauf, welches jedes bekannte Werk auf einmal und in voller Lautstärke spielen wollte. Schreie mischten sich unter das Crescendo. Dylans Glieder wurden immer schwerer, als er den Untergang sah.
Paul klingelte bei seiner Nachbarin. Als sie nicht öffnete warf er sich gegen die Tür, trat zu und brach sie schließlich ein. Völlig aufgelöst und mit tränenüberströmten Gesicht kam seine Nachbarin aus dem Wohnzimmer gerannt. Er fiel über sie her, drückte sie zu Boden und riss ihr die Kleider vom Leib. Jetzt oder nie, dachte er bei sich, ist doch eh alles Scheiße! Er öffnete seine Hose.
Ähnliches ereignete sich überall auf der Erde.
Er hatte nun lange genug gewartet und zwischen all seinen Freunden und Verwandten gestanden. Es gab keinen besseren Zeitpunkt als diesen. Entschlossen bahnte sich Thomas einen Weg durch die Menge. Er schubste und drängelte. Doch bei allen waren die Glieder schwach, manche brachen zusammen – sie hatten aufgegeben.
Endlich erreichte er Mandy, packte sie am Arm und riss sie herum. Mit allem Mut sagte er in ihr erschrockenes Gesicht: „Ich liebe dich!“
Ähnliches geschah in vielen Ländern der Welt.
„Sieh mal in den Himmel!“, sagte Heath.
Dylan wandte sich nur zu gern von der Straße ab, wollte nichts mehr hören, wollte keine Autos mehr sehen, die blindlings in Häuser fuhren, oder nackte Menschen, die sich auf dem Pflaster ihre Kehlen durchschnitten, als Opfergabe an irgendeinen Gott.
Eine kleine Privatmaschine flog hoch über ihnen. Sie drehte einen Kreis, dann drückte sich die Nase tief nach unten und der Flieger ging in einen unaufhaltsamen Sturzflug bis er hinter dem Dach für Dylans Sichtfeld verschwand.
Etwas flog hoch oben über ihnen pfeilgerade hinaus und hinterließ einen langen, nebligen Streifen.
„Stell dir vor du hättest die Kontrolle über tausende von Atomsprengköpfen“, sagte Heath. „Und müsstest nun keine Konsequenzen mehr bei ihrem Einsatz fürchten.“
Dylan verfolgte die Rakete mit den Augen und wünschte sich, ebenfalls so weit weg von der Erde zu schweben, abgehoben von der Wirklichkeit – oder besser: hinein in die Realität, denn das hier unten konnte nicht wahr sein. Es durfte eigentlich nicht sein.
Resignierend und verzweifelnd schleppte er sich zu dem freien Stuhl.
Heath reichte ihm sein Glas.
Mercedes stand in der Küche vor der geöffneten Schublade. Die Hitze des Sommers war diesmal nicht allein Schuld an den Schweißperlen auf ihrer dunklen Haut. Ihr Mann fluchte im Wohnzimmer, machte sie dafür verantwortlich und hatte ihr schon ein paar blaue Flecken verpasst. So schlimm war es schon immer gewesen, doch heute spielte er sich in ungeahnt grausame Höhen hinauf. Er wollte nicht nur sie mit dem Gürtel verdreschen, sondern auch die Kinder in ihren Laufställen nicht verschonen. Mercedes griff das lange Messer. Heute sollte er nicht dazu kommen. Mit einem lauten Schrei stürzte sie auf ihn, rammte ihm die Klinge mehrmals in den dicken Wanst.
Ähnliches geschah rund um den Globus.
Die Mönche in Tibet schlossen alle Menschen, denn ein jeder war es wert, in ihre Gebete ein und hörten nie mehr damit auf.
Über die Fernsehschirme in aller Welt flackerte in Weiß auf schwarzem Untergrund:
00:00:00.
„Wie es Mutter und Vater wohl gerade geht?“, fragte Dylan.
„Die sitzen sicher gemütlich am Strand oder planschen im Meer.“
Dylan nickte, er hoffte sehr, dass es ihnen gut ging. Gerne hätte er sie noch einmal gesehen, sie in den Arm genommen und ihnen gesagt, dass er für alles dankbar war. Aber es gab so viele Menschen, die er gern noch einmal hätte sehen wollen. Und was sagt man ihnen allen?
„Das ist jetzt das Ende, nicht?“ Dylan versuchte gegen die Sorgen anzukämpfen, doch sie wehrten sich, wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.
„Es hätte nicht sein müssen“, antwortete Heath. „Wären wir vorbereitet gewesen, könnten wir sogar für eine lange Zeit überleben, doch so…“ Er nahm einen Schluck und Tränen rannen ihm über die Wangen.
Dylan tat es weh, seinen sonst so gefestigten Bruder nun gebrochen und schwächelnd zu sehen.
„Wird es schnell gehen?“ Aber noch während er die Frage stellte war ihm die Antwort allzu klar. Er bekam Angst. Sie ließ seine Muskeln unangenehm zittern und randalierte in seinem Hirn und Herz.
„Auf uns!“ Heath hielt sein Glas erhoben und Dylan stieß mit an. „Auf die Welt!“
Die Brüder sahen sich an und lachten. Über dem Lärm des sterbenden Planteten hinweg tranken sie und hielten sich an der Hand.
Ähnliches geschah viel zu selten.
Heath beugte sich vor und zündete die Kerze mit einen Feuerzeug an.
„Unsere kleine Sonne“, sagte er.