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Während meines Berufslebens habe ich schon viel erlebt. Ich habe einige Leichen gesehen, viele Schwerverletzte, aber die letzte Nacht war die schlimmste von allen. Dabei fing alles so gemütlich an.
Peter, Egon und ich saßen im Büro vorm Fernseher, und wir schauten uns das Endspiel der Weltmeisterschaft an. „Wenn wir nicht zur WM können, dann kommt die WM halt zu uns“, lautete Peters Anweisung. Egon hatte extra seinen Fernseher mitgebracht, Peter hatte Chips dabei, und entgegen der Vorschrift tranken wir jeder genau ein Bier. Deutschland gegen Holland, das Spiel, auf das wir schon lange gewartet hatten. Da kann man sich ruhigen Gewissens ein Bier gönnen. Den Vorgesetzten möchte ich sehen, der sich über ein Bier beim WM-Endspiel beschwert. Wir hatten Wetten abgeschlossen, wie hoch wir gewinnen würden. Peter sagte eins zu null, Egon schätzte auf zwei zu null, und ich in meinem jungen Übermut auf drei zu null. Ich mag Fußball. Fußballer lochen gerne den Ball ein, und ich loche gerne Verbrecher ein. Beides ist schön anzusehen, wenn es mit Professionalität betrieben wird, der größte Unterschied besteht jedoch darin, dass Fußball nur ein Spiel ist und mein Beruf ernst.
Das erste Tor für Deutschland war schon gefallen, als die Funke sich meldete. A 34, Schießerei, in der Karl-Marx-Straße 7a. Auch Polizisten werden nicht gerne beim Endspiel einer WM gestört, aber Dienst bleibt Dienst.
Wir schnappten uns unsere schusssicheren Westen und liefen zu unserem Dienstwagen. Egon setzte sich ans Steuer. Er war der Dienstälteste und hatte das Vorrecht, durch die Stadt zu brausen. Das Martinshorn konnten wir auslassen, die Strassen waren wie leer gefegt. Wer nicht zu Hause vor dem Fernseher saß, war bei einer der vielen Endspielfeiern. Nur wir heizten durch die Strassen. Über Polizeifunk hörten wir „Tor, Tor, Tor!“, wir jubelten mit, aber uns blieb nur wenig Zeit zur Freude.
Nach drei Minuten kamen wir in der Karl-Marx-Straße an. Alles schien ruhig, nur ein Mann stand auf der Straße und winkte uns zu. Wir hielten an. Der ältere Mann schien ein Anwohner zu sein, der gleich losbrabbelte. Es war nicht einfach, aus seinem schnellen Sprechen die Fakten herauszuhören. „Nummer 7a, bei Müller, laute Hilfeschreie, Pengpengpeng, und nochmal Pengpeng. Dann Stille.“ Wir hatten nicht die Zeit, um ihn zu beruhigen, und liefen schnell zur Haustür. Laut Klingelschild wohnten Müllers im dritten Stock. Das Licht im Treppenhaus war ausgeschaltet. Peter drückte auf den Lichtschalter und rief: „Jemand da?“ Keine Antwort. Mit gezogener und entsicherter Waffe hasteten wir die Treppe hoch, Absatz für Absatz. Ich mag keine Treppenhäuser, sie sind zu verwinkelt und schwer einsehbar. Zum Glück waren wir allein.
Dritter Stock! Ein einfaches Klingelschild. Müller. Klingeln oder eintreten? Gefahr in Verzug, Überraschungseffekt, eintreten! Das war Egons Aufgabe, er war der schwerste von uns. Ich stellte mich vor die Tür und zielte, Egon trat die Tür ein. Ein dunkler Hausflur zeigte sich uns. Ich betrat vorsichtig den Flur und schaltete das Licht an. „Polizei! Ist hier jemand?“ schrie ich. Keine Antwort. Etliche Paar Schuhe lagen im Flur verteilt. Nur nicht stolpern, dachte ich.
Zur linken das Bad, die Tür weit geöffnet. Niemand war drin. Dann zur rechten das Wohnzimmer. Ich trat ein. Der Geruch von Männerschweiss, Bier, Urin, Zigaretten und süßlichem Blut lag in der Luft. Der Fernseher lief noch. Ein kurzer Blick zum Fernseher bestätigte mir, dass es gut für unsere Nationalmannschaft lief. Die WM-Party auf der ich mich befand war allerdings nicht gerade hervorragend verlaufen. Es sah nach einem Massaker aus. Ich musste erst die Verwundeten zählen, bevor ich einen Überblick hatte. Fünf Leichen lagen im Wohnzimmer, drei auf dem Sofa, zwei auf dem Boden. Egon ging zu den verwundeten Männern, überprüfte den Puls. Fünfmal flüsterte er: „Tot“. Saubere Arbeit, drei Köpfschüsse und zwei Schüsse in die Brust. Für gewöhnlich erwarten wir derartige Hinrichtungsszenarien nur von der Russenmafia, aber diese Wohnung sah nicht danach aus. Was zur Hölle war hier geschehen? Sie mussten überrascht worden sein, wenn drei es nicht einmal geschafft hatten, aufzustehen. Eine Waffe, vermutlich die Tatwaffe, lag auf dem Tisch.
