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5. Mai 1997
Sie war 14 und glücklich. Nicht jedes Mädchen war es in ihrem Alter. Mit Jungs hatte sie noch nichts am Hut. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie hauptsächlich von ihrem Vater und ihrem zwei Jahre älterem Bruder erzogen wurde. Sie nahmen sie mit zum joggen, Fußball spielen, und zum Volleyball-Training. Ihr Vater und Bruder spielten Volleyball schon seit langem. Sie erst seit fünf Jahren. Es machte ihr Spaß und sie fühlte sich in die Familie integriert. Mit ihrer Mutter hatte sie kein besonders gutes Verhältnis. Ihre Mutter arbeitete sehr viel und war selten zu Hause. Aber sie liebte ihre Mutter sehr.
Sie hatte ein Leben, wie aus einem Bilderbuch. Noch. An diesem Tag wollte er sich grade zu einem Fußball spiel mit seinen Kumpeln aufmachen, als sie ihn fragte, ob sie mitdürfte. Er erklärte ihr ganz lieb, dass es diesmal nicht ginge. Sie verstand es jedoch nicht und fing an sich mit ihm zu streiten. Er versuchte mit allen Mitteln sie zu beruhigen. Zwecklos. Man merkte wie sehr er sie lieb hatte. Er versprach ihr, er würde morgen etwas nur mit ihr unternehmen, aber das beruhigte sie nicht besonders. Die Zeit wurde knapp und er musste wirklich los. Ungern versuchte er sie, auf eine sanfte Weise, abzuschütteln. Sie war stur, gab dann aber doch nach. Kurz bevor er die Haustür hinter sich zuschlug, schrie sie ihm jedoch hinterher: "Ich hasse dich."
Heute denkt sie oft darüber nach ob alles so gekommen wäre, wie es gekommen ist, hätte sie es nicht gesagt. Sie weiß jedoch genau, dass sie dieses nie beantwortet bekommen wird und das zerreisst sie innerlich. Jetzt nicht mehr so oft wie damals, aber doch noch ab und zu. Sie hat gelernt dieses Gefühl abzukapseln. Es hat aber auch lange genug gedauert. Sie wünscht sich so oft "Ich hab dich lieb" gesagt zu haben. Hat sie aber nicht. Ob er es trotzdem wusste?
Das Ende stürzte so plötzlilch über ihr ein, dass sie nach Luft schnappen musste. An den Anfang konnte sie sich kaum noch erinnern und das Ende war schon da. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Nachdem ihr Bruder aus dem Haus war, zog sie sich um und ging eine Runde joggen um sich zu beruhigen. Es half. Sie hatte eingesehen, was für ein Biest sie gewesen ist und welches Unrecht sie ihm getan hatte. Sie bastelte ihm eine Entschuldigungs-Karte. Sie wartete bis spät in die Nacht auf ihn, um ihm die Karte zu geben bevor er schlafen ging. Aber er kam nicht. Auch ihre Eltern waren noch nicht zu Hause. Es kam ihr komisch vor und ein Gefühl, das sie nicht kannte, machte sich in ihr breit. Irgendwann war sie eingeschlafen. Als ihre Eltern nach Hause kamen, versuchten sie leise zu sein, aber sie wachte trotzdem auf. Sie hatte gehofft ihren Bruder vor sich zu sehen. Als sie ihrer Mutter jedoch in die Augen schaute, ahnte sie, dass sie ihn wohl nie wieder vor sich sehen würde. Als ihre Gedanken, dann auch noch von ihrem Vater ausgesprochen wurden, gaben ihre Knie nach. Ein Lastwagen habe Martin übersehen, hieß es. An einer roten Ampel stand er total im toten Winkel des Lasters und der Lastwagen ist einfach weiter gefahren, hat ihn überfahren, hieß es. Dabei hatte er grade erst vor zwei Wochen seinen Führerschein gemacht und sein Scooter war noch nicht mal eine Woche alt. Ihr Vater hatte Mühe sie nicht in einen Schockzustand fallen zu lassen. Jedes Wort, das dann folgte, kam ihr vor wie ein Traum. Sie sah die geschriebenen Worte an ihr vorüberziehen.
Ihr Burder war tot. Ab jetzt war sie ein Einzelkind. Ab diesem Moment gab es das glückliche, fröhliche Mädchen nicht mehr. Zumindes für eine Weile nicht. Sie brauchte einige Zeit um mit der Realität klar zu kommen. Noch lange danach hat sie ihren Bruder nicht wirklich losgelassen, nicht loslassen können. Sie wollte ihm noch so viel sagen. Sie wusste, dass niemand und nichts ihn jemals ersetzen könnte.
Mit der Zeit lernte sie nicht die Realität abzukapseln, sondern die vielen Fragen und Gefühle die in ihr aufstiegen und von denen sie wusste, dass sie nie aufhören würden. Sie hatte gelernt mit ihnen zu leben. Trotzdem passiert es ab und zu immer noch, dass eine dieser Kapseln zerbricht und sie wieder der Realität entflieht, an der sie sich so krampfhaft festzuhalten versucht.
Heute ist dieses Mädchen zu einer hübschen, jungen Frau gereift. Glück? Ja, das empfindet sie auch wieder. Aber die Karte hängt immer noch an ihrer Wand.