Was nun. Ein Zimmer blieb noch übrig: die Küche. Also hingehen, sichern und überprüfen. Die Küchentür war verschlossen. War der Täter noch anwesend? Überraschungstaktik war angebracht. Egon und Peter haben Kinder, also war es meine Aufgabe. Es war der falsche Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass ich schwanger bin. Ich weiß, ich hätte schon den Nachtdienst quittieren können, aber ich bin keine Memme und möchte meine Kollegen nicht im Stich lassen. Diejenigen, die wissen, wie winzig klein ein Fötus im zweieinhalbten Monat ist, werden Verständnis für mich haben. Leben kann ich das noch nicht nennen. Also Dienst nach Vorschrift. Erster Schritt: Vor der Tür positionieren. Zweiter Schritt: Waffe bereithalten. Dritter Schritt: Aufs Schiessen einstellen. „Der Täter oder ich?“ ist eine Frage, die ich leicht beantworten kann. In solchen Situationen kommt es darauf an, innerhalb von Sekundenbruchteilen zu entscheiden, ob man schiessen muss oder nicht. Ich war gespannt, ich spürte, wie das Blut in meinen Kopf schoss, ein angenehmes Gefühl. Ich habe schon häufiger erfahren, dass Adrenalin die ideale Droge für derartige Situationen ist.
Ich trat die Tür auf, stürmte rein. Ein Frau am Tisch. Zigarettenrauch. „Hände hoch und Waffe fallenlassen!“ rief ich. Standarttext. Es kam nicht darauf an, besonders kreativ zu sein, sondern klar und verständlich. Die Frau saß ruhig am Tisch und rauchte eine Zigarette. Langsam zog sie den Rauch ein und blies ihn in die Luft. „Ich habe keine Waffe“, sagte sie ruhig. Ich schätzte sie auf Ende fünfzig, ein verlebtes Gesicht mit einem Hauch von Humor. Sie schien gefasst zu sein. War sie die Täterin?
Sie schaute mich an und signalisierte mir mit einem Nicken, dass ich mich setzen solle. Ich hielt die Pistole weiterhin im Anschlag. Die Frau hatte beide Hände oberhalb des Tisches, keine Waffe lag griffbereit, sie wirkte entspannt, aber wenn ich in meinem Beruf eins gelernt habe, dann dass man nie dem ersten Anschein vertrauen darf. Professionelle Verbrecher erkennt man daran, dass man sie nicht erkennt.
Meine Kollegen blickten in die Küche, ich signalisierte ihnen, dass ich die Situation im Griff hab und sie sich zurückhalten sollten. Gewisse Dinge klärt man lieber unter Frauen. Sie schaute mich an, und ich erkannte, dass wir uns gegenseitig versuchten einzuschätzen. Mir war klar, dass sie etwas erzählen wollte, aber sie musste vorher wissen, ob ich die richtige Person dafür war. Ich setzte mich zu ihr und schwieg, um ihr zu signalisieren, dass ich zuhöre.
Sie begann zu erzählen: „Was hier geschehen ist, sehen sie selbst. Vielleicht fragen sie sich warum.“
Ich nickte. Ich ließ sie reden, denn ein Geständnis am Tatort ist immer besser als ein Schweigen mit Anwalt. Sicherlich, ich hatte sie noch nicht über ihre Rechte informiert, aber dafür hatte sie keine Zeugen. Außerdem war ich neugierig, wie es zu diesem Massaker gekommen war.
„Unter uns Frauen gebe ich ihnen eine einfache Erklärung für das Spektakel im Wohnzimmer: Ich mag keinen Fußball. Drüben sitzen fünf Arschlöscher, und für jedes von ihnen habe ich mehr als einen Grund gehabt, es zu erschießen. Wir haben nicht die Zeit sie alle aufzuführen, sie müssen mich gleich abführen, deswegen müssen sie mir einfach glauben. Als Frau und Polizistin wissen sie, wie schlimm Männer sein können. Mein Leben war schon vorher zerstört, aber heute wäre sein großer Tag gewesen. Fußball war alles für ihn, ich war nichts, weniger Wert als ein billiger Lederball. Und heute das Endspiel. Deutschland gegen Holland. Diesen Sieg habe ich ihm nicht mehr gegönnt. Und seinen Freunden auch nicht. Ich denke, ich habe den richtigen Zeitpunkt gewählt. Mehr habe ich nicht zu sagen. So und nun führen sie mich ab.“
Sie schwieg und starrte mich erwartungsvoll an.
„Doch eine Frage habe ich noch: Wie ist das Spiel ausgegangen?“ fragte sie.
Ich antwortete: „5:0.